Spuren der Abwesenheit – Czernowitz ist ein tief ins Unheil des 20. Jahrhunderts eingelassener Ort, in dem schwer sesshaft zu werden ist | NZZ
«Kakanien» lässt grüssen: der Hauptbahnhof von Czernowitz hat sich seine Gründerzeit-Stilreinheit bewahrt. (Bild: Posterrr / Wikimedia Commons)

«Kakanien» lässt grüssen: der Hauptbahnhof von Czernowitz hat sich seine Gründerzeit-Stilreinheit bewahrt. (Bild: Posterrr / Wikimedia Commons)

Gastkommentar
Sonja Margolina

Spuren der Abwesenheit – Czernowitz ist ein tief ins Unheil des 20. Jahrhunderts eingelassener Ort, in dem schwer sesshaft zu werden ist

Könnten Czernowitz’ Pflastersteine erzählen, was alles über sie hinweggerollt ist, es käme keine erbauliche Geschichte zusammen. Das Jahrhundert der Extreme hat der Stadt Wunden zugefügt, die bis heute nicht verheilt sind. Und sie blutet weiter.

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Die Fahrwege von Czernowitz sind buchstäblich ein heisses Pflaster. Dass ukrainische Strassen oft kaputt sind und der Verkehr sich durch notorische Rücksichtslosigkeit und Aggressivität auszeichnet, ist natürlich keine nationale Besonderheit. Und doch fühlt sich das anders an in einer historischen Stadt, die ihr gesamtes Erscheinungsbild in der k. u. k. Monarchie gefunden hatte, nach deren Zerfall zu Rumänien gehörte und 1940 im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts der Sowjetunion einverleibt wurde, um nach nur einem Jahr wieder rumänisch zu werden. Es folgten die Rückeroberung durch die Rote Armee 1944, ein halbes Jahrhundert Zugehörigkeit zur Ukrainischen Sowjetrepublik und drei Jahrzehnte in der unabhängig gewordenen Ukraine.

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Das Czernowitzer Kopfsteinpflaster, vor mehr als hundert Jahren handwerklich makellos verlegt, hat seitdem einiges über sich ergehen lassen müssen: Truppen- und Panzerbewegungen, Gefängniswagen des stalinistischen Geheimdienstes NKWD und die Judendeportationen nach Transnistrien. Eigentlich sollte das Pflaster unter Denkmalschutz gestellt werden, so wie alle Strassenzüge mit unversehrten Altbauten. Dafür ist Czernowitz aber zu sehr mit dem alltäglichen Überlebenskampf beschäftigt. Der nicht enden wollende Strom von BMW- und Mercedes-Panzerfahrzeugen, Jeeps, SUV und Trucks, die einen höllischen Lärm erzeugen und eine Unmenge Feinstaub aufwirbeln, setzt dem robusten Pflaster zunehmend zu. Inzwischen sind die Strassen so stark beschädigt, dass viele Autofahrer lieber weit ausserhalb der Stadt parkieren, als ihre unter Schweiss und Tränen im Ausland erarbeiteten Luxusgefährte dem Verschleiss durch Schlaglöcher und gelockerte Steine auszusetzen.

Brutaler Bevölkerungsaustausch

Irgendwann seien Deutsche beim Czernowitzer Stadtrat aufgetaucht und hätten vorgeschlagen, die ganze Stadt umsonst zu asphaltieren, wenn man ihnen dafür im Gegenzug das historische Pflaster überlasse, erklärt unser Vermieter Sergei von Booking.coms Gnaden. Erstaunlicherweise solle die Stadt das Angebot abgelehnt haben, fügt er nicht ohne Genugtuung hinzu. Nun sieht man hier und da aufgerissene Strassenzüge, die repariert und neu gepflastert werden. Dass sie danach wieder so vollkommen aussehen werden wie unter den Habsburgern, ist jedoch unwahrscheinlich. Schliesslich ist das Handwerk auch nicht mehr das, was es einmal war.

Das Paradox von Orten wie Czernowitz besteht darin, dass ihre düstere Vergangenheit den Ausländern oft mehr bedeutet als den Einheimischen.

