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Webwelt & Technik Ständige Erreichbarkeit

E-Mails sind die Plage unserer Zivilisation

Wird für immer mehr Menschen zum Problem: der Zeitverlust durch die Bearbeitung von E-Mails Wird für immer mehr Menschen zum Problem: der Zeitverlust durch die Bearbeitung von E-Mails
Wird für immer mehr Menschen zum Problem: der Zeitverlust durch die Bearbeitung von E-Mails
Quelle: picture-alliance/ gms/RIM
Eine Unsitte greift um sich: Kollegen, Geschäftspartner oder Freunde bombardieren uns mit E-Mails, die wir gar nicht brauchen. Einige Menschen sind mittlerweile so vielen Informationen ausgesetzt, dass sie Gefahr laufen, das Leben zu verpassen. So wie der IT-Manager Jens Bohn.

Wenn Jens Bohn sich mal richtig gehen ließ, ging er nur mit einem einzigen Handy vor die Tür. Doch das war dann wirklich die Ausnahme. Normalerweise waren zwei, manchmal drei elektronische Spielzeuge der neuesten Bauart immer bei ihm. Und denen war der hochrangige Manager eines großen deutschen IT-Unternehmens ergeben wie eine konditionierte Labormaus. Sobald ein Gerät vibrierte, nahm Bohn es zur Hand, schaute auf das Leuchtschirmchen, tippte auf der winzigen Tastatur herum. Nicht selten meldete sich gleichzeitig das Gerät in der anderen Tasche mit einem Brummen, das immer wütender wurde, bis Bohn gehorchte, es nahm und drückte.

Am Arbeitsplatz, am Gate, am Frühstückstisch: Bohn war immer für seine kleinen Tamagotchis da. Und auch, als er vom vielen Tippen eine Sehnenscheidenentzündung in einem Finger hatte, einen „SMS-Daumen“, kam dem Manager nicht die Idee, dass da etwas schieflief in seinem Leben. Das merkte er erst später, und dann auf deutlich schmerzvollere Weise.

Bohns Namen haben wir geändert – und er zwischenzeitlich sein ganzes Leben. Seine ständige Erreichbarkeit für Firma, Freunde und Familie hatte am Ende fast alles zerstört. Erst ging seine Ehe in die Brüche. Und nach ein paar Tausend weiteren Mails, Feeds und Kurznachrichten folgte der physische und psychische Zusammenbruch. Jens Bohn konnte einfach nicht mehr. Er musste alle Leitungen und Funkverbindungen kappen. Vorläufige Endstation: eine private Burn-out-Klinik in der schleswig-holsteinischen Provinz.

Daniel Glattauer beschreibt in seinem Roman „Gut gegen Nordwind“, wie sich aus einer verirrten Rundmail eine geistreiche Korrespondenz zwischen einer Frau und einem Mann entspinnt, aus der schließlich eine schöne Liebesgeschichte entsteht. Mit der Wirklichkeit des Büroalltags hat der Roman leider nur die Massenmail, mit der er beginnt, gemein.

Der Telefonanbieter wünscht ein frohes neues Jahr. Ein Kollege schickt Fotos von der Weihnachtsfeier herum, 20 MB mit einem Zwinker-Smiley als Betreff. Newsletter, Neues aus Ihrem Netzwerk, der Bonuspunktestand bei der Bahn, gut gemeinte Kettenbriefe zugunsten von Straßenhunden auf Mallorca und gegen Menschenrechtsverletzungen in Eritrea. Und Irmgard aus der Buchhaltung teilt alle@meier-ag mit, dass sie ihre Diddl-Maus-Tasse vermisst.

Für sich genommen ist keine der Mails wirklich schlimm. In ihrer Gesamtheit sind sie es aber schon. Nur ein längeres Gespräch oder auch Inlandsflug, und schon wieder warten zwei, drei Dutzend ungelesene Mails im Postfach. Die Diddl-Maus-Tasse kann so zur finalen Nervenprobe werden.

Spam war gestern. Gegen Werbemails für Viagra, gefälschte Rolex und andere Formen der Penisverlängerung gibt es mittlerweile wirkungsvolle Filter. Nicht aber gegen das wachsende Heer von entfernten Kollegen, flüchtigen Geschäftspartnern und Dienstleistern, mit denen man wohl irgendwann mal in Kontakt gekommen sein muss. Und die einen deshalb einfach mit auf den Verteiler setzen.

