Die AfD erhält wegen ihrer Migrationspolitik vor allem im Osten Deutschlands Zulauf – Wahlplakate in Dresden. (Bild: Gabriel Kuchta / Getty)

Die AfD erhält wegen ihrer Migrationspolitik vor allem im Osten Deutschlands Zulauf – Wahlplakate in Dresden. (Bild: Gabriel Kuchta / Getty)

Kommentar
Eric Gujer

Die Machtverhältnisse in Deutschland sind klar: Der Westen hat die Deutungshoheit über den Osten

In Westdeutschland verdient man mehr als im Osten. Alle wichtigen Redaktionen liegen im Westen. Frühere DDR-Bürger bekleiden nur selten Führungspositionen. Deutschland ist vereint und doch gespalten.

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Wieder jährt sich der Mauerfall, und wieder beugt sich der aufgeklärte Westen besorgt über die Brüder und Schwestern in Ostdeutschland. Sind sie undankbar, populistisch oder gar rechtsradikal? Die Mehrheitsgesellschaft in Düsseldorf und München nimmt entgeistert zur Kenntnis, dass da, wo nicht nur Konrad Adenauer die asiatische Steppe verortete, die AfD zur Volkspartei aufgestiegen ist. Sie macht bei drei Landtagswahlen den Regierungsparteien den Spitzenplatz streitig.

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Dreissig Jahre Einheit haben nicht genügt, um die stereotype Betrachtung «des Ostens» abzulösen durch einen differenzierten Blick. So dürften die Grünen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen kräftig zulegen, obwohl die Ostländer bisher grüne Diaspora waren. Hier verändert sich etwas, was genauso relevant ist wie der Aufstieg der Populisten. Die Angst der Westdeutschen vor der AfD hat dazu geführt, dass 14 Millionen Individuen mit unterschiedlichen Biografien, politischen Ansichten und Salären wieder als ein Kollektiv verstanden werden: als Dunkeldeutschland, das rechten Rattenfängern hinterherläuft.

Der Westen prägt das Bild

Ist der Westen ignorant und der Osten verkannt? Es wäre in den Debatten viel gewonnen, wenn der moralisierende Ton durch eine ruhige Analyse ersetzt würde. Wenn sich beide Seiten nicht mehr ständig die tatsächlichen oder vermeintlichen Fehler vorhielten. Im Osten grassiert ebenfalls die Neigung, den Westen nur als ein Kollektiv wahrzunehmen. Der Osten ist nicht schlechter, er ist nicht besser – obwohl er sich manchmal dafür hält. Es gibt auch im Osten genügend Klischees.

Der Vorwurf der «Lügenpresse» ist solch ein Pauschalurteil, weil er den Journalisten unterstellt, sie verbreiteten absichtsvoll Unwahrheiten. Wer aber will es Ostdeutschen verübeln, wenn es sie stört, dass vor allem Westdeutsche über Ostdeutsche schreiben und senden? Alle wichtigen Redaktionen liegen in den alten Ländern. Ihnen fiele es nie ein, Wahlen in Bremen und Bayern unter dem Begriff «der Westen» zusammenzufassen. Das gälte als unsinnige Verallgemeinerung. Eine Expedition in den Osten ist jedoch eine ehrenwerte Entdeckungsreise. Der eine Landesteil schreibt über den anderen und besitzt die Deutungshoheit. Dadurch entsteht eine Unwucht – und das Gefühl, unfair behandelt zu werden.

Wenn dann eine Bagatelle als Staatsaffäre behandelt und im Empörungston über die Pöbelei eines Pegida-Demonstranten berichtet wird, dann sehen sich alle bestätigt, die die Medien für voreingenommen halten. Indem der Westen über den Osten berichtet, haben die einen Macht über die anderen. Die Redaktionen sollten nicht entnervt den Vorwurf der «Lügenpresse» zurückweisen, sondern sich überlegen, wie sich der Missbrauch der Macht verhindern lässt. Das gilt besonders für den öffentlichen Rundfunk, der sich als das letzte Bollwerk gegen «rechts» zu verstehen scheint.

Die Asymmetrie der Machtverhältnisse setzt sich in der Wirtschaft und der Wissenschaft fort. Nicht einmal zwei Prozent der Führungskräfte in der Wirtschaft weisen eine Ostbiografie auf. Auch die Universitäten sind fest in der Hand der Westdeutschen. Wie die Medien gehören die Hochschulen zu den Institutionen, die Sinn produzieren und die herrschende Meinung definieren. Sind die Ostdeutschen undankbar, wenn sie sich als Bürger zweiter Klasse empfinden? Sollten sie nicht froh sein, dass sie heute überall auf der Welt studieren und Karriere machen können? Unmittelbar nach der Wiedervereinigung war die Dominanz westdeutscher Experten unvermeidlich; im Osten fehlte schlicht das notwendige Wissen. Drei Jahrzehnte nach dem magischen Datum 1989 hat das Ungleichgewicht einen faden Geschmack von Landnahme. Wer zahlt, befiehlt.

