Dieser Mann hat einen Suizidversuch überlebt und plädiert heute fürs Leben

Unter den 15- bis 29-Jährigen ist Suizid die zweithäufigste Todesursache. Stefan Lange möchte verzweifelte Menschen via Youtube erreichen. Indem er von seinem eigenen Suizidversuch erzählt.

Claudia Minner
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Manchmal ist ein kleiner Moment ein grosser. Die Sonne scheint, die Luft ist warm, der Himmel blau. Stefan Lange legt sein Mountainbike ins Gras, wischt sich ein paar Schweissperlen von der Stirn, setzt sich auf eine Bank und betrachtet die imposante Bergwelt des Oberengadins. Eine Mischung aus Lebensfreude und Dankbarkeit breitet sich in ihm aus, erstaunt und erfüllt ihn. Er fängt an zu weinen. Und ist plötzlich sehr glücklich, dass er lebt und diese Schönheit geniessen kann. «Das war heilsam», erzählt Lange in seiner Youtube-Serie mit dem düsteren Titel «Komm, lieber Tod».

Hier bekommen Sie Hilfe:

Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen. Spezielle Hilfe für Kinder und Jugendliche gibt es unter der Nummer 147.

Es ist ein Moment, auf den er lange gewartet hat. Zwei Jahre vorher rührte er eine Überdosis Tabletten in ein Erdbeerjoghurt, um zu sterben. Er war damals 29, hatte gerade sein BWL-Studium in Münster beendet, wollte zu seiner Freundin in die Schweiz ziehen, als sie sich plötzlich von ihm trennte. Der Schmerz sei unerträglich gewesen, wie eine Verbrennung, «so krass». Er schüttelt den Kopf, schaut in die Ferne. Mehr als zwei Jahrzehnte liegt sein Suizidversuch zurück. Und doch wirkt die Vergangenheit präsent, wenn der 54-jährige Betriebswirt und Autor von ihr erzählt.

«Vom Selbstmörder zum Lebensretter», so kürzt der 54-jährige Deutsche Stefan Lange, der auch den Schweizer Pass hat, seine Biografie ab.(Bild: PD)

«Vom Selbstmörder zum Lebensretter», so kürzt der 54-jährige Deutsche Stefan Lange, der auch den Schweizer Pass hat, seine Biografie ab.(Bild: PD)

Belastete Kindheit

Es war nicht nur der Liebeskummer, der ihm damals den Lebensmut raubte. «Man wird nicht von jetzt auf gleich suizidal», sagt Stefan Lange. Seine Vorgeschichte ist lang und dunkel. Er spricht von seinem Vater, der ihn abfällig «Würstchen» nannte und fast täglich verprügelte. Von seiner Mutter, die schweigend wegguckte. Von dem Gefühl, nichts wert zu sein. Dem Versuch, diesen Schmerz später mit Alkohol, Drogen und Partys zu betäuben. Von depressiven Gedanken und dem wiederkehrenden Wunsch, für immer einzuschlafen. Schon als kleiner Junge fand er die Vorstellung vom Tod tröstlich. «Wenn sich das Leben wertlos anfühlt, ist man schneller bereit, es zu beenden», sagt er.

Über tausend Schweizer sterben jedes Jahr an Suizid, die Todesfälle durch assistierte Sterbehilfe sind darin nicht mitgezählt. Laut WHO ist Suizid unter den 15- bis 29-Jährigen nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache. Stefan Lange will andere vor dem Suizid bewahren. Er will mit seiner Geschichte zeigen, dass es einen Ausweg gibt und jedes Leben wertvoll ist. Und dass reden Leben retten kann. Er hat ein Buch geschrieben, eine biografische Youtube-Serie veröffentlicht und hält Vorträge an Schulen, Universitäten, auf Kongressen.

Stefan Lange kommt in den Videos als gemütlicher Typ mit freundlichem Lächeln rüber. Er trägt immer ein kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, seine Hände liegen ineinander verschränkt auf dem Tisch, zwischendurch zündet er sich eine Zigarette an. Er erinnert sich an beeindruckend viele Details, redet bildhaft und direkt. Wenn er etwas krass findet, sagt er «meine Fresse».