Nach Czernowitz kommt unsereiner der Vergangenheit wegen. Der touristische Wert der Stadt wird – abgesehen von den komplett erhaltenen k. u. k. Sehenswürdigkeiten wie dem vom Wiener Architekturbüro Fellner & Helmer erbauten deutschen Stadttheater oder den Prachtbauten der Universität – vor allem durch die Verbrechen bestimmt, die hier während des Zweiten Weltkriegs begangen wurden. Zumindest scheint das für Reisende aus Deutschland zu stimmen. Sie suchen nach einer optischen Bestätigung dessen, was man bereits im Kopf hat: nach Spuren der Abwesenheit.

Das Paradox von Orten wie Czernowitz besteht darin, dass ihre düstere Vergangenheit den Ausländern oft mehr bedeutet als den Einheimischen. Nachdem grosse Teile der einheimischen Bevölkerung – ein Drittel waren vor dem Krieg Juden – ermordet und deportiert worden waren oder wie Deutsche «heim ins Reich» zu gehen oder im Laufe der Sowjetisierung zu verschwinden hatten, wurden von ferne herbeigeschaffte Russen und Ukrainer in den leeren Wohnungen einquartiert. Waren vor dem Krieg 11 Prozent der Einwohner Ruthenen (Ukrainer) und je ein Drittel bis ein Viertel Deutsche, Juden und Rumänen, lebten in Czernowitz laut Volkszählung kurz nach 2000 79,9 Prozent Ukrainer, 11,3 Prozent Russen und 6,1 Prozent Rumänen und Moldauer. Für den radikalen Bevölkerungsaustausch waren die Neuankömmlinge nicht verantwortlich. Doch es ist nachvollziehbar, dass viele von den oft unfreiwilligen Umsiedlern sich mit der wechselhaften Geschichte der Stadt, in die sie als Fremde gekommen waren, so wenig identifizieren können wie Deutschlands Migranten mit dem Holocaust.

Ukrainische Kriechströme

Ohnehin leben die meisten Czernowitzer, nicht anders als die übrigen Osteuropäer, in einer prekären Gegenwart. Lauscht man den Gesprächen in Cafés und in der Bahn, dann scheinen sie gerade aus dem Ausland zurückgekehrt zu sein und bemühen sich händeringend um eine Arbeitserlaubnis für Polen oder Italien. In der Tat gibt es in Czernowitz kaum Beschäftigung, jedenfalls kaum eine, die ein anständiges Leben für eine Familie ermöglicht. Nach dem Kollaps der sowjetischen Industrie ist nichts nachgekommen. Die Ukraine war schon zu Sowjetzeiten ein Auswanderungsland, jetzt aber erst recht. Damals zog es Westukrainer auf sibirische Grossbaustellen. Heute gehen sie in die EU. Zurück bleiben Alte, Kinder und leere Eigentumswohnungen.

Auch Katja, die Ehefrau von Sergei, fängt im kommenden Winter in Italien als Pflegekraft an. Obwohl beide Mitinhaber mehrerer Wohnungen sind, die im Sommer an Touristen vermietet werden, reicht das für die vierköpfige Familie und die ärztliche Versorgung der Eltern nicht. Selbst an ein neues Gebiss mag Sergei, der seinen letzten, nikotingelben Stosszahn wie eine Monstranz vor sich herträgt, nicht denken, obwohl in jedem zweiten Haus eine Zahnarztpraxis um ihn wirbt.

Jedenfalls scheint in keiner anderen Stadt so viel über das fremde Pflaster geredet zu werden wie in Czernowitz. Auch in der Bar des Kinos, das sich bis heute in der einst berühmten und grössten Synagoge der Stadt, die am 8. Juli 1941 in Brand gesteckt wurde, befindet, erzählt ein adrett gekleideter älterer Herr einer jungen Popcornverkäuferin, wie er sich in Neapel und in Ligurien über Wasser gehalten habe. Stundenlöhne, Krankenversicherung, Wohnkosten, Sozialhilfe: Alles Wissen seines Arbeitsnomadentums tischt er dem teilnahmslos zuhörenden Mädchen auf. Es ist eher ein Selbstgespräch und eine Klage. In seinem Alter ist seine Arbeitskraft nicht mehr gefragt, er lebt von seinen letzten Ersparnissen.