Der Westen pumpte Milliardenbeträge in die Infrastruktur, in die Rentenkasse und andere Bereiche, um den Rückstand Ostdeutschlands zu verringern. Es war ein Kraftakt und ein Ausdruck von Solidarität, die in Europa ihresgleichen sucht. Aber noch immer liegt das reichste deutsche Bundesland im Westen und das ärmste im Osten. Hamburg erwirtschaftet mit einem Bruttoinlandprodukt von 66 000 Euro je Einwohner mehr als doppelt so viel wie Mecklenburg-Vorpommern mit 28 000 Euro. In den drei Ländern, in denen nun gewählt wird, wuchsen die durchschnittlichen Einkommen im ersten Jahrzehnt nach der Wende rasch: von 50 Prozent des Westlohns auf rund 80 Prozent. Seither verharren sie allerdings weitgehend unverändert bei 85 Prozent. Zugleich sind die Lebenshaltungskosten im Osten tiefer. Auf der Habenseite steht auch, dass die einst so hohe Arbeitslosenquote unterdessen massiv gesunken ist.

Die Fortschritte sind riesig, und sie sind unverkennbar, doch die Kluft zwischen Ex-BRD und Ex-DDR lässt sich nicht bestreiten. Und das Leben spielt sich nun einmal in Relationen ab. Der Vergleichsmassstab war noch nie der traurige Zustand des Arbeiter- und Bauernstaates im November 1989 oder die Probleme, mit denen andere Ostblockländer seit dem Untergang des Kommunismus fertigwerden müssen. Die Ostdeutschen vergleichen sich nun einmal mit den Westdeutschen. Sie stellen fest, dass sie weniger haben und weniger sind. Auch hier lassen die Machtverhältnisse an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig.

Da ist es nicht abwegig, dass einige Wähler ihre Stimme Protestparteien geben, um die Eliten im Westen dazu zu zwingen, den Osten wahrzunehmen. Zunächst bedienten Linkspopulisten diese Unzufriedenheit. Seit die Linkspartei in vier Landesregierungen vertreten ist und einen Ministerpräsidenten stellt, gehört sie ebenfalls zum Establishment. Den Part als Rächer der Ostdeutschen hat die AfD usurpiert. Mindestens ein Teil der Anhänger wählt die Partei nicht wegen der Inhalte und interessiert sich auch nicht für die internen Richtungskämpfe. Sie wollen nur eines: ihren Frust herausschreien.

Darüber hinaus findet die AfD wegen ihrer Migrationspolitik Zulauf. Wer sich für einen Bürger zweiter Klasse hält, wer das Gefälle zwischen Ost und West als Ungerechtigkeit empfindet, der wird kaum die Flüchtlingswelle von 2015 gutheissen. Er wird eher sagen, dass Deutschland zuerst gleiche Lebensverhältnisse erreichen soll, bevor es im grossen Stil Neuankömmlinge aufnimmt.

Man mag das für pures Ressentiment halten, für hartherzig und inhuman, aber diese Betrachtungsweise folgt einer entwicklungsgeschichtlich programmierten Logik: Erst wir, dann die anderen. Das ist gewiss nicht typisch ostdeutsch, sondern allgemein menschlich. Natürlich ist diese atavistische Haltung besonders dort verbreitet, wo man sich benachteiligt fühlt. Dass die tonangebenden Kreise im Westen partout nicht verstehen können, warum viele Ostdeutsche Migration anders beurteilen, belegt nur deren Unwillen oder Unfähigkeit, sich in eine andere Vorstellungswelt hineinzuversetzen.

Entscheidungen von historischer Tragweite wie die Offenhaltung der Grenze vor vier Jahren haben immer unbeabsichtigte Konsequenzen. Eine davon ist die Entfremdung zwischen den beiden Landesteilen. Man überwindet diese nicht, indem man die Ostdeutschen als rechtsradikal abqualifiziert oder ihnen paternalistisch attestiert, sie hätten noch einen langen Weg der Demokratisierung vor sich.

«Ignoriert den Osten!»

Die, sagen wir es ruhig, patriotische Aufgabe, der Entfremdung entgegenzutreten, fällt vor allem dem Westen als der stärkeren Seite zu. Liest man jedoch, was Politik und Medien dazu zu sagen haben, muss man an der Bereitschaft zweifeln. Man appelliert an die Einheit und fördert die Spaltung. Die Hamburger «Zeit» empfiehlt für den Umgang mit den widerspenstigen Landsleuten kurz und bündig: «Ignoriert den Osten!» Wie viele Westdeutsche den Satz wohl klammheimlich teilen? Die AfD freut sich jedenfalls über diese Wahlhilfe.

Die Reaktion der Ostdeutschen auf so viel Ignoranz ist antrainiert. Die Diktatur erzwang Schizophrenie im Denken und Reden: Was man öffentlich sagte, stimmte nicht mit den privaten Äusserungen überein. Man schuf sich seinen Schutzraum in der Familie und mit Freunden. Heute gilt Meinungsfreiheit; jeder kann im Rahmen der Gesetze sagen, was er will. Die Bundesrepublik lässt sich nicht mit der DDR vergleichen. Allerdings findet die Meinungsfreiheit unter den Bedingungen eines als übermächtig empfundenen westdeutschen Diskurses statt. Das bringt wieder manchen zum Verstummen. Die Stimme für die AfD ist ein Ventil für die Schizophrenie auch im neuen Deutschland.

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