Als die Etsch 1950 gestaut wurde, versank das Dorf Graun in den Fluten. Nur der Kirchturm ragt noch aus dem Wasser. (Bild: Matthias Schrader / AP)

Als die Etsch 1950 gestaut wurde, versank das Dorf Graun in den Fluten. Nur der Kirchturm ragt noch aus dem Wasser. (Bild: Matthias Schrader / AP)

Einander friedlich abgewandt: Deutsch- und Italienischsprachige 100 Jahre nach der Teilung Tirols

Vor hundert Jahren wurde Südtirol im Friedensvertrag von Saint-Germain Italien zugeschlagen. Dank Autonomiestatus und der Europäischen Union ist es heute eine reiche und friedliche Region. Das war nicht immer so.

Stefan May
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Ein junger Bauer fährt seinen Traktor aus einer Scheune im kleinen Ort Graun im Vinschgau, am Dreiländereck Italiens mit der Schweiz und Österreich. Er blickt auf den schmutzig braunen See unterhalb des Dorfes und sagt: «Ja, das war ein grosses Unrecht.» Da, wo sich heute der Stausee ausbreitet, hatte seine Familie einst Haus und Hof. Sie musste ihr Anwesen verlassen und sich weiter oben am Berg neu ansiedeln, im Graun von heute. Damals, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, ist der ursprüngliche Ort in den Fluten des neuen Sees untergegangen. Nur der viel fotografierte, sieben Jahrhunderte alte Kirchturm ragt noch aus dem Wasser.

Kompromissloses Italien

Es ist eines der Beispiele für die Kompromisslosigkeit des italienischen Zentralstaats jener Tage gegenüber den Südtirolern. Auf einer Informationstafel am Ufer steht unter dem Titel «Die Tragödie vom Reschensee 1949/50» zu lesen: «Die Einwohner wurden ‹im nationalen Interesse zur Stärkung der nationalen Industrie› zwangsenteignet ohne Recht auf Realersatz und zur Aus- oder Umsiedlung gezwungen.»

In einem der Häuser des neuen Graun sitzt der frühere Lehrer Valentin Paulmichl in seiner Stube. Die Generation, die die Flutung miterlebt hat, empfinde den See noch als offene Wunde, «weil einfach wie ein Bagger drübergefahren wurde über die Bevölkerung», sagt er. Die Jüngeren hätten mehr Distanz. Die Pläne für den Stausee waren schon unter dem faschistischen Regime in den 1920er Jahren entstanden.

August 1953: Die Ruinen des Dorfes Graun, bevor es vom Wasser verschluckt wurde. (Bild: Getty)

August 1953: Die Ruinen des Dorfes Graun, bevor es vom Wasser verschluckt wurde. (Bild: Getty)

Die italienische Herrschaft über Südtirol begann vor 100 Jahren, am 10. September 1919, mit dem Friedensvertrag von Saint-Germain. Er ist einer der Pariser Vorortverträge, die von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs den Verliererstaaten auferlegt wurden. Die Wasserscheide am Alpenhauptkamm wurde als Grenze zwischen Italien und dem neuen Kleinstaat Österreich festgelegt.

Tirol wurde auf Drängen Italiens zweigeteilt. Der bis dahin nahezu ausschliesslich deutschsprachige südliche Teil gehört seit 1919 zu Italien. Jahrzehntelang wehrte sich seine Bevölkerung vergeblich dagegen. Heute lebt in Südtirol eine halbe Million Menschen: 315 000 Deutschsprachige, 120 000 Italienischsprachige, 20 000 Ladiner.

Oberflächliche Italianisierung

Ein erstes Autonomiestatut wurde 1948 für die Region Trentino-Südtirol geschaffen, in der allerdings die Italiener die Mehrheit stellten. Erst das zweite Autonomiestatut für Südtirol allein brachte nach 1972 Frieden in Italiens nördlichste Provinz. Dank der EU, welche die Bedeutung nationaler Grenzen relativiert, haben die beiden Teile Tirols als eine Region wieder zusammengefunden.

Doch es war ein leidvoller Weg. Die österreichischen Historiker Stefan Wedrac und Marion Dotter haben beschrieben, wie rasch die italienischen Regierungen zwischen 1918 und 1922 Südtirol zu italianisieren trachteten. Ein Vorkämpfer war der aus dem Trentino stammende faschistische Politiker Ettore Tolomei. Er gab die Zeitschrift «Archivio per l’Alto Adige» heraus. Die Wortschöpfung, zu Deutsch «Hochetsch», ist noch heute die offizielle italienische Bezeichnung für Südtirol.

Tolomei fertigte eine Liste mit italienischen Übersetzungen von rund 10 000 deutschen Orts- und Flurnamen an. Es handelt sich dabei, so die beiden Historiker, um recht oberflächliche Übersetzungen, oft ohne Kenntnis der Herkunft des Namens. Vielfach ergänzte Tolomei die deutsche Bezeichnung einfach um eine italienische Endung.

