Beliebtes Touristenziel in Südtirol: Bozen. (Bild: Imago)

Beliebtes Touristenziel in Südtirol: Bozen. (Bild: Imago)

Südtirol – das bedrohte Paradies

Das Südtirol entwickelt sich rasant. Die Bewahrung des kulturellen Erbes stellt die Politik vor Herausforderungen. Landeshauptmann Arno Kompatscher will Südtirol in mehrfacher Hinsicht zu einer Modellregion machen, wie er im Gespräch schildert.

Gerhard Bläske, Bozen
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Von der Dachterrasse des Restaurants Thaler ist der Blick über die Dächer der Stadt Bozen und das Bergpanorama atemberaubend. Doch neben den oft pittoresken Dachkonstruktionen fallen auch die vielen Kräne auf. Allein der Unternehmer René Benko, dem die Kaufhausketten Karstadt und Kaufhof gehören, investiert 600 Mio. € in der Stadt. Gerade ist der neue Busbahnhof fertig geworden. Nun baut der Österreicher das Shoppingcenter WaltherPark mit Stadthotel, Wohnungen, Büros und Gastronomiebetrieben. Im Vorort Gries entsteht die «exklusive Wohnanlage Gries Village». Und geht es nach Benko, wird bald eine Seilbahn Besucher in 71 Sekunden auf den Hausberg Virgl transportieren. Das Osloer Architekturbüro Snøhetta hat ein Ufo-artiges Museumsquartier mit einem neuen Architekturmuseum für den Virgl entworfen: Die Gletschermumie Ötzi soll dort oben ein würdiges Zuhause finden.

Arno Kompatscher. (Bild: PD)

Arno Kompatscher. (Bild: PD)

Die Entscheidung soll im Herbst fallen. Unterstützt vom Medienhaus Athesia laufen die Geschäftsleute Sturm gegen solche Pläne. Sie fürchten, die Besucher des jetzt in der Altstadt gelegenen Museums könnten wegbleiben und weniger Geld übrig haben. Landeshauptmann Arno Kompatscher verweist gegenüber der NZZ darauf, dass die Entscheidung offen ist und fügt hinzu, «dass sich Südtirol weiterentwickeln muss, um seine Zukunft zu sichern». Er macht aber auch deutlich: «Wir wollen diese Entwicklung steuern».

Gewandt und weltoffen

Kompatscher ist seit 2014 Landeshauptmann der mit einem bereinigten Pro-Kopf-Einkommen von 44 000 € reichsten Provinz Italiens. Er hat seinen Sitz im Palais Widmann, einem repräsentativen Neo-Renaissance-Gebäude, das ganz zentral nahe beim Bahnhof liegt. Der Vater von sieben Kindern aus dem Dorf Völs, das am charakteristischen Dolomiten-Berg Schlern liegt, ist ganz anders als sein hemdsärmliger Vorgänger Luis Durnwalder. Der Sohn eines Schmieds und einer Hebamme ist gewandt und weltoffen. Er hat in Innsbruck und Padova Jura studiert und spricht ein fast glasklares Hochdeutsch. Der 48-Jährige wirkt trotz seiner kurzen grauen Haare jugendlich. Nachdem seine Vorgänger lange um eine Autonomie für die überwiegend deutschsprachige Provinz rangen, muss er dieses Erbe bewahren.

Anders als im restlichen Italien, zu dem der südlich des Brennerpasses gelegene Teil Tirols 1919 kam, wächst hier die Wirtschaft. Die Ausfuhren boomen, Tourismus, Landwirtschaft, die mittelständisch geprägte Industrie und der Dienstleistungssektor bilden eine breite und solide Basis. Die traumhafte Landschaft mit Gletschern und Palmen, Seen und Tälern, schmucken Dörfern, Wäldern und Weinbergen wirkt wie im Bilderbuch.

