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Web 2.0 Plädoyer für die Sozialen Medien im Internet

Das Internet ist das digitale Herz der globalisierten Welt. Aus diesem Netz kommen wir nicht mehr heraus. Selbst wenn wir offline sind, sind wir drinnen - und werden es auch bleiben. Von Suhrkamp-Autor Stefan Münker.
Internetnutzer: Dichter war die Vernetzung der Welt nie

Internetnutzer: Dichter war die Vernetzung der Welt nie

Foto: Corbis

Menschen bauen gerne Netze. Schon sehr lange, sehr erfolgreich und auf unterschiedlichste Weise: Die Straßen und Aquädukte, die das römische Reich in der Antike durchzogen, waren nicht der Anfang, die elektrischen Stromleitungen, die Telefonkabel und die Pipelines für Öl oder Gas unserer Moderne sind nicht das Ende der Vernetzungsgeschichte. Unsere gesamte Zivilisation ist auch ein Prozess zunehmender Netzverdichtung. Dichter als heutzutage allerdings war die Vernetzung noch nie: Und das liegt - Sie ahnen es - am Internet, dessen digitale Fäden mittlerweile die ganze Welt (wenn auch regional unterschiedlich eng) umsponnen halten.

Das Netz der Netze ist in seiner noch kurzen Geschichte nicht nur zu einem immer erfolgreicheren Kommunikations- und Informationsmedium geworden; es ist zugleich das digitale Herz der globalisierten Welt: Über seine technische Infrastruktur fließen die transnationalen Geldflüsse ebenso wie logistische Steuerungsprozesse des internationalen Waren- und Güterverkehrs. Doch nicht nur die Wirtschaft, auch Wissenschaft und Forschung, Politik und Kultur finden längst zu einem nicht geringen Teil im oder über das Internet statt. Tendenz steigend.

Wir kommen, das mögen fortschrittliche Zeitgenossen bereits für trivial halten, aus dem Internet nicht mehr heraus. Doch mehr noch: Wir sind eigentlich immer schon drin. Und dabei muss man nicht an Informationsjunkies denken, die morgens im Bett oder nach der Landung am Flughafen nur darauf fiebern, ihr iPhone oder ihren Blackberry aktivieren zu dürfen, um nach der temporär erzwungenen Absenz vom Netz endlich wieder online zu sein.

Es ist vielmehr an die Spuren zu denken, die wir alle im Internet hinterlassen - und die (merke: das Netz vergisst nichts!) dort bleiben, auch wenn wir gehen. Bereits heute können wir kaum ein Konzert oder einen Vortrag hören, kaum einer größeren Veranstaltung beiwohnen, von denen nicht noch vor ihrem Ende Bilder und Filme bei Facebook oder YouTube zu finden wären, und deren Highlights nicht bereits während des Nachhausegehens getwittert, gepostet und in den entsprechenden Communitys kommentiert werden. Wir wären unentschuldbar naiv, wenn wir nicht bei allem, was wir - in welchem Medium, in welchem Kontext auch immer - öffentlich machen, davon ausgingen, dass wir mit der Veröffentlichung zugleich Spuren im Internet hinterlassen haben könnten. Ob wir das wollen oder nicht - wir sind mittlerweile selbst dann Teil des omnipräsenten Internets, wenn wir glauben, offline zu sein. In diesem ganz konkreten (und keineswegs metaphysischen) Sinne gilt: Es gibt schon heute kaum noch Öffentlichkeiten, die nicht auch digital wären.

Orwell lässt grüßen

Das ist der Anfang, und so viel ist sicher: Der Wandel hat gerade erst begonnen, ein Ende ist nicht abzusehen. Man kann die gegenwärtigen Entwicklungen als Prozess orwellscher Provenienz empfinden. Man kann sie aber auch als Chance sehen - für eine transparentere Welt zum Beispiel. Anlass für Optimismus gibt vor allem das viel beschworene Web 2.0 und die Art und Weise, wie es unsere Öffentlichkeit verändert.