Eine Zeit der Repression alles Deutschen begann: Der Zuzug von Italienischsprachigen wurde gefördert, die Verwendung der deutschen Sprache in der Schule verboten. «Wohl ist die Welt so gross und weit» – das Bozner Bergsteigerlied findet sich noch heute im Repertoire vieler Musikkapellen. Es wurde 1926 geschrieben, doch in keiner der sieben Strophen dieses Heimatliedes kommt das Wort «Südtirol» vor. Die Verwendung des Namens war seit genau diesem Jahr nicht mehr erlaubt.

«Ethnische Flurbereinigung»

1939 schlossen die Diktatoren Italiens und Deutschlands, Benito Mussolini und Adolf Hitler, ein Abkommen, das die deutschsprachigen Südtiroler vor die Wahl stellte: gehen oder bleiben. Es war das Ziel der «ethnischen Flurbereinigung», Südtiroler in deutschsprachigen Gebieten anzusiedeln. Diese sogenannte «Option» riss erneut grosse Wunden. Erst galten unter den Deutschsprachigen die als Verräter, die weggingen, nach dem Krieg jene, die in Italien geblieben waren.

«Da sind Familien getrennt worden, die Tochter hat für Italien gewählt, der Sohn hat für Deutschland gestimmt, weil er einrücken wollte und für Hitler geschwärmt hat», erzählt der 86-jährige Edmund Dellago aus St. Ulrich im Grödnertal. Er war ein Kind, als sich seine Familie entschloss, nach Oberösterreich, damals Oberdonau, auszuwandern. Bis 1943 verliessen nur 75 000 Südtiroler ihre Heimat.

Ein paar Buben spielen auf dem weiten Gerichtsplatz der Provinzhauptstadt Bozen Fussball. Die Stadt ist heute mehrheitlich italienischsprachig. Begrenzt wird der Platz von zwei typischen Monumentalbauten aus totalitärer Zeit. Der eine ist das Gerichtsgebäude, der andere war das Parteihaus der Faschisten und beherbergt heute das Finanzamt. Über seinem Eingang prangt ein 36 Meter breites Relief aus Travertinstein, das grösste in Europa. Es zeigt in der Mitte Mussolini, den Duce, hoch zu Ross, und darunter die faschistische Losung: «Credere, obbedire, combattere» – «Glauben, gehorchen, kämpfen».

Da der Bildhauer so lange brauchte, befestigte man das Relief erst 1957, zwölf Jahre nach Kriegsende, vollständig an der Fassade des Gebäudes. Von Anbeginn war das faschistische Relikt ein Stachel im Fleisch der Südtiroler. Seit zwei Jahren ist dem Relief ein Satz von Hannah Arendt in den drei Landessprachen vorgesetzt: «Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.» Der Regierungschef der Provinz Bozen, Landeshauptmann Arno Kompatscher, hält eine solche Kontextualisierung für sinnvoller, als das Relief ins Museum zu stellen.

Das Relief am Finanzamt in Bozen wurde von den Faschisten in Auftrag gegeben aber erst 1957 fertiggestellt. (Bild: PD)

Das Relief am Finanzamt in Bozen wurde von den Faschisten in Auftrag gegeben aber erst 1957 fertiggestellt. (Bild: PD)

Ein Vorbild für funktionierende Autonomie

Kompatscher ist einer, der sich generell alter Muster entledigen will: «Das ist vielleicht die europäische Herausforderung insgesamt, dass man dieses Denken in nationalen Kategorien, Korsetten überwindet», sagt er. «Südtirol könnte dafür ja ein tolles Beispiel sein. Es braucht ein Überwinden durch die europäische Idee.»

Für die Südtiroler ist die Frage der Nationalität schwierig: «Ich bin ein Zerrissener in zwei oder drei Welten», sagt Günther Strobl, Wirtschaftsredaktor der österreichischen Tageszeitung «Der Standard». Er sei «weder Österreicher, obwohl ich 40 Jahre in Wien lebe, wohne, arbeite, noch Italiener. Ich bin zwar Pass-Italiener, fühle mich aber nicht als Italiener. Am ehesten bin ich Südtiroler, obwohl ich dort am wenigsten meiner Lebenszeit verbringe.»

Was fehlt den Südtirolern? Hans Heiss, der Historiker und Politiker der volksgruppenübergreifenden Partei Verdi Grüne Vërc bestätigt: «Der regionale Resonanzraum deckt sehr vieles ab. Aber es fehlt mitunter das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem grösseren Zusammenhang, und auch die Sehnsucht danach ist ausgeprägt.» Diese richte sich fallweise auf Deutschland, fallweise auf Österreich. «Aber es ist ein Defizit, das eigentlich durch den Rekurs auf die regionale Identität und durch den europäischen Horizont überspielt wird.» Das sei bezeichnend für die Rolle der Südtiroler, «die immer ein bisschen zwischen den Welten schwimmen, in einer Art von Provisorium».

Kompromisslos ablehnend gegenüber Italien ist hingegen die Vertreterin der rechtskonservativen Partei Süd-Tiroler Freiheit, Eva Klotz. Die 68-jährige Frau mit langem Zopf und sanfter Stimme schreibt «Südtirol» und «Nordtirol» konsequent mit Bindestrich, um die Vorläufigkeit der Teilung Tirols zu betonen. Sie tritt für die Rückgliederung an Österreich, zumindest aber eine Trennung von Italien ein.