Doch das Paradies ist bedroht. Die Zersiedelung, Verkehrsprobleme auf der überlasteten Autobahn, die Deutschland und Österreich mit Italien verbindet, und ein Mangel an Fachkräften in der Wirtschaft bereiten Kompatscher Sorgen, der dem progressiven Flügel der Südtiroler Volkspartei (SVP) angehört. Die ethnische Sammelpartei der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler regiert ununterbrochen seit 1948.

Weniger ist mehr

Entlastung soll der 64 Kilometer lange Brenner-Basistunnel bringen. Er soll 2028 fertig werden und dann einen Grossteil des Güterverkehrs aufnehmen. Darauf will Kompatscher nicht warten. Zum 1. Januar 2021 will er eine Umweltabgabe für Lastwagen «und später vielleicht auch eine für Autos einführen». Mit den Einnahmen sollen die Schieneninfrastruktur wettbewerbsfähig gemacht sowie Zulaufstrecken zum Brenner-Basistunnel und den Verladebahnhöfen gebaut werden. Und er will die Vinschger Bahn elektrifizieren und diese über Mals hinaus in die Schweiz nach Scuol verlängern. Dafür ist er bereit, den Eidgenossen bei der Finanzierung entgegenzukommen. Mit dem neuen Landesgesetz Raum und Landschaft, das am 1. Januar in Kraft tritt, sollen eine nachhaltige Entwicklung gesichert sowie Zersiedelung und Flächenverbrauch eingedämmt werden. «Bauen auf der grünen Wiese wird praktisch nicht mehr möglich sein. Das war eine sehr radikale Entscheidung, wird aber auch von der Wirtschaft unterstützt», sagt Kompatscher. Weniger ist mehr.

Kompatscher unterstützt die in Nordtirol verhängte Blockabfertigung von Lastwagen und die Einschränkung des Transitverkehrs als Notwehr. «Eine Dosierung des Verkehrs ist nötig, solange nicht mehr Verkehr verlagert wird, gibt mehr Sicherheit und schafft politischen Druck», sagt er. Die Fahrt über den Brenner sei zu billig. Wegen des niedrigen Dieselpreises in Österreich und der geringen Maut in Italien und Deutschland komme über den Brenner mehr Verkehr als über alle anderen Alpenquerungen zusammengenommen. Er wirft Deutschland, dem bei weitem wichtigsten Handelspartner, vor, zu schlafen, «sowohl beim Bau der Zufahrtsstrecken zum Tunnel als auch beim Bau von Verladebahnhöfen».

Auch wenn an den Wochenenden Motorradfahrer im Konvoi über die Dolomitenpässe rattern und Touristenmassen den Pragser Wildsee heimsuchen, sind die Grenzen der Belastbarkeit überschritten. Kompatscher will den Zugang für Motorradfahrer einschränken und Eintritt verlangen für den Besuch bestimmter Naturschönheiten.

Touristenmassen am Pragser Wildsee in der Valle di Braies, einem Seitental der Val Pusteria. (Bild: Mairo Cinquetti / Imago)

Touristenmassen am Pragser Wildsee in der Valle di Braies, einem Seitental der Val Pusteria. (Bild: Mairo Cinquetti / Imago)

Die Oswald-Promenade bietet einen weiten Blick über die 100 000-Einwohner-Stadt Bozen, die Anfang des 20. Jahrhunderts erst 20 000 Einwohner zählte. Ein Foto am Rande des Halbhöhenwegs am nördlichen Rand von Bozen zeigt, wie es hier 1930 ausgesehen hat. Viel grün, dazwischen Einzelgehöfte. Heute ist fast der gesamte Talgrund am Zusammenfluss von Eisack, Talfer und Etsch überbaut. Es begann mit dem faschistischen Diktator Benito Mussolini, der Südtirol italienisieren wollte. Er liess eine riesige Industriezone im Süden Bozens und Wohnviertel für die aus dem Süden geholten Italiener bauen.

