Vor der friedlichen Revolution im Herbst 1989 sprach kaum jemand von den politisch alternativen Kräften in der DDR. Hier eine Aktion der Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche Nöldnerplatz in Ost-Berlin 1985.(Bild: Jansson / Ullstein)

Vor der friedlichen Revolution im Herbst 1989 sprach kaum jemand von den politisch alternativen Kräften in der DDR. Hier eine Aktion der Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche Nöldnerplatz in Ost-Berlin 1985.(Bild: Jansson / Ullstein)

DDR-Bürgerrechtler: Der Glaube an die Reformierbarkeit des Systems war intakt

Zu den blinden Flecken der linksalternativen Kräfte zählte die Idee einer DDR-Identität. Die oppositionellen Kräfte wollten das bestehende System erneuern und sich auf alte Ideale besinnen. Wider die Mythenbildung 30 Jahre nach dem Mauerfall.

Eckhard Jesse
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Die Geschichte der politisch alternativen Kräfte in der DDR ist eine Geschichte voller Paradoxien. So strebten sie eine Reform der DDR an, bewirkten aber eine Revolution. Die ostdeutschen Dissidenten wahrten grössere Distanz zum Westen als etwa solche in Polen und der Tschechoslowakei; nach aussen bewiesen sie Mut, nach innen offenbarten sie mehrheitlich ideologische Anpassungsbereitschaft. Das Verhalten der «Normalbürger» fiel dagegen spiegelverkehrt aus: Äusserlich angepasst, waren sie innerlich renitent. Durch den Fall der Mauer standen jene, die am SED-System öffentlich Kritik geübt hatten, plötzlich an der Seite ihrer einstigen Gegner – ungeachtet ähnlicher Ziele blieben die beiden Gruppen sich aber doch fremd.

Die jüngste Kontroverse in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zwischen dem Soziologen Detlef Pollack auf der einen Seite und Bürgerrechtlern auf der anderen Seite untermalt dies: Pollack, seinerzeit Assistent an der Universität Leipzig im Fach Theologie, bestreitet den starken Einfluss oppositioneller Kräfte im Herbst 1989 am Sturz der SED-Diktatur, während die Bürgerrechtler ihre destabilisierende Wirkung auf diese betonen. Sie werfen Pollack vor, die Rolle der oppositionellen Kräfte herunterzuspielen und diese gar zu diffamieren. Was keine Seite ansprach: die seinerzeitigen Ziele der Bürgerrechtler. Welche politischen Positionen nahmen sie ein? Was bedeutete ihnen der dritte Weg, der in der Vorstellung einer demokratisch erneuerten DDR bestand? Was trugen sie zum Sturz des SED-Systems bei, wie standen sie zum Fall der Mauer, wie zur deutschen Einheit? Welche Meinung vertreten sie heute? Was sind die Gründe für den Wandel?

Antikapitalistisches Grundverständnis

Vor der friedlichen Revolution im Herbst 1989 – der einprägsam-griffige Begriff «Wende» hat sich zwar weithin durchgesetzt, ist für den Systemwechsel von einer Diktatur zu einer Demokratie aber wenig treffend – sprach kaum jemand von den politisch alternativen Kräften in der DDR. Selbst diese nahmen «Opposition» so gut wie nie in den Mund, sei es aus Überzeugung, sei es aus Strategie. Die ostdeutsche Diktatur tabuisierte das Thema, und auch im Westen stiess es auf keine sonderliche Resonanz. Jene Kräfte, die wider das Herrschaftsmonopol der SED löckten, sahen den Sozialismus als reformfähig an.

Wurde vor 1989 der Kreis der widerständigen Kräfte eher heruntergespielt, neigt heute ein Teil der Forschung dazu, deren Einfluss zu überzeichnen. Waren DDR-Oppositionelle in den 1950er Jahren auf den Westen fixiert, galt das nicht für die zwei letzten DDR-Jahrzehnte. Nach der Ausbürgerung des linken Liedermachers Wolf Biermann 1976 folgten Proteste in intellektuellen Kreisen. Er musste gehen und wollte bleiben. DDR-Bürger, die gehen wollten und bleiben mussten, ohne dass Proteste folgten, konnten dies nicht so recht nachvollziehen. Ausreiser firmierten weithin als Ausreisser.