„Ein Grundproblem vieler Leistungsträger ist, dass sie schon von ihrer inneren Veranlagung her immer für alles und jeden erreichbar sein wollen. Technische Errungenschaften wie Smartphones können diese Disposition pathologisch verstärken“, sagt Detlev Nutzinger, Professor für Psychosomatik an der Universität Lübeck. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychosomatik hat schon viele Burn-out-Patienten behandelt, denen der Blackberry zum Ein und Alles geworden war.

Schon die Sprache deutet darauf hin, in welchem Maße die digitale Vernetzung auf unser Privatleben übergreift. Wer etwa, wie so viele derzeit, dem „sozialen“ Netzwerk Facebook beitritt, muss als Erstes lernen, dass viele Wörter hier eine andere Bedeutung haben. Jede noch so flüchtige Geschäftsbekanntschaft ist dort ein „Freund“. Und wer sich über den Mittagstisch des Asiaten an der Ecke informieren will, muss gleich „Fan“ werden.

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Es ist ein bisschen wie in diktatorischen Systemen. Man schwört öffentlich Freundschaft. Unter allem und jedem steht ein „Gefällt mir“-Knopf. Die Option „Gefällt mir nicht“ gibt es einfach nicht. Und wenn einer nicht richtig mitmacht, fordert das Netzwerk Menschen in dessen Umfeld auf, dem Unwilligen zu „helfen“. Sind sie erst online, werfen die schüchternsten Mauerblümchen mit Freundschaftsangeboten um sich wie Zechkumpane. Und bringen andere in Nöte, die aus Höflichkeit ungern Nein sagen.

Denn die digitale Zwangsverbrüderung wird schnell zu einer allzu engen Umarmung eines eigentlich Fremden, der einen nicht mehr loslassen will. Ist man erst ein „Freund“ oder Kontakt, ein noch so passiver Rundmailempfänger, Fan oder Follower, dann sind alle Schleusen geöffnet. Sozioexhibitionisten überschütten einen mit Urlaubsfotos und profanen Alltagserlebnissen, twittern ihre Position in der Supermarktschlange, als Mood-Message im Skype.

Das sind natürlich nur Oberflächlichkeiten. Doch zugleich sind es Symptome, hinter denen eine neue Volkskrankheit steht. Sie verbreitet sich über Mailpostfächer, über Foren und Netzwerke. Eine informationelle Tröpfchenübertragung aus vielen kleinen Nachrichten und Mitteilungen. Wir kommunizieren uns zu Tode.

Problematisch wird es vor allem dann, wenn man glaubt, mit alldem kein Problem zu haben. Insofern war Jens Bohn ein typischer Burn-out-Kandidat. Er arbeitete gern und viel. Dass er mit Computern zu tun hatte, war dabei fast zweitrangig. Er liebte das Gefühl, etwas zu leisten, oder vielmehr: Er brauchte es. Ständige Erreichbarkeit musste die Firma von ihm nicht erst verlangen. Es war sein eigener Anspruch, den er an sich selbst stellte. Und an die Kollegen natürlich auch.

Jens Bohn ist ein ziemlich gewitzter Typ. Projekte und Investitionen durchrechnen, Strategien entwickeln, die permanent wechselnden Technologietrends verstehen und nutzen – das alles war ihm immer leicht von der Hand gegangen. Aber in Bezug auf sich selbst stand er sehr lange auf der Leitung. Der SMS-Daumen war nur der Anfang. Ohne es zu merken, richtete der Manager mit seiner Überarbeit, Übererreichbarkeit und Überkommunikation beinahe sein ganzes Leben zugrunde. Es folgten weitere körperliche Zipperlein, die er ignorierte. Freundschaften gingen kaputt, weil er dafür keine Zeit mehr zu haben glaubte. Seine beiden kleinen Söhne wurden ihm zunehmend fremd. Mit seiner Ehefrau stritt er fast nur noch – wobei ihm selbst dazu am Ende immer öfter die Energie fehlte.

Und, was ihn anfangs am härtesten traf: Bei der Arbeit lief es plötzlich auch nicht mehr rund. Er machte Fehler – er! Ein Wort, das im System Bohn vorher keinen Platz hatte. Er kniete sich also noch mehr rein, jagte noch mehr Mails vom Blackberry in die Welt.

„Viele Burn-out-Gefährdete reagieren zunächst mit einer defensiven Bewältigungsstrategie“, sagt Psychiater Nutzinger. „Sie nehmen Überforderung als persönliches Versagen wahr. Empfinden Schuld, wenn sie nicht alles schaffen. Und steigern deshalb ihre Bemühungen noch.“

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„Telefonieren ohne Ende – das ist echte Redefreiheit“, deklamiert der Anbieter eines Flatrate-Tarifs derzeit von metergroßen Plakatwänden. Dabei bedeutet wirkliche Freiheit doch eigentlich auch die Wahlfreiheit, etwas zu unterlassen. Mal ein paar Stunden oder gar Tage nicht zu telekonferieren, mailen, skypen, posten. Das Paradies vieler Menschen, die in kommunikationsintensiven Berufen arbeiten, es ist ein sehr stiller Ort.