Von Bumsern und Bläsern

Nach dem Zweiten Weltkrieg verbesserte sich die Situation der Südtiroler vorerst nicht: Italienisch blieb einzige Amtssprache, in den öffentlichen Dienst wurden nur Italiener aufgenommen. Einige aus der deutschsprachigen Minderheit versuchten ab 1956 mit Anschlägen gegen Strommasten auf die Situation im Land aufmerksam zu machen. Sie sind als «Bumser» in die Geschichte eingegangen. Einer von ihnen war der Vater von Eva, Georg Klotz.

«Ich spreche ganz klar von Freiheitskampf und Freiheitskämpfern», sagt die Tochter. Und über ihren Vater: «Es hat ja einen Mordanschlag gegeben, sein Freund Luis Amplatz war 1964 erschossen worden. Mein Vater konnte mit einem Steckschuss in der Brust in einem 43-stündigen Marsch über die Gletscher Nordtirol erreichen. Als man ihn weder lebend noch tot bekam, hat man auf die Familie gegriffen.» Vierzehn Monate und zehn Tage wurde ihre Mutter in italienischer Untersuchungshaft gehalten.

Die Weltöffentlichkeit wurde durch die Anschläge auf das Südtirol-Problem aufmerksam. Österreich brachte den Fall vor die Uno-Vollversammlung, die eine Resolution fasste. Österreich und Italien sollten gemeinsam eine Lösung finden. 1972 lag das neue Autonomiestatut vor, dessen Umsetzung allerdings noch 21 Jahre dauerte, weil um kleinste Details gestritten wurde.

Südtirol in Zahlen

«Ich kann mich erinnern, wie man gerungen hat um den Lehrplan des Konservatoriums für Blasmusik in Bozen», sagt der frühere österreichische Nationalratspräsident Andreas Khol. «Nein, die Streitbeilegung kann noch nicht erfolgen, es fehlt der deutschsprachige Teil des Lehrplans für den Posaunenunterricht», habe es geheissen.

Friedlich Rücken an Rücken

1993 war der Streit beigelegt. Die Autonomie beruht auf einem Vertrag zwischen Österreich, das völkerrechtlich als Schutzmacht Südtirols gilt, und Italien. Heute ist im Land alles penibel zweisprachig angeschrieben, in den Gebieten der 20 000 Ladiner sogar dreisprachig. Das Land prosperiert wirtschaftlich, insbesondere aufgrund seines Fremdenverkehrs, und gilt als Vorzeigeobjekt für Autonomie und Minderheitenschutz.

Grundsätzlich sind alle Südtiroler zweisprachig, doch von den Italienischsprachigen sind nur wenige zu einem Interview bereit. Der oberste Verwaltungsbeamte Italiens in der Provinz lässt mit der Begründung absagen: «Hiermit wird mitgeteilt, dass der Präfekt ein Interview zum vorgeschlagenen Thema nicht geben will, da dieses Thema nicht zum eigenen Tätigkeitsbereich gehört.»

Schliesslich willigt Alberto Stenico, der in der Genossenschaftsbewegung aktiv war, in ein Gespräch ein: «Mit dem Autonomiestatut hat es langsam ins Gegenteil umgeschlagen. Die Macht ging von Rom nach Bozen, von der italienischsprachigen Behörde zur deutschsprachigen Behörde.» Ausserdem falle ihm auf: «Ohne einander. Jeder für sich. Überleben, ohne in einer gesamten Kultur Südtirols zu leben, zu arbeiten.»

Ähnlich formuliert es der Grünen-Politiker Heiss: «Man kennt sich, man kennt die gegenseitigen Reibungspunkte, die werden routiniert abgefedert.» Doch es fehle an vertieftem Interesse aneinander. «Die Südtiroler deutscher Sprache interessiert wenig, was in Italien abgeht, wie die Italiener hier ticken, und umgekehrt gibt es auch Vorurteile gegenüber den Deutschen.»

Minderheiten auf Augenhöhe

So hat man zu einer Art «Kohabitation» gefunden, wie es Heiss nennt. Wer durchs Land fährt, merkt nichts von Unstimmigkeiten, offenen Wunden oder Rechnungen. Und auch die Südtiroler selbst würden heute wohl kaum mehr von einer «Tirolfrage» reden. Man hat sich eingerichtet in der Realität und profitiert von der Sonderstellung in Italien. Dass die Bevölkerung nicht homogen ist, stört die Bewohner Südtirols kaum.

Dass sie – nach 100 Jahren – zusammenfinden könnten, legt ein Text in dem vom Bergsteiger Reinhold Messner gegründeten Museum im Schloss Sigmundskron nahe: «Zusammenfinden als drei Minderheiten auf Augenhöhe. Die Deutschsprachigen und die Ladiner als Minderheit in Italien und die Italiener als Minderheit in Südtirol.»