Das Stichwort: Der Algorithmus rechnet streng nach Schema, beruht aber auf einem Fehler

Alles ist heute von ihnen gesteuert, doch die wenigsten Menschen verstehen, wie Algorithmen funktionieren. Und auch ihr Name gibt Rätsel auf – nur aus Versehen ist der «Algorismus» im Mittelalter entstanden.

Klaus Bartels
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Algorithmen – so heissen die heimlich-unheimlichen immergleichen Rechenprozeduren, die unsere digital gesteuerten Maschinen und Roboter am Werken und überhaupt unsere ganze digitale Welt am Laufen halten. Und die am Ende – so eine jüngste Horrorvision –, wenn sie immerfort noch hinzulernen, immer noch intelligenter werden, den Unterschied zwischen Roboter und Mensch vollkommen aufheben könnten. Bis dann einmal einer dieser algorithmisch gesteuerten Burschen einen von uns auf Berlinerisch anraunzt: «Was? Tellijent wollen Sie sein? Ich will Ihnen sagen, was Sie sind: In-tellijent sind Sie!»

Ein irrlichterndes Stichwort: Das «Al-» vorneweg deutet wie in der «Algebra» aufs Arabische, die Endung «-us» aufs Lateinische und das «-th-» mittendrin aufs Griechische, und die drei Fingerzeige bekommen nacheinander allesamt recht. Und schaut da nicht, klingt da nicht – es geht ja ums Rechnen – aus dem «-rithmus» eine griechische «Arithmetik» heraus? Ja, wirklich, aber das ist erst das Ende dieser ost-westlichen Wortgeschichte, und kein Wunder: Was wir zuletzt hineingelesen haben, das schallt als Erstes wieder heraus.

Ein verdrehter Name

Am Anfang steht da der Name des grossen arabischen Mathematikers und Astronomen Muhammad ibn Musa oder vielmehr sein Beiname al-Huwarizmi, «der aus Huwarizm – am Aralsee – Gebürtige». Dieser al-Huwarizmi oder, je nach Umschrift, al-Chwarazmi oder al-Khwarizmi hatte im frühen 9. Jahrhundert in Bagdad in einer kleinen Lehrschrift das Rechnen mit den indischen Zahlzeichen von der Null bis zur Neun erklärt. Drei Jahrhunderte später, im 12. Jahrhundert, machte eine lateinische Übersetzung von Spanien aus sein Rechenbüchlein und mit ihm diese nun «arabischen» Zahlen erstmals im Abendland bekannt. Doch da begegnet der Name des alten, fernen Gelehrten gleich zu Anfang in arger Verdrehung: «Dixit Algoritmi: Laudes Deo . . .», «Algoritmi hat gesagt: Lob sei Gott . . .»

Heute dominieren Nullen und Einsen. Muhammad ibn Musa Musa, auf den die Algorithmen begrifflich zurückgehen, hat ursprünglich das Rechnen mit den indischen Ziffern von der Null bis zur Neun erklärt. (Bild: Imagebroker / Imago)

Heute dominieren Nullen und Einsen. Muhammad ibn Musa Musa, auf den die Algorithmen begrifflich zurückgehen, hat ursprünglich das Rechnen mit den indischen Ziffern von der Null bis zur Neun erklärt. (Bild: Imagebroker / Imago)

Und dann wird aus dem Lehrer noch die Lehre selber. In einer versifizierten Version des Rechenbuchs, die im 13. Jahrhundert von Paris aus weite Verbreitung fand, erscheint ein indischer König Algor als Erfinder der neuen Zahlzeichen und der «Algorismus» als Bezeichnung dieser neuen «Rechenkunst». Die Titelzeile kündigt an: «Hinc incipit algorismus», «Hier beginnt der Algorismus», und das Poem beginnt: «Haec algorismus ars praesens dicitur, in qua / talibus Indorum fruimur bis quinque figuris: / 0, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1», auf Deutsch, geradeso holprig: «So heisst, ‹Algorismus›, die neue Rechenkunst, mit der / solche Figuren der Inder wir nutzen, zweimal fünf Schnörkel: / 0, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1.»

Griechischer Etikettenschwindel

Spätestens nachdem 1453 Konstantinopel an die Türken gefallen war und man im Westen wieder Griechisch sprach und verstand, fiel der Anklang dieses «Algoritmi» oder «Algorismus» an das griechische Wort arithmós, «Zahl», und die arithmetiké téchne, die «Rechenkunst», bedeutsam ins Ohr. Der sachliche Bezug schien die vermeintliche Wortverwandtschaft zu bestätigen, und die seit der Humanistenzeit obligate Schreibung mit einem griechischen «th», diesem augenfälligen edlen Griechisch-Label, bekräftigte die verführerische Volksetymologie ein weiteres Mal. Ein Etymo-Etikettenschwindel: Da stand nun dreimal «Griechisch» drauf und war doch gar kein Griechisch drin.

Die arabischen Zahlen haben sich im Westen erst im Lauf von Jahrhunderten durchgesetzt. Ihr erster Auftritt in einer römischen Inschrift war ein Notbehelf. Auf der Grabplatte des 1455 in Rom verstorbenen, in der Kirche S. Maria sopra Minerva am Pantheon bestatteten Florentiner Malers Fra Angelico bot die eine Inschriftzeile am Fuss für Namen und Ruhmesprädikat, Vaterstadt, Ordensbruderschaft und das Todesjahr 1455 nur knappsten Raum. Da schnitt der Steinmetz für die Jahrhunderte anstelle des altrömischen «M CCCC» ein erstes «14» in den Stein. Mit der 55 liess sich kein Raum mehr gewinnen; so steht da jetzt als Todesjahr ein kühn aus neuen und alten Zeichen, Stellenwert und Zeichenwert gemischtes «14LV».