Ein Nebeneinander

Das lange angespannte Klima zwischen den Volksgruppen hat sich beruhigt. Die Zeiten, als Südtiroler Freiheitskämpfer in den 60er-Jahren mit Bomben die Abtrennung von Italien erzwingen wollten, sind vorbei. 1972 erhielt die Provinz Bozen ein Autonomiestatut, das weitgehende Selbstverwaltung einräumte. Kompatscher gibt zu, dass es häufig eher ein Neben- als ein Miteinander der Volksgruppen ist. Die meisten Italienischsprachigen wohnen in Bozen, die Deutschsprachigen, die mehr als zwei Drittel der 530 000 Einwohner stellen, überwiegend auf dem Land.

Ein ethnischer Proporz bei der Besetzung von Staatsstellen, Zweisprachigkeitsprüfungen und getrennte Schulen sollen das Überleben der Volksgruppen sicherstellen und verhindern, dass es zu einer Entwicklung wie im Elsass kommt. Dort sind die deutsche Sprache und der Elsässer Dialekt nahezu verschwunden.

Was auf manche Aussenstehende antiquiert wirken mag, ergibt aus Kompatschers Sicht Sinn. Angesichts der in ganz Europa wachsenden Autonomie- und Separationsbewegungen sieht er in Südtirol «eine Modellregion, eine Art Labor mit Best-practice-Methoden. Unsere Autonomie ist verfassungsrechtlich und international abgesichert und kann ein Beispiel dafür sein, dass Eigenständigkeit, Sprache und Kultur sowie eine positive wirtschaftliche und soziale Entwicklung von ethnischen Minderheiten auch ohne Sezession abgesichert werden können». Er ist nicht für eine Multikulti-Entwicklung, sondern für eine fruchtbare Interaktion starker kultureller Identitäten unter dem gemeinsamen Dach der Autonomie nach dem Motto «united in diversity». Kompatscher tritt bei Volksfesten selbst gern in Tracht auf und spielt in der örtlichen Blaskapelle bisweilen Trompete.

Abgesicherte Autonomie

Die Autonomie müsse weiterentwickelt werden. Themen wie Umweltrecht habe es 1972 noch gar nicht gegeben. Derzeit wird mit Rom über die Übertragung der Zuständigkeit dafür verhandelt. Auch die Digitalisierung, die eine Autonomie aushebeln könne, sei ein neues Thema. Mit dem damaligen Premierminister Matteo Renzi handelte Kompatscher 2014 ein Abkommen aus, das die Autonomie der Provinz verfassungsrechtlich wasserfest gemacht hat. Mit der Einbeziehung der «Schutzmacht» Österreich sei dies auch international abgesichert. Südtirol kann 90% seines Steueraufkommens behalten, finanziert aber auch alle öffentlichen Leistungen selbst. Kompatscher betont, dass Südtirol Nettozahler in den Haushalt ist: «Wir geben einen jährlichen Beitrag von 476 Mio. € zur Stabilisierung der Schuldenlast Italiens».

Probleme hat Kompatscher mit «den Zentralisten von den 5 Sternen, die sogar Gesetze anfechten, die verfassungsrechtlich abgesichert sind». Die Lega, mit der Kompatscher in Südtirol regiert, weil das Statut vorsieht, dass immer eine deutsche und eine italienische Partei gemeinsam regieren und die Lega von der großen Mehrheit der Italienischsprachigen gewählt wurde, sei föderalistisch eingestellt. Sie betrachte Südtirol gar als Modell – «auch wenn unsere Autonomie besonders ist, weil sie den Minderheitenschutz für die deutsche und ladinische Volksgruppe als primäres Ziel hat». Mit der Sicherheits-, Integrations- und Europapolitik der Lega ist er nicht einverstanden.

Laut Umfragen ist Bozen die «lebenswerteste Stadt Italiens». Es gibt viele Veranstaltungen, Gastspiele internationaler Orchester und Bühnen, Kinofestivals und Vortragsreihen. Rad- und Wanderwege erschliessen ganz Südtirol. Das schnelle Internet soll ausgebaut werden. Der Technologiepark NOI (Nature of Innovation), in den die Provinz 120 Mio. € investiert hat, vernetzt Südtiroler und ausländische Forschungseinrichtungen wie das Fraunhofer Engineering Center mit einem Inkubator und 70 Privatunternehmen.