Während sich mancher Unterabteilungsleiter noch geadelt fühlt, wenn ihm sein Arbeitgeber das erste Smartphone überreicht, gilt im höheren Management längst das Gegenteil. Wirklich bedeutend ist allein, wer seine E-Mails nicht selbst lesen und beantworten muss, schon gar nicht von unterwegs. Wer so wichtig ist, dass er von den Ketten der modernen kommunikativen Sklaverei befreit ist. Für den der „Status: online“ ersetzt wird durch das neue Statussymbol „offline“.

Der Modeschöpfer Karl Lagerfeld zum Beispiel brüstet sich seit Jahr und Tag damit, niemals E-Mails zu schreiben, ja noch nicht einmal einen Computer zu besitzen. Stattdessen verfasst er mit dem Filzer geschwungene Faxe.

Doch wer außer Lagerfeld kann sich das leisten? Und das auch nur für einen Tag? Zwischen der verlorenen Diddl-Maus und dem Bonuspunktestand könnte gerade die entscheidende Information versickern. Abteilungsleitersitzung um 19 Uhr – nicht gewusst? Stand aber doch in der Montagsmail.

Der Großteil der Büromenschen steckt bis hinauf in die leitenden Firmenränge längst in einem digitalen Dilemma. Sie können es sich einfach nicht leisten, sich der Nachrichtenflut zu entziehen. Sie brauchen die Kommunikationstools, um ihre komplexer werdenden Aufgaben zu meistern.

Sie müssen das Ohr auf der Schiene haben, um mitzubekommen, was los ist bei den Kollegen, bei den Klienten. Zugleich allerdings haben sie zunehmend das Gefühl, jeden Moment überrollt zu werden von all den Mails und all den Kurznachrichten.

Das alles nervt. Aber manche merken es nicht. Jens Bohn musste sich das erst zeigen lassen. In der Privatklinik schlossen sie ihn an Geräte an, die Hautleitfähigkeit und Puls maßen, während er gezielt Stresssituationen ausgesetzt wurde. Biofeedback nennt sich das Verfahren, das Stress sichtbar machen soll. Für Menschen, die dafür keine eigenen Rezeptoren ausgebildet haben. Die wie Bohn hochintelligent sind, aber zugleich geradezu Analphabeten in der Selbstwahrnehmung. Bohn musste lernen, dass sein Körper es nicht mag, wenn er von Termin zu Termin hetzt und gleichzeitig telefoniert und Mails beantwortet.

Wieder spüren, dass man ein körperliches Wesen ist und nicht bloß ein digitales Endgerät. Das ist die Voraussetzung für Schritt zwei: Belastungsmanagement. Immerhin ein potent klingendes Wort, das es Leistungsmenschen leichter macht, so „waldörfische“ Dinge zu lernen wie das Atmen durch den Bauch, autogenes Training, Entspannungstechniken.

Handyempfang gab es in der Klinik ohnehin nicht, für das Leben jenseits der Klinikmauern erlegte sich der Manager begrenzte Zeitfenster auf, außerhalb derer er vom Smartphone die Finger lässt. Die Rezepte gegen Überkommunikation sind simpel und geerdet.

Denn das eigentliche Problem liegt in Wirklichkeit nicht nur im Medium, sondern vor allem im Menschen. Ein Leistungsjunkie wie Bohn hätte es vermutlich auch zu Zeiten der ersten Telegrafenmasten geschafft, sich zu überfordern. Die Digitalisierung beschleunigt den Prozess nur.

„In vielen Berufen kann die Informationsflut über Internet und andere Kommunikationsmittel heute praktisch unbegrenzt steigen. Wer nicht in der Lage ist, die Informationen sinnvoll zu filtern und Prioritäten zu setzen, wird sich in ihnen verlieren“, sagt Detlev Nutzinger. Er schildert den Fall eines 60-jährigen Burn-out-Betroffenen, der sich so exzessiv mit dem Internet beschäftigte, dass er seinen Beruf nicht mehr richtig ausüben konnte. Mitursache war eine nicht erkannte Aufmerksamkeitsdefizitstörung, wie man sie von hyperaktiven Schulkindern kennt.

