Assoziationen steigen auf, Erinnerungen werden wach, Ideen geboren: Kein Gefährt inspiriert mehr als das Velo. Vor allem das Rennrad natürlich, und am liebsten ein altes. (Bild: Westend61 / Imago)

Assoziationen steigen auf, Erinnerungen werden wach, Ideen geboren: Kein Gefährt inspiriert mehr als das Velo. Vor allem das Rennrad natürlich, und am liebsten ein altes. (Bild: Westend61 / Imago)

Schnell, elegant und unverwüstlich: Vielleicht ist das Velo der treuste Freund im Leben

Die schmalen Rohre. Die wohlgeformten Gabelenden. Die zarten, verchromten Speichen. Was ist so faszinierend an alten Rennvelos?

Wolfgang Hellmich
Drucken

1988 verurteilte ein italienisches Gericht Luigi Montagner zu sieben Jahren Haft und zehn Millionen Lire Geldstrafe. Fast zwei Kilogramm Heroin hatte er bei sich, als die Polizei ihn schnappte. Den Stoff habe er für einen griechischen Freund transportiert, gab er zu Protokoll. Doch man hatte Montagner bereits seit längerem im Visier. Einmal war er mit einer kleineren Menge Stoff erwischt worden. Sein Telefon wurde überwacht.

Luigi Montagner war damals 45 Jahre alt. Und er hatte einige der schönsten und schnellsten Rennräder gebaut – für die polnische und die tschechoslowakische Auswahl, für Francesco Moser. Mit Moser, einem der erfolgreichsten italienischen Radrennfahrer, Sieger des Giro d’Italia von 1984, war er befreundet, und er pflegte Kontakte mit vielen lokalen politischen Grössen.

Montagners Initialen sind dezent am Rahmen seiner Velos angebracht, dazu die italienische Flagge und der Name des Ortes, wo die kleinen Kunstwerke entstanden sind: Passarella, ein Ortsteil von San Donà di Piave im Veneto. Im neuesten Telefonbuch von Passarella taucht der Namen Montagner zweimal auf, unter verschiedenen Adressen. Ob sich dahinter der berühmte Rennrad-Magier verbirgt – «il mago della bicicletta»?

Namen sind Geschichte

Man macht sich ja nicht unbedingt Gedanken, warum Rennvelos so heissen, wie sie heissen. Dabei erzählen die Namen eine Geschichte. Die Geschichte eines jener «Giganten der Landstrasse», wie sie der Amsterdamer Soziologe Benjo Maso in seinem Buch «Der Schweiss der Götter. Die Geschichte des Radsports» (2011) nennt. Einige der Konstrukteure waren früher selbst Profirennfahrer. Nach ihrer Karriere gründeten sie eigene Unternehmen.

Cinelli, Colnago, Masi, Pinarello, Tommasini – so heissen sie, die berühmten Rahmenbauer. Der junge Eddy Merckx, der «Kannibale», wie er wegen seines Siegeshungers hiess, gewann auf einem «Masi» seine ersten Rennen. Später liess er unter seinem eigenen Namen Rahmen bauen. Die Radmanufaktur von Francesco Moser existiert noch heute.

Die Rohre für die Rahmen kamen oft aus Düsseldorf, wo der frühere Stahlkonzern Mannesmann seinen Sitz hatte. In italienischen Radschmieden wurden die Rohlinge veredelt. Die Velos, die daraus gebaut wurden, scheinen unverwüstlich zu sein. Heute, vierzig Jahre später, tauchen sie wieder auf. Vielleicht nicht gerade ein Massenphänomen, aber man kann sie doch überall entdecken. In Berlin, in Zürich, in Wien, in Mailand oder Florenz. Der Markt im Netz boomt. Händler bieten Raritäten feil. Je nach Zustand und Komponentenausstattung werden für manche Räder Preise von 2000 Franken und mehr verlangt. Warum diese Lust aufs Rennvelo?

Der Zweck – sonst nichts

Philosophen sind Spezialisten für Warum-Fragen. Und manchmal sind Philosophen auch Rennradfahrer. Konrad Paul Liessmann zum Beispiel. In einer «Hommage ans Rennrad» porträtiert der Wiener Philosoph den Rennvelofahrer als geschwindigkeitsliebenden Nachdenker. «Assoziationen steigen auf, Erinnerungen werden reproduziert, Ideen geboren», wenn man auf der Fahrt sei, schreibt Liessmann. Kein Gefährt inspiriere mehr als das Velo.

Rennräder seien «Reflexionsmaschinen». Autofahrer verbrennen Kraftstoff und produzieren Schadstoffe. Rennradfahrer erkunden «mit hoher Geschwindigkeit die Tiefen des Seins». Für Liessmann sind Rennvelos deshalb so anziehend, weil sie so gut wie nackt sind. Ihr Zauber stecke im Purismus, der ihrer Konstruktion zugrunde liege. An ihnen gibt es nichts, was sich zu etwas anderem eignen würde als dem Zweck, für den sie gebaut sind. Rennvelos existieren nur, um zu fahren. Reiner Selbstzweck.