Eine Modellregion entwickeln

Die Institute des NOI sollen Innovationen und Forschung in den Bereichen Green Technology, alpine Technologien, nachhaltige Lebensmittelproduktion und Automatisierung vorantreiben. Dafür werden gezielt Fachkräfte aus dem Ausland angeworben. Die Universität Bozen, die 4000 Studenten in Deutsch, Italienisch und Englisch unterrichtet, soll ausgebaut und um eine Ingenieurwissenschaftliche Fakultät ergänzt werden. Damit qualifizierte Arbeitnehmer trotz des niedrigen Lohnniveaus im Land bleiben oder sich dort ansiedeln, zahlt Südtirol Unternehmen für hochqualifizierte Jobs einen Zuschuss.

Erfolg macht bequem. Kompatschers Vorvorgänger Magnago sah im materiellen Wohlstand immer eine Gefahr. Die Erosion der SVP, deren Wähleranteil von einst weit über 60% auf 41,9% bei den letzten Landtagswahlen zusammengeschmolzen ist, mag ein Symptom dafür sein. Als es gegen den äusseren Feind Italien ging, war es leichter. Doch Kompatscher will nicht mit populistischen Slogans gegen Migration punkten, sondern das Bewusstsein für die «wirklichen Herausforderungen» schärfen. Er will aufzeigen, dass die Autonomie es nicht nur erlaubt, «unsere Identität(en) zu wahren, sondern auch die Vision einer ökologisch-, sozial und ökonomisch nachhaltigen Modellregion zu entwickeln».

Die Reichste Region Italiens

ske. Der südliche Teil Tirols zwischen dem Brennerpass im Norden, Salurn im Süden und der Schweiz im Westen wurde im Friedensvertrag von Saint-Germain 1919 Italien zugesprochen, obwohl er damals fast ausschliesslich deutschsprachig war. Die seit 1972 autonome Provinz Südtirol zählt 530 000 Einwohner. Davon sind rund zwei Drittel deutschsprachig und ein knappes Viertel italienischsprachig. Mit einem Bruttoinlandprodukt von 22,3 Mrd. € oder (kaufkraftbereinigt) 44 000 € pro Kopf im Jahr ist Südtirol die reichste Region Italiens und eine der reichsten in Europa. Die Wirtschaft ist 2018 um 2,1 (Italien: 0,9)% gewachsen. Mit einer Arbeitslosenquote von 2,9% herrscht praktisch Vollbeschäftigung.

Die Wirtschaft des Landes ist breit aufgestellt. Mit 33,3 Mio. Übernachtungen gehört der Tourismus neben der Landwirtschaft (Obst, Wein, Milchprodukte) zu den wichtigsten Wirtschaftszweigen. Industrie und Dienstleistungen spielen eine noch bedeutendere Rolle. In der Wirtschaft dominieren Mittelständler. Zu den grössten Unternehmen gehören der Seilbahnhersteller Leitner, Valbruna (Stahl), Iveco (Nutzfahrzeuge), Alperia (Wasserkraft), Loacker (Waffeln), Durst (Industriedrucker), Dr. Schär (Nahrungsmittel) und Oberalp (Bergsportausrüstungen, etwa der Marke Salewa) sowie Röchling.

Südtirol exportiert Waren im Umfang von 4,83 Mrd. €, die zu mehr als der Hälfte nach Deutschland und Österreich gehen (Maschinen und Anlagen, Nahrungsmittel/Getränke, Transportmittel und landwirtschaftliche Produkte) Bei den Importen ist der Anteil Deutschlands und Österreichs mit 70% noch höher. Das Einfuhrvolumen beläuft sich auf 4,82 Mrd. €. Wichtigste Einfuhrprodukte sind «Andere Produkte», Nahrungsmittel/Getränke, Metalle und Metallprodukte sowie Maschinen und Anlagen.

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