«Sperrt jeden ein, der eingesperrt gehört» – wie Chinas Machthaber die Repressionspolitik in Xinjiang planten und umsetzten

Hinter der Unterdrückungswelle in der westchinesischen Provinz Xinjiang steht der Partei- und Staatschef Xi Jinping persönlich. Doch nicht alle Vertreter der Kommunistischen Partei Chinas wollen die harte Linie mittragen. Das zeigen vertrauliche Dokumente, die der «New York Times» zugespielt wurden.

Patrick Zoll
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Die Behörden sind überall: Zwei Polizisten fahren in der Stadt Kashgar an einem uigurischen Haus vorbei. (Bild: Kevin Frayer / Getty)

Die Behörden sind überall: Zwei Polizisten fahren in der Stadt Kashgar an einem uigurischen Haus vorbei. (Bild: Kevin Frayer / Getty)

Geheime Reden, vorgestanzte Antworten auf die Fragen besorgter Familienmitglieder und das wahrscheinlich unter Druck entstandene Geständnis eines regionalen Parteichefs – was der «New York Times» an internen Dokumenten der Kommunistischen Partei Chinas zugespielt wurde, lässt tief blicken. Normalerweise schafft es die mächtigste Partei der Welt, ihre Entscheidungsfindungen absolut geheim zu halten. Allein schon deswegen sind die 403 Seiten interner Dokumente zur Politik in Xinjiang aufsehenerregend.

Die Autoren bezeichnen die Quelle der Dokumente als ein «Mitglied des politischen Establishments», das so verhindern wolle, dass sich die Parteiführer ihrer Verantwortung für die Masseninhaftierung entziehen können. Schätzungsweise mehr als eine Million Menschen vorwiegend muslimischen Glaubens sind in Xinjiang in Umerziehungslager gesteckt worden.

Xi reagiert mit Härte auf Anschläge

Dass die Welle extremer Repression, die seit bald zwei Jahren international für Aufmerksamkeit sorgt, von oberster Stelle gutgeheissen worden sein musste, war eigentlich klar. Nun zeigen Reden, die Xi Jinping vor ausgewähltem Publikum hielt, dass der Partei- und Staatschef diese harte Linie von Anfang an mitgeprägt hat.

Xi weilte 2014, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, für ein paar Tage in Xinjiang. Am letzten Tag seiner Reise forderte ein Bombenanschlag auf den Bahnhof von Urumqi, der Hauptstadt Xinjiangs, einen Toten und fast 80 Verletzte. Bei zwei weiteren Anschlägen von uigurischen Militanten sind in den Wochen davor und danach 70 weitere Personen ums Leben gekommen.

In einer Reihe von geheimen Reden sagte Xi daraufhin: «Wir müssen hart sein und dürfen absolut keine Gnade zeigen.» Die Partei müsse die Mittel einer Diktatur anwenden, um den radikalen Islam zu vernichten, sagte Xi laut den Redeprotokollen. Er gab zu bedenken, dass sich der islamische Extremismus in weiten Kreisen der uigurischen Gesellschaft verbreitet habe.

Xi setzte voll auf Unterdrückung. Damit schlug er einen anderen Weg ein als sein Vorgänger Hu Jintao. Dieser hatte gehofft, dass neben dem Druck auch die wirtschaftliche Entwicklung dazu betragen würde, die Unzufriedenheit ethnischer Minoritäten zu dämpfen.

Spagat zwischen Propaganda und Realität

Um seine harte Linie durchzusetzen, brauchte Xi einen Vollstrecker. Dieser heisst Chen Quanguo. Im August 2016 wurde der Parteichef aus Tibet nach Xinjiang versetzt. Unter ihm wurde das Netz der Umerziehungslager aufgebaut. Auch ausserhalb der Lager werden die muslimischen Minderheiten Xinjiangs, allen voran die Uiguren, auf Schritt und Tritt überwacht.

Chen prägte kurz nach Amtsantritt die Losung: «Sperrt jeden ein, der eingesperrt gehört.» Dieser Satz ist laut den Autoren der «New York Times» in den insgesamt 24 Dokumenten wiederholt zu finden.

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Nach offizieller Lesart handelt es sich bei den Lagern um Berufsbildungszentren. Doch die internen Dokumente zeigen, dass die Propaganda-Fassade und die Realität weit auseinanderliegen.

Besonderes Kopfzerbrechen bereiteten den Vollstreckern die Fragen von Studenten, die ausserhalb Xinjiangs an verschiedenen Universitäten Chinas studieren. Was würden die Studenten sagen, wenn sie in den Ferien nach Hause zurückkehrten und merkten, dass ihre Familien verschwunden waren? Da diese Studenten landesweit gut vernetzt waren, befürchteten die Beamten, dass Informationen über die Lager verbreitet werden könnten.

Darauf bereiteten sich die Parteikader akribisch vor, wie ein Leitfaden zeigt, der sich unter den zugespielten Dokumenten befindet. Auf die Frage, wo die Familienangehörigen seien, lautet die richtige Antwort: «In der Schule.» Zwar seien sie keine Kriminelle, dennoch könnten sie die Schulen nicht verlassen. Wer weiter nachfragt, dem wird deutlich zu verstehen gegeben, dass es in seinem und im Interesse seiner festgehaltenen Familienmitglieder sei, sich «richtig» zu verhalten.

Offizielle, die zu wenig hart sind, werden bestraft

Zu guter Letzt zeigen die Dokumente auch, dass die harte Linie parteiintern nicht unumstritten ist. Allein 2017 führte die Partei 12 000 interne Untersuchungen gegen Parteimitglieder in Xinjiang durch, die den «Kampf gegen den Separatismus» ungenügend unterstützt hatten. Tausende wurden bestraft.

Als abschreckendes Beispiel wurde Wang Yongzhi, dem Vorsitzenden der Region Yarkant, der Prozess gemacht. Yarkant liegt im Süden Xinjiangs, wo die Uiguren fast 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Wang baute zwar Lager für 20 000 Insassen. Doch er liess heimlich 7000 Insassen wieder frei, als er sah, dass in der Landwirtschaft die Männer fürs Pflanzen und Ernten fehlten.

Zu den zugespielten Dokumenten gehören eine Zusammenfassung der parteiinternen Untersuchung gegen Wang sowie ein fünfzehnseitiges «Geständnis», das wahrscheinlich unter Druck entstand. Dort schrieb Wang, er habe befürchtet, dass die Inhaftierung von so vielen Personen den Konflikt verschärfen könnte. Damit habe er die Regeln verletzt.

Das Untersuchungsprotokoll und das «Geständnis» Wangs wurden daraufhin Offiziellen überall in Xinjiang vorgelesen. Jeder sollte sich im Klaren sein, dass die harte Linie nicht hinterfragt werden darf. Denn es soll eingesperrt werden, wer eingesperrt gehört.

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