Manche werfen ihm vor, er sei zu offen, das könne andere zu Nachahmertaten verleiten. Doch er ist überzeugt davon, dass seine Schilderungen das Gegenteil bewirken. «Wer wissen will, wie man sich umbringt, findet im Netz ohnehin alle Infos. Ich erzähle aber ja nicht nur von meinem Suizidversuch, sondern auch, wie ich aus dem Elend herausgefunden habe.»

«Vom Selbstmörder zum Lebensretter», so kürzt er seine Biografie ab. Rund 1,7 Millionen Mal wurden die kurzen Videoclips der Serie angeklickt, die Titel wie «Ein Leben im Bettkasten» oder «Jägerwurst und Jahresbilanz» tragen. Über 500 Mails und Kommentare auf Youtube und Facebook haben ihn seitdem erreicht. Viele danken ihm für seine Ehrlichkeit und schreiben, wie sehr er zum Nachdenken anrege, Trost spende und Mut mache.

Er fühlte sich «lebendig tot»

Dass er seine Überdosis überlebt habe, grenze an ein Wunder, sagen die Ärzte später. Stefan Lange hasst dieses Wunder, organisiert sich ein stärkeres Beruhigungsmittel, wird davon abhängig und rutscht in eine monatelange Lethargie. Den Kontakt zu seinen Freunden hat er schon Wochen vor dem Suizidversuch abgebrochen, und wenn jemand anruft, geht er nicht ans Telefon. Sein Leben besteht aus Tabletten, Bier und Zigaretten, die meiste Zeit liegt er in seinem Zimmer, starrt an die Decke, fühlt sich leer und verwahrlost. Wie «lebendig tot».

Wie hat er damals zurück ins Leben gefunden? «Selbst, wenn du in einer schweren depressiven Phase bist und alles sinnlos erscheint, steckt in dir immer noch ein kleines Fünkchen Hoffnung, dass es besser werden kann», antwortet er. Dass er diesen Funken in sich entdeckt, verdankt er einer Freundin, die er zufällig trifft, als er gerade auf dem Weg in die Bibliothek ist. Eigentlich will er sich dort Bücher über Sterbehilfe ausleihen. Stattdessen beginnt an diesem Tag die Geschichte seiner Rettung.

«Dir geht es schlecht, lass uns reden», sagt Anja. Sie stellt Fragen, hört geduldig zu, verurteilt nicht. In den nächsten Monaten kümmert sie sich um ihn, gibt seinem Leben eine Struktur und macht ihm klar, dass er eine Therapie braucht. Stefan Lange fühlt sich geborgen und «endlich nicht mehr nur wie ein Versager». Da ist jemand, der auf ihn achtet. Ein entscheidendes Signal für jemanden, der kurz davor ist, sich aufzugeben. Auch das will er mit seiner Geschichte vermitteln. «Durch die Gespräche mit Anja und meinem Therapeuten habe ich verstanden, dass ich eigentlich nicht mein Leben, sondern nur einen unerträglich traurigen Zustand beenden wollte», sagt er. Dieser Gedanke ist ihm wichtig. Denn wer das erkennt, lässt sich helfen.

Lange durchsteht einen Entzug, macht eine Psychotherapie, schreibt seine Geschichte auf. Zieht in die Schweiz, weil er sich beweisen will, dass er ohne seine grosse Liebe dort leben kann. Er geht wandern, fährt viel Velo. Und spürt in «dieser kleinen heilen Welt» erstmals wieder so etwas wie Unbeschwertheit und Glück. «Heidis Heilung» heisst die Youtube-Folge, in der er erzählt, wie verbunden er sich der Schweiz fühlt. Für viele Jahre wird sie seine neue Heimat. Er arbeitet in der Hotellerie, später als Makler, baut eine eigene Firma auf, lässt sich einbürgern. Hier lernt er seine Partnerin kennen, mit der er heute in der Nähe von Hannover lebt.

Ist die Suizidgefahr heute aus seinem Leben gebannt? Man sei nie ganz «safe», antwortet er. Er erlebt weiterhin depressive Phasen. Aber sein Leben hat einen Sinn. Er hat gelernt, dass man über alles reden und sich Hilfe holen kann. Das gibt ihm eine Stabilität, die er früher nicht hatte. «Ein Suizid ist keine Lösung», sagt er. «Denn suizidales Verhalten ist erlerntes Verhalten. Und es ist jederzeit möglich, das eigene Verhalten zu ändern.»

Weitere Infos unter www.stefan-lange.ch