Ein antikapitalistisches, nicht auf die Einheit bezogenes Grundverständnis zeichnete fast alle Dissidenten aus, wie ein Sichten der Texte in den Samisdat-Organen belegt. Gegen 5000 Personen engagierten sich unter anderem in Friedens- und Umweltkreisen, oft unter dem Dach der Kirche. Ende 1985 entstand mit der Initiative Frieden und Menschenrechte die erste Gruppierung ausserhalb der Kirche. Die SED-Diktatur, die von «feindlich-negativen» Kräften sprach, agierte in den 1980er Jahren, bedingt durch aussenpolitische Rücksichtnahmen, weniger repressiv als etwa in den 1950er Jahren. Die Konsequenz: «Zersetzung» löste Inhaftierung ab.

Glaube an eine DDR-Identität

Die Idee des dritten Weges – ideologisch angesiedelt zwischen Ost und West, zwischen Sozialismus und Kapitalismus – war verbreitet, gesellschaftspolitisch, aussenpolitisch und wirtschaftlich, der Glaube an die Reformierbarkeit des Systems ebenso. Zu den blinden Flecken der linksalternativen Kräfte zählte der Glaube an eine DDR-Identität. Dieser Sachverhalt entwertet nicht die Zivilcourage der konsumkritisch und blockübergreifend eingestellten Opposition, belegt vielmehr den Anpassungsdruck, unter dem fast jede Form der Dissidenz in einer Diktatur wie der DDR stand. Überzeugung und Vorsicht mischten sich. Niemand hielt den Zusammenbruch des kommunistischen Systems Knall auf Fall für möglich. Manche Nichtangepassten im Osten folgten den Ideen von 68ern, die in der freien Welt nicht nur freiheitliche Ziele verfochten. Zumal die Grünen beeinflussten durch enge Kontakte die politisch Alternativen, die liberal-konservative Tendenzen im Westen geisselten.

Bedingt vor allem durch die Flucht- und die folgende Demonstrationsbewegung – die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow nahm Abstand von der Breschnew-Doktrin und intervenierte also nicht –, brach die SED-Diktatur urplötzlich zusammen. Daran hatten viele ihren Anteil, auch die Dissidenten, die schnell – im September und Oktober 1989 – Zulauf erhielten. Am 9. Oktober 1989, dem «Tag der Entscheidung», demonstrierten 70 000 Personen in Leipzig gegen das SED-System. Doch liess die Isolation dieser Gruppen, die mit ihrer Vision von einem «echten» Sozialismus eine «andere DDR» anstrebten, in der Bevölkerung nicht lange auf sich warten.

Wenige Tage nach dem Fall der Mauer hiess es in einem Flugblatt des Neuen Forums, der im September 1989 gegründeten Bürgerbewegung: «Lasst Euch nicht von den Forderungen nach einem politischen Neuaufbau der Gesellschaft ablenken! Ihr wurdet weder zum Bau der Mauer noch zu ihrer Öffnung befragt, lasst Euch jetzt kein Sanierungskonzept aufdrängen, das uns zum Hinterhof und zur Billiglohnquelle des Westens macht! [. . .] Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm abschöpfen.»

Mit solchen Ideen, keineswegs politischer Rücksicht geschuldet, verspielten Bürgerrechtler ihren Kredit.

Die verbreitete Idee des Antifaschismus, die kaum jemand aus der Bürgerrechtsbewegung infrage stellte, verband sich mit Anti-Antikommunismus. Zu den Erstunterzeichnern des fast drei Wochen nach dem Fall der Mauer veröffentlichten Appells «Für unser Land» zählten bekannte Bürgerrechtler wie Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer und Konrad Weiss. Der Kernsatz: «Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen waren.»