Dagegen steht Michail, der vor fünfzehn Jahren ein Grundstück samt einem stillgelegten Sägewerk in der Grossen Synagoge erworben hatte, mit beiden Beinen im Leben. Der gelernte Tischler besitzt eine florierende Tischlerei und wohnt mit seiner Familie in der oberen Etage der Synagoge. Im Erdgeschoss liess er eine Art improvisiertes Café einrichten, in dem sich Touristen einen Espresso genehmigen und wieder freigelegte Wandmalereien bewundern können. Der verwüstete Innenraum der Synagoge ist nicht zugänglich. Nur nach wiederholten Bitten lässt Michail Besucher über die steile Treppe zum Gewölbe hinaufsteigen, auf dessen brandgeschwärzter Wand Fragmente der ursprünglichen Bemalung hervortreten. Michail hätte nichts dagegen, die Synagoge instand zu setzen. Dafür schlug er der Stadt einen Handel vor: Statt Grundsteuer zu zahlen, würde er das Gebäude renovieren. Doch man war nicht interessiert. Und Juden, fügt er hinzu, gäben nur ihren eigenen Leuten, denen sie vertrauten, Geld. Er sei aber nicht jüdisch und gehe daher leer aus. Juden, das sind ausländische Organisationen und Sponsoren, die in Czernowitz die Renovierung von Erinnerungsorten fördern.

In Czernowitz wird die Auferstehung der Vergangenheit nicht zuletzt von Ausländern bewerkstelligt, etwa von Freiwilligen aus Deutschland, die seit 2010 ein «Sommerlager 40+» organisieren, das jüngst etwa den grandiosen jüdischen Friedhof mit 50 000 Gräbern von Unkraut und Müll befreit hat. In letzter Zeit gesellen sich zu deutschen Rentnern immer mehr jüngere Leute aus anderen Ländern: Polen oder Amerikaner. Wenn man diese Menschen zwischen den überwucherten Grabsteinen sieht, versteht man besser, was Vergangenheitsaufarbeitung ist; wenn sich Einzelne in persönlichem Engagement der Idee historischer Gerechtigkeit hingeben.

Ziemlich allein und verlassen

Jüdische Sponsoren sind in besonderem Masse beteiligt an der Instandsetzung vieler verfallener Erinnerungsorte. In Sadagora, auf der anderen Seite des Pruth, im legendären Zentrum der Chassidim in der Bukowina, wurde das zerstörte Grabmal des Wunderrabbis Israel Friedman aus dem 19. Jahrhundert, das am Eingang des völlig verwilderten alten Friedhofs steht, wiederhergestellt. Auch die neogotisch-maurische Residenz des Sadagorer Zaddiks, in sowjetischen Zeiten Maschinenwerkstatt der Kolchose, ist fertig renoviert. Die Besucher bestehen fast nur aus Chassidim und Deutschen. Tatsächlich mutet die nagelneue Pilgerstätte in einer Gegend, in der es weit und breit kein gelebtes jüdisches Leben mehr gibt, einsam und verlassen an.

Als noch Juden in der Stadt gewohnt hätten, sei es Czernowitz besser gegangen, sagt Sergei, der während des Zusammenbruchs der UdSSR noch ein Jugendlicher war. Nun ziehen zu seinem Verdruss lauter Moldauer zu. In Czernowitz lebt mittlerweile die dritte Generation sowjetischer Umsiedler. Freilich lässt sich nicht wirklich ausmachen, ob Ostukrainer und Russen in der einst habsburgischen und dann rumänischen Stadt wirklich Wurzeln geschlagen haben. Vielleicht sind sie nicht nur aus wirtschaftlicher Not so schnell wieder weggezogen, sondern auch, weil sie keine Tradition und keine Vergangenheit an das alte Czernowitzer Pflaster binden.

Ein alter, drahtiger Mann, der sich als Vegetarier und Anhänger einer indischen Glaubensgemeinschaft zu erkennen gibt, erzählt im Zug, dass er gerade aus dem Donbass zurückgekehrt sei. Als 12-Jähriger habe er mit der Familie in die Westukraine ziehen und sich dort eingewöhnen müssen. Nun lebe er allein und wolle zurück in seine Geburtsstadt im Osten. Der Ort, wo er sich niederzulassen gedenke, hiesse Schtschastje, zu Deutsch Glück. Er sei kurzzeitig von Aufständischen besetzt gewesen und liege seit Mitte 2014 an der Front zu den Separatistengebieten. Dann aber habe sich herausgestellt, dass es am zum Verkauf stehenden Haus Einschüsse gebe, was im Kaufangebot nicht erwähnt gewesen sei. So sei ihm seine Geburtsstadt Schtschastje auf einmal fremd geworden.

Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin.