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Ein Stück Stoff als Heimat – ein Foto-Tableau von Nora Lorek

Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges im Südsudan sind mehr als vier Millionen Menschen in die Flucht getrieben worden. Kunstvoll bestickte Tücher geben den Flüchtlingen ein Gefühl von Zuhause.

Kathrin Klette / Nicole Aeby
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Esther Pond erinnert sich noch genau an den Moment, als sie sich zur Flucht entschloss. «Die Leute kamen in der Nacht», so erzählt es die 19-Jährige, «sie haben an die Türen geklopft und gefragt, ob dein Mann zu Hause ist.» Waren die Männer da, wurden sie von den Rebellen getötet, viele der Frauen wurden vergewaltigt. Pond stammt aus dem Südsudan, wo seit 2013 ein Bürgerkrieg tobt. Mehr als vier Millionen Einwohner sind laut der Uno seitdem in die Flucht getrieben worden, das ist etwa ein Drittel der Bevölkerung. Zehntausende wurden bei den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Rebellen getötet. Gemeinsam mit ihrer Tochter flüchtete Pond ins Nachbarland Uganda, wo sie wie viele andere in der Flüchtlingssiedlung Bidibidi landete. Die Fotografin Nora Lorek, 1992 in Deutschland geboren und seit 2005 in Schweden wohnhaft, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Migration und hat die Flüchtlinge in Bidibidi in ihrem Alltag begleitet. Für ihre Arbeit «Milaya – Patterns of Home» richtete Lorek ihr Augenmerk vor allem auf die bunten Tücher, die sie in den Unterkünften vorfand. Es sind Bettlaken, Milayas genannt, die gemäss einer alten Tradition aufwendig bestickt werden. Auf der Flucht waren die Tücher vor allem sehr praktisch. Viele Frauen haben in ihnen schnell ihre Habseligkeiten zusammengeschnürt, wenn sie plötzlich aufbrechen mussten, weil sich die Bewaffneten näherten. In der Fremde dienen die Milayas der Dekoration, vor allem aber erinnern sie die Flüchtlinge an die verlorene Heimat.

Für die Bevölkerung des Südsudans ist die Lage verheerend. Seitdem die Kämpfe begonnen haben, beklagen Menschenrechtsexperten ein erschreckendes Ausmass sexueller Gewalt, von der vor allem Frauen und Kinder, aber auch Betagte betroffen sind. Auch Joyce Sadia lebt inzwischen in Bidibidi. Sie posiert mit ihren drei eigenen Kindern und zweien ihres Bruders, um die sie sich ebenfalls kümmert, für die Fotografin. Sadia erzählte Lorek, mit Ausbruch des Krieges habe der Hass auch im Alltag zugenommen. Irgendjemand habe den Soldaten erzählt, dass ihr Mann eine Waffe besitze und sich den Rebellen anschliessen wolle. Tatsächlich habe ihr Mann mit seiner Waffe aber nur Diebe abwehren wollen. Trotzdem seien bald die Soldaten gekommen, erzählt Sadia: «Sie haben nach meinem Mann gefragt und ihn dann dorthin gebracht, wo unser Vieh steht. Dort haben sie ihn gefoltert.» In Bidibidi leitet Sadia eine der vielen Frauengruppen, die sich dort organisiert haben. Für die Frauen ist diese Gemeinschaft wertvoll: Dort können sie über die Gewalt sprechen, die sie erlebt haben, aber auch Hilfe im Alltag finden

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Während ihrer Arbeit in der Flüchtlingssiedlung sind Nora Lorek vor allem die riesigen bunten Tücher aufgefallen, so auch dieses blaue Laken, das eine Kirche ziert, oder das rote, vor dem Lea Kadi sitzt. Sie hat vor ihrer Flucht 35 Jahre lang als Hebamme gearbeitet, in Bidibidi verkauft sie nun Kaffee. Dabei, so hat sie es Lorek erzählt, verdiene sie weniger als einen Dollar in der Woche. Bei den Tüchern handelt es sich um sogenannte Milayas, Betttücher, die aufwendig bestickt sind – etwa mit Tieren, Blumen oder Verzierungen. Es ist eine Tradition, die im Südsudan unter den Frauen von Generation zu Generation weitergegeben wird. Ein solches Tuch dient als Dekoration für Feierlichkeiten, bei einer Heirat wird es der Frau als Mitgift mitgegeben. Da die Männer oft im Südsudan bleiben, um für ihr Land zu kämpfen, oder bereits getötet wurden, sind es vor allem Frauen und Kinder, die sich auf die Flucht begeben. Da sie nicht viel bei sich tragen können, schnüren sie ihre wichtigsten Dinge oft in einem Milaya zusammen. In Uganda bleiben die Tücher für die Frauen sehr wichtig – sei es, indem sie Milayas nähen und verkaufen und somit Geld verdienen, oder indem sie andere Frauen und Mädchen in dieser Kunst unterrichten. Die Zeit, die sie gemeinsam für die Milayas aufwenden, empfinden die Frauen als sehr kostbar. «Das Sticken machen wir nur für uns», erzählte eine Frau der Fotografin im «National Geographic». «Dadurch schaffen wir uns eine gemeinsame Zeit, in der wir uns unterhalten und Gedanken teilen können.»

