Eine Beerdigungsprozession in den Bergen Lesothos. (Bild: Jerome Delay /AP)

Eine Beerdigungsprozession in den Bergen Lesothos. (Bild: Jerome Delay /AP)

Was Mohair und Pestizide mit Suizid zu tun haben

Lange galt das subsaharische Afrika als Weltregion mit wenig Suiziden. Neue Erhebungen zeigen, dass die Rate heute über dem globalen Durchschnitt liegt. Über die Ursachen weiss man noch wenig.

David Signer, Dakar
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Kürzlich hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Bericht zur globalen Suizid-Verbreitung veröffentlicht. Die gute Nachricht ist, dass die Suizide in den letzten Jahren in allen Weltregionen zurückgegangen sind, ausser in Nord- und Südamerika. Am deutlichsten ist der Rückgang in Europa. Am meisten Suizide werden im südamerikanischen Guyana verübt, und zwar 30,2 auf 100 000 Einwohner pro Jahr; am wenigsten, nämlich nur 0,4, in Barbados. Zum Vergleich: In der Schweiz sind es 11,3, womit das Land über dem globalen Durchschnitt von 10,5 liegt.

Hier bekommen Sie Hilfe:

Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen. Spezielle Hilfe für Kinder und Jugendliche gibt es unter der Nummer 147.

Generell begehen Männer häufiger Suizid als Frauen. Während Depressionen weltweit ziemlich gleichmässig verteilt sind, gibt es bei der Suizidhäufigkeit markante Unterschiede zwischen den Ländern. Das zeigt, dass Suizid stark von sozialen und kulturellen Faktoren abhängt und nicht nur eine rein persönliche Entscheidung ist. In den wohlhabenden Ländern finden die meisten Suizide im Alter zwischen 40 und 60 statt, in den ärmeren hingegen zwischen 15 und 29. In dieser Altersgruppe ist Suizid die zweithäufigste Todesursache, nach Strassenunfällen. Weltweit gesehen, fordern Suizide doppelt so viele Todesopfer wie Morde oder Malaria.

Selbstvergiftung durch Paraquat

Was die Art der Selbsttötung angeht, liegt an erster Stelle Erhängen, vor dem Tod durch Vergiftung und Feuerwaffen. Bei den Giften spielt die Einnahme von Pestiziden eine wichtige Rolle, was sich für die Prävention als wichtig herausgestellt hat. Das Paradebeispiel ist Sri Lanka, wo die strikte Kontrolle von Pestiziden zu einer Reduktion der Suizide von 70 Prozent geführt hat. Auch Südkorea, das lange zu den Ländern mit den höchsten Suizidraten gehörte, erliess 2011 ein Verbot von Paraquat, das oft für Suizide verwendet wurde. Auch hier führte der Bann des Produkts zu einem markanten Rückgang der Selbstvergiftungen. In anderen asiatischen Ländern wie Japan, die lange berühmt-berüchtigt waren für die hohe Verbreitung von Suiziden insbesondere unter Schülern und Betagten, konnte die Rate durch eine systematische Prävention und Beratung gesenkt werden.

Auch in Afrika ging die Zahl der Suizide zurück, im Vergleich mit anderen Kontinenten allerdings relativ geringfügig. Deshalb liegt der Durchschnitt der afrikanischen Länder heute über dem globalen Durchschnitt. Dies gilt allerdings nur für das subsaharische Afrika. Die Suizidraten in den Maghreb-Ländern gehören zu den tiefsten der Welt.

Afrikas Suizidrate liegt über dem globalen Durchschnitt

Anzahl Suizide pro 100 000 Einwohner

Wenig Suizide in streng islamischen Ländern

Die afrikanischen Länder mit den höchsten Raten sind Lesotho, Côte d’Ivoire, Äquatorialguinea, Uganda, Kamerun, Simbabwe, Nigeria, Togo, Benin und Tschad. Lesotho, das kleine, von Südafrika umschlossene Königreich, wird seit Jahren von einer wahren Suizidepidemie heimgesucht. Betroffen sind vor allem ruinierte Schafhirten. Schafe waren einst ein Pfeiler der Wirtschaft, nun ist der lokale Markt für Wolle und Mohair zusammengebrochen.

Warum die Raten in den anderen afrikanischen Ländern so hoch sind, ist schwierig zu sagen, ebenso, warum auf São Tomé und Príncipe so wenig Suizide vorkommen. Der kleine Inselstaat belegt auf dem Index der menschlichen Entwicklung den 142. Platz und gehört damit weltweit eher zu den Problemländern, innerhalb Afrikas jedoch zum Mittelfeld.