Allerdings hatten die Bürgerrechtler gleich bei der ersten Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 7. Dezember 1989 ohne Wenn und Aber für freie Wahlen plädiert. Bei der ersten und letzten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 erreichten Bündnis 90, in dem sich drei Bürgerrechtsbewegungen (Demokratie jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum) zusammengeschlossen hatten, und die Grüne Partei, gemeinsam mit dem Unabhängigen Frauenverband, gerade einmal 2,9 beziehungsweise 2,0 Prozent. Nichts konnte stärker die Marginalisierung belegen. Doch ein Umdenken löste dies nicht aus. Dem Beschluss der Volkskammer für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 23. August stimmten nur zwei der 20 Abgeordneten von Bündnis 90 / Die Grünen zu: Joachim Gauck und Konrad Weiss. Nicht anders fiel das Votum über den Einigungsvertrag aus.

Lebensgeschichtliche Erfahrung

Die Vorbehalte gegenüber den neuen Verhältnissen schwanden allmählich. Bündnis 90 vereinigte sich mit den Grünen 1993 und förderte deren Realismus. Heute haben die meisten Bürgerrechtler ihren Frieden mit dem westlichen System geschlossen und ihre früheren Positionen stillschweigend aufgegeben. Ihre Heterogenität geht auf die Zeit nach der Diktatur zurück, zum Teil aber auch auf die Zeit davor, als die Ablehnung des «realen Sozialismus» andere Differenzen überlagerte. Wenn sie sich politisch weiterhin engagieren, dann in der CDU, der SPD und beim Bündnis 90 / Die Grünen. Einige wenige sind zur Partei Die Linke gegangen, einige zur Alternative für Deutschland. Mit Matthias Platzeck, zunächst Bündnis 90, später SPD, avancierte ein politischer Aktivist aus dem alternativen Milieu vor 1990 gar zum Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg von 2002 bis 2013.

Lebensgeschichtliche Erfahrungen erklären den starken Zusammenhalt von Bürgerrechtlern. Oft verfassen sie daher Resolutionen, sei es jetzt gegen den Auftritt von Gregor Gysi am 9. Oktober 2019 in Leipzig als Festredner bei einem Konzert; sei es letztes Jahr in einer «Erklärung zu Chemnitz» mit einem Votum gegen die AfD; sei es 2015 zugunsten der «Politik der offenen Grenzen». Auch wenn von einer Homogenität der Bürgerrechtler weder damals noch heute die Rede sein kann: Sie reagieren bei Kritik an ihren unausgegorenen politischen und wirtschaftlichen Ideen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre allesamt gekränkt, als würde ihnen jemand den Mut absprechen.

Wissenschaftliche Akkuratesse gebietet den Hinweis: Bei manchen Dissidenten standen weder Freiheit und Pluralismus noch menschenrechtliches Engagement im Vordergrund. «Alle wichtigen politischen Ziele von Widerstand und Opposition wurden 1989/1990 erreicht.» Diese These Ehrhart Neuberts, eines Protagonisten des alternativen Milieus und Verfassers eines Standardwerks zur DDR-Opposition, lässt etwas ausser acht. Deren Anhänger hatten eben nicht die parlamentarische Demokratie vor Augen – und keinesfalls die deutsche Einheit, schon gar nicht unter den Vorzeichen der kulturellen, politischen wie militärischen Westbindung. Wer einen solchen Sachverhalt hervorhebt, will historisch einordnen, nicht diskreditieren.

Kaum einer der Bürgerrechtler mag an die von ihnen seinerzeit behaupteten «verpassten Chancen» 1989/90 erinnert werden. Zu Recht nennt der Potsdamer Historiker Martin Sabrow den dritten Weg einen «vergessenen». Dieser Befund beruht zum einen auf der normativen Kraft des Faktischen, zum anderen auf der faktischen Kraft des Normativen.

Die Bürgerrechtler akzeptieren das vereinigte Deutschland, und zwar aus Überzeugung. Allerdings ist bei Bürgerrechtlern, befangen in konsensuellem Denken, die Fähigkeit zur Selbstkritik wenig entfaltet. Aber gerade das Eingeständnis von Irrtümern erhöht Glaubwürdigkeit.

Der Verfasser, emeritierter Professor an der TU Chemnitz, ist Extremismusforscher und Mitherausgeber des Jahrbuchs «Extremismus & Demokratie».