„Selbst hochgestellte Manager, die sonst so schnell nichts und niemanden an sich heran lassen, lesen und beantworten ihre E-Mails oft immer noch persönlich. In vielen Berufen ist Medienmanagement mittlerweile die eigentliche Kernkompetenz“, sagt Informationspsychologe Roland Mangold von der Stuttgarter Hochschule der Medien. Viel teure Chefzeit gehe in deutschen Managementetagen verloren, weil herkömmliche Kommunikationshierarchien bei elektronischer Korrespondenz oft nicht greifen. Oder noch nicht.

Natürlich gibt es Lösungsangebote. Wer kein eigenes Sekretariat hat, dem er sein Postfach anvertrauen möchte, für den gibt es E-Büros und Online-Sekretariate. Das Netz ist voll von Existenzgründern, die Kurse in Online- oder Medienmanagement anbieten. Auch die Ratgeberliteratur füllt viele Trefferseiten der Suchmaschine. Computer wurden ja ohnehin schon immer am häufigsten dazu eingesetzt, Probleme zu lösen, die sie selbst erst aufgeworfen haben.

Doch die digitale Prägung erfasst immer mehr Lebensbereiche, auch jene von gut abgegrenzten Menschen mit intakten Filtersystemen. Oft bemerken wir gar nicht mehr, wie sehr das Internet uns in unserem Denken und Handeln beeinflusst. Die Computerkonditionierung führt dazu, dass wir vornehmlich diejenigen Fakten wahrnehmen, die leicht zu googeln sind. Dass wir eher etwas in Wikipedia nachschlagen, als in die Bibliothek zu gehen. Dass wir zu Frank Schirrmachers neuem Buch „Payback“ so viele Blog-Kommentare gelesen haben, dass uns das Buch schon langweilt, bevor wir es überhaupt in der Hand halten.

Computer legen uns nahe, uns bevorzugt den Aufgaben, Korrespondenzen und Vorgehensweisen zuwenden, für die der Rechner eine schnelle Lösung anbietet. Klick, fertig. Selbst in seiner Argumentation für den Irak-Krieg folgte der damalige amerikanische Außenminister Colin Powell vor den Vereinten Nationen in New York in Ästhetik und Didaktik den Vorgaben einer PowerPoint-Präsentation von Microsoft. Chatprogramme, Skype und Facebook bewirken, dass wir, beruflich und auch privat, öfter mit den Menschen kommunizieren, die selbst ebenfalls häufig online sind.

Was nicht ins Raster der digitalen 24/7-Kommunikation passt, mitsamt Nonstop-Erreichbarkeit sieben Tage die Woche, fällt hingegen leicht durch den Rost. Wenn man nicht aufpasst, auch Freundschaften jenseits von StayFriends.de . Und Partnerschaften ebenfalls.

Im Leben Jens Bohns stand mit Anfang 50 alles wieder auf null. Job, Familie - nichts ging mehr. Er verbrachte fünf Wochen in der Burn-out-Klinik, legte anschließend ein halbjähriges Sabbatical ein, das er allerdings abbrach, um vorzeitig in den Beruf zurückzukehren. Mit guten Vorsätzen. Handy aus, durch den Bauch atmen, öfter für die Familie da sein. Lange ging das nicht gut. Die Firma hätte ihn am liebsten nach Übersee geschickt. Eine Karrierechance, aber der Manager merkte, dass er dem Druck nicht mehr standhielt. Am Ende ließ Bohn sich abfinden, und seine Frau ließ sich scheiden.

Und der Manager saß wieder im Therapieraum der Privatklinik in Schleswig-Holstein. Um Medienmanagement ging es da schon lange nicht mehr. Diesmal ging es ans Eingemachte, an Bohns Wertesystem. Was will er wirklich, was ist ihm wirklich wichtig, was sind seine Prioritäten im Leben?

Bohn ist nicht Schafhirte in Andorra geworden, und er trägt auch keine Batikhemden. Er arbeitet heute im Management einer kleiner Firma aus dem Bereich regenerative Energien. Er ist wieder in die Nähe seiner Familie gezogen. Seine Ehe konnte Bohn nicht mehr kitten, aber seine Söhne sieht er oft, auch an Werktagen. Das sind für ihn die wichtigsten Termine, denen er alle geschäftlichen Verpflichtungen unterordnet.

Wenn dann das Mobiltelefon in der Tasche vibriert, lässt Bohn es vor sich hin zappeln, einfach so. Das sei ihm nicht mehr wichtig, hat er unlängst in einer therapeutischen Nachbereitung festgestellt: „Meine Söhne sind zu meinem emotionalen Anker geworden.“

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