Bei den Spitzenreitern lassen sich kaum gemeinsame Charakteristika identifizieren. Es finden sich darunter Diktaturen wie Äquatorialguinea, Simbabwe, Togo oder Tschad, aber auch relativ demokratische Länder wie Côte d’Ivoire, Benin oder Nigeria. Auffällig ist, dass die Krisenländer des Kontinents wie Somalia, der Südsudan oder die Republik Zentralafrika nicht unter diesen Spitzenreitern figurieren, ebenso wenig wie die andern afrikanischen Armenhäuser Burundi, Malawi, Kongo-Kinshasa, Madagaskar oder Moçambique.

Auch die Religion scheint kein eindeutiger Faktor zu sein, finden sich unter den «suizidalsten» Ländern doch sowohl christlich wie islamisch dominierte wie auch solche mit einer gemischten Bevölkerung. Allerdings ist es weltweit gesehen auffällig, dass die Suizidraten in streng islamischen Ländern wie Saudiarabien, Iran, Irak oder Pakistan sehr niedrig sind. Das trifft selbst für ein Kriegsland wie Syrien zu. Der Islam ächtet Suizid. Das gilt zwar auch für den Katholizismus, aber vermutlich wirkt das Verbot in einem Land wie Saudiarabien stärker als beispielsweise im katholisch dominierten Äquatorialguinea.

Leiden nicht psychologisch interpretiert

Zweifellos mangelt es im subsaharischen Afrika an psychologischer Hilfe. Es gibt nur wenige ausgebildete Therapeuten im modernen Sinn. Psychische Probleme werden oft somatisiert. Man sagt nicht «Ich bin deprimiert», sondern «Ich habe Kopfweh» oder «Ich bin müde». Gravierende Störungen wie Depressionen oder Psychosen werden oft religiös als Besessenheit durch Geister oder als Verhexung interpretiert. Das heisst, die Ursache des Leidens wird nicht innerpsychisch, sondern in der Aussenwelt gesucht. Gemeinhin werden in solchen Fällen traditionelle Heiler konsultiert, die das Opfer mit den Geistern versöhnen oder die angebliche Hexe entwaffnen sollen. Solche Therapien dienen der Reintegration des Patienten in die traditionelle Vorstellungswelt und sollen die soziale Kohäsion stärken. Im modernen urbanen Milieu, wo die althergebrachte Ordnung zunehmend fragmentiert ist und die Menschen in ganz verschiedenen Bezugssystemen leben, werden solche Resozialisierungsmassnahmen allerdings zunehmend schwierig.

Was die afrikanische Psychiatrie betrifft, herrschen oft menschenunwürdige Bedingungen. Die Medikation ist auf tiefem, undifferenziertem Niveau; in ländlichen Gebieten werden agitierte Kranke oft angekettet, weil es an geeigneten Beruhigungsmitteln fehlt und der Patient den anderen Angst einflösst. Oft werden psychische Probleme wie Phobien oder Zwangsstörungen auch einfach belächelt oder als eine Art aus Europa importierter Spleen betrachtet; schon der Gedanke an Suizid gilt vielerorts als unmoralisch und gotteslästerlich, seine Artikulation ist heikel. Entsprechend wird Suizid tabuisiert und wohl auch oft vertuscht, indem man ihn im Nachhinein als Unfall oder «unerklärlichen Todesfall» hinstellt.

Idealisierung Afrikas

Lange ging die kulturvergleichende Psychologie davon aus, dass im subsaharischen Afrika die Suizidrate tief sei. Dies wegen der generell starken Integration des Individuums in den Sozialverbund sowie der Tendenz, Probleme eher zu externalisieren als selbstzerstörerisch gegen sich selbst zu richten. Möglicherweise war dies einst richtig, jedoch hat es sich durch die Modernisierung geändert. Oder die Annahme stimmte schon früher nicht, aber es gab noch wenig stichhaltige Suizidstatistiken in Afrika.

Gelegentlich wurde auch die These vertreten, dass das Aufwachsen im engen Körperkontakt mit der Mutter und später in der Grossfamilie die Kinder mit einer besonders grossen Resilienz ausstatte. Tatsächlich ist auffällig, dass die Suizidrate in Ländern, wo die Menschen ums tägliche Überleben kämpfen, eher tief ist. Das gilt allerdings auch für andere Weltgegenden, etwa Syrien. So oder so, eines bestätigt die Statistik: Die Vorstellung des lebenslustigen Afrikaners, der – arm, aber glücklich und gut aufgehoben in seiner Grossfamilie – aller Unbill des Lebens trotzt, ist ein Klischee.

Hier bekommen Sie Hilfe:

Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen. Spezielle Hilfe für Kinder und Jugendliche gibt es unter der Nummer 147.