Mit knapp 300 000 Bewohnern ist Bidibidi nach dem Rohingya-Camp in Bangladesh das zweitgrösste Flüchtlingslager der Welt. Insgesamt sind seit 2013 mehr als eine Million Menschen aus dem Südsudan nach Uganda geflohen. Es ist damit auch der Staat, der nach der Türkei und Pakistan im weltweiten Vergleich die dritthöchste Zahl von Flüchtlingen aufgenommen hat. 2011 hatte der Südsudan die Unabhängigkeit vom Sudan erlangt, doch schon bald folgte eine Phase der Instabilität. Was 2013 noch als politischer Machtkampf zwischen Präsident Salva Kiir und dem Rebellenführer Riek Machar, Kiirs früherem Stellvertreter, begann, sollte in den folgenden Jahren zu einem brutalen Konflikt zwischen den zwei grössten Bevölkerungsgruppen des Landes anwachsen: zwischen Anhängern von Präsident Kiir vom Volk der Dinka und Anhängern Machars vom Volk der Nuer. In einem Uno-Menschenrechtsbericht hiess es, in dem Konflikt sei «jedwede Art von Norm» gebrochen worden. Zu den Flüchtlingen, die nun in Bidibidi leben, zählt auch Nyediet Kai. Sie posiert mit ihren drei Kindern für Lorek. Kais Ehemann stammte aus dem Volk der Nuer und wurde von Soldaten der Regierung getötet; ihr Bruder blieb zurück und kämpft an der Seite der Rebellen. Kai kümmert sich daher nicht nur um ihre eigenen Kinder, sondern auch um die drei ihres Bruders.

Wie schafft man sich ein neues Zuhause, wenn man flüchten musste? In Bidibidi, einer Flüchtlingssiedlung in Uganda, hat Irene Sonia Platz genommen. Ihre jüngere Schwester Janet (links) und ihre Zwillingsschwester Charity spannen wie zum Schutz ein Milaya, ein bunt besticktes Bettlaken, um sie herum auf. Im Südsudan, woher die drei Frauen geflohen sind, ist das Verzieren eines solchen Tuchs eine alte Tradition; in der Ferne symbolisiert es für viele Flüchtlinge ein Stück vertrauter Heimat. Im Vergleich zu anderen Ländern betreibt Uganda eine progressive Flüchtlingspolitik: Migranten bekommen ein Stück Land, auf dem sie Gemüse anbauen und Viehwirtschaft betreiben können, sie dürfen sich frei bewegen, und die Kinder können zur Schule gehen. Dennoch bleibt für viele Flüchtlinge die Lage prekär – weil das Wasser mitunter verschmutzt ist, die Nahrung knapp und die Schule nur eine Grundausbildung bietet. Sonia träumte davon, in einer Bank zu arbeiten. Doch in der Schule, so hat sie es der Fotografin Nora Lorek erzählt, seien sie nicht in den entsprechenden Fächern unterrichtet worden. Auch ihr Umfeld fehlte ihr: «Das Leben ist schwierig», sagte Sonia. «Meine Freunde sind noch immer im Südsudan, und ich habe noch nicht einmal ein Telefon. Ich vermisse sie sehr.» Nicht immer reicht ein Stück Stoff aus, um die Sehnsucht nach der Heimat zu lindern. Im vergangenen Jahr ist Sonias Mutter mit ihr wieder in den Südsudan zurückgekehrt, wo sie inzwischen wieder lebt.

Bilder: Nora Lorek