Kommt hinzu, dass sie schön anzusehen sind. Die schmalen Rohre. Die wohlgeformten Gabelenden. Die zarten, verchromten Speichen. Keine überflüssige Windung. Eine aerodynamische Konstruktion, reduziert aufs Allernotwendigste. Wenn Angelina Jolie als so schön gilt, weil ihre beiden Gesichtshälften nahezu identisch sind, dann Retro-Rennräder, weil die Proportion ihres Rahmens so ausgeglichen gestaltet ist.

Der Wille zum Unterschied

Es ist ein erhabenes Gefühl, auf so einem Teil zu sitzen, das auf das Wesentliche reduziert ist. Ein bisschen unbequem, mag sein, aber das Fahrgefühl ist einmalig. Gepäckträger, Schutzbleche, Klingel – wer braucht denn so etwas? Einverstanden, Reflektoren können Leben retten, aber ehrlich: Sie sind doch vor allem peinlich. Wer mit dem Rennrad überholt, triumphiert. Man ist schnell, schneller als alle anderen, und das aus eigener Kraft. Und – ja, auch das: Man fährt das schönere Rad.

Distinktion ist vielleicht nicht das ausschlaggebende Motiv, wenn es um Räder geht. Aber es ist mit Sicherheit ein begleitendes Motiv. Georg Simmel, der erste grosse Theoretiker der Distinktion, konstatiert in seiner «Philosophie der Mode» von 1906, Mode befriedige das «Unterschiedsbedürfnis». Zugleich ermögliche sie «soziale Anlehnung».

Das trifft auch auf Rennradfahrer zu. Sie wollen sich unterscheiden. Sie brechen aus der Zweiraduniformität aus, wie ein Fahrer, der bei einem Strassenrennen aus dem Peloton ausbricht, wenn er sich an die Spitze setzen und gewinnen will. Aber ganz allein können sie auch nicht sein. Man grüsst sich zwar nicht, wie das die Motorradfahrer tun, aber man freut sich doch, wenn einer mit dem Rennrad einem entgegenkommt.

Dreck unter den Fingernägeln

Das Paradoxe an der Mode ist, dass sie dann zu verschwinden beginnt, sobald sie erfolgreich ist. Der natürliche Feind einer Mode ist die Masse. Auch das wusste Simmel. Wenn alle das Gleiche tun, ist es bald nicht mehr Mode. Nur, Vintage-Velo-Fahren dürfte nie zu einer Massenerscheinung werden. Radfahrer, die mit der Zeit gehen, wollen sich nicht anstrengen. Die fahren E-Bike.

Was den Rennradfahrer charakterisiert? Der Wille, sich zu plagen, sein Ziel zu erreichen und dafür zu kämpfen bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit. So will es jedenfalls die Business- und Managementliteratur wissen. «Warum Rennradfahrer die erfolgreicheren Manager sind», lautet der Titel eines Buchs, das sich irgendwo zwischen Gegenwartsanalyse und Ratgeber situiert. Der Erfahrungsbericht einer Fahrerin, ganz nett zu lesen.

Aber stimmt das wirklich so? Die meisten Fahrer älterer Rennvelos sehen jedenfalls nicht so aus, als strebten sie mit aller Gewalt ins höhere Management. Sie machen einen zufriedenen Eindruck, alles andere als verbissen. Sie lieben ihr Gefährt, basteln gerne daran herum, scheuen sich nicht vor Dreck unter den Fingernägeln, haben Freude an diesem alten Teil, mitsamt seinen Kratzern und Gebrauchsspuren.

Woran man sich halten kann

Es stimmt schon: Nostalgie ist da vielleicht im Spiel. Der Schweizer Arzt Johannes Hofer beschrieb vor über 300 Jahren Nostalgie als Mangelerscheinung. Als die Suche nach Halt und Orientierung. Basis seiner Untersuchungen waren Gespräche mit Schweizer Söldnern, mit Männern, die keine Heimat kannten. Nun lässt ein Rennrad kaum Heimatgefühle aufkommen. Aber es ist etwas, woran man sich festhalten kann.

Henry Miller, «der berühmteste Autor schmutziger Bücher» – so charakterisierte er sich selbst –, kaufte in den 1920er Jahren einem Deutschen bei einem Sechstagerennen in New York das Rennrad ab. Und von da an war er nicht mehr aus dem Sattel zu bringen. Bei einem Übungsrennen vom Prospect Park in New York nach Coney Island heftete er sich an das Hinterrad des von ihm vergötterten amerikanischen Renn-Champions Frank Kramer. Kramer galt als Einzelgänger, unfreundlich, trainingsbesessen. Für Miller hingegen fand er nette Worte. «Tadellos, junger Mann. Machen Sie so weiter!»

Für den Autor des umstrittenen Romans «Wendekreis des Krebses» war das Velo ein stummer Begleiter, auch und vor allem in schwierigen Zeiten. Solche hatte er genug. Seine erste grosse Liebe verlief unglücklich. Auch die folgenden Liebesbeziehungen nahmen kein gutes Ende. Trennungen, Scheidungen, Turbulenzen. 1978 veröffentlichte Miller einen schmalen Band mit Erinnerungen. Es enthält sieben Porträts von Menschen, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielten. Das achte und letzte Porträt gilt dem «treuesten Freund» – seinem Rad. Er hatte es im Lauf der Zeit ab und zu aus den Augen verloren. Aber nie aus dem Sinn.

Wolfgang Hellmich ist Philosoph, Politologe, Publizist und Radfahrer und lebt in Tübingen.