Unter Web 2.0 versteht man den Trend, Internetseiten so zu gestalten, dass ihre Erscheinungsweise durch die Partizipation ihrer Nutzer (mit-)bestimmt wird. Das Spektrum typischer Web-2.0-Auftritte umfasst Video-, Foto- und Musikportale; Tauschbörsen (legale und illegale) für Waren und Informationen verschiedenster Art; große und kleine Online-Communitys für die unterschiedlichsten Gruppen und Interessen; die Textnetze der Blogosphäre und die Szene der Wiki-basierten Wissenssammlungen und manches andere mehr. Zu den populärsten und weltweit erfolgreichsten Web-2.0-Auftritten gehören das Videoportal YouTube, die Online-Enzyklopädie Wikipedia und die Community-Seiten von Facebook. Mit Nutzerzahlen von weltweit mehreren hundert Millionen täglich hat das Web 2.0 das Internet endgültig zum Medium der Massen werden lassen.

Und es beginnt, die Welt außerhalb des Netzes nachhaltig zu beeinflussen, ja zu verändern. Im US-amerikanischen Wahlkampf hatte mit Barack Obama erstmals ein Kandidat die meisten seiner aktiven und zahlungskräftigen Unterstützer über das Internet akquiriert; in Obamas Politik spielt das Web 2.0 bis heute eine zentrale Rolle. In Iran wiederum hatte sich nach der Wahl in diesem Jahr die Opposition über die Sozialen Medien des Web 2.0 nicht nur organisiert, sondern zugleich auf eine bis dato nicht gekannte Weise für die Weltöffentlichkeit sichtbar artikuliert. Sowohl in demokratischen Kontexten als auch in totalitären Systemen positioniert sich das Internet derzeit als ein ebenso reichweitenstarkes wie wirkungsvolles politisches Instrument.

Real gewordene Utopie der demokratischen Umnutzung der Massenmedien

Der medienhistorische Grund ist ebenso einfach wie tiefgehend: Erst jetzt, und auch nur mit den Web-2.0-Anwendungen, wird die massenhaft verbreitete Nutzung gemeinschaftlich geteilter interaktiver Medien zum ersten Mal Wirklichkeit; die kollaborativen Projekte seiner Sozialen Medien realisieren eine Praxis der partizipatorischen Mediennutzung, die zumeist überraschend effizient und dabei fast immer demokratischer ist, als wir es von früheren Medien gewohnt sind. Das Web 2.0 erscheint dabei zumindest tendenziell als die real gewordene Utopie jener demokratischen Umnutzung der Massenmedien, deren Ideal zuerst wohl Bertolt Brecht in seinem Rundfunkaufsatz aus dem Jahr 1932 entworfen hat. Als Netz gemeinschaftlich produzierender Sender wird das Web 2.0 zu einem medialen Baustein einer neuen Form gesellschaftlicher Öffentlichkeit.

Nun gibt es, und jeder, der das Internet nutzt, weiß das auch, nicht nur erfreuliche Aspekte in der digitalen Sphäre. In den Tiefen des Webs verstecken sich schreckliche Dokumente des Abgründigsten menschlicher Unkultur, und auf seiner Oberfläche glänzt der Tand sinnloser Eitelkeiten. Der eine Kritiker möchte das Netz deswegen stärker regulieren; und dem anderen Kritiker ist die Pluralität seiner Angebote vor allem ein Indiz für eine vermeintliche Fragmentierung unserer sozialen Gemeinschaft. Dem ersten muss man zugestehen: Ja, es stimmt - wir müssen natürlich auch im Internet Straftatbestände ahnden; und wir sind derzeit noch nicht gut genug darin, das geltende Recht im globalen Netz zu exekutieren. Ein anderes Recht aber brauchen wir deswegen noch lange nicht.

Dem zweiten Kritiker aber muss man einerseits entgegnen, dass die Öffentlichkeiten im Internet ja keineswegs schlicht Zeugnisse von sozialer Isolierung oder Zersplitterung sind - sondern dass gerade in den Sozialen Netzen vielmehr Orte von Vergemeinschaftung und intensive soziale Kontakte entstehen; und das, wie aktuelle Studien zeigen, sogar intensiver und enger als dort, wo das Netz nicht genutzt wird.

Andererseits kann man alle, die das Netz für die Fragmentierung der Gesellschaft haftbar machen möchten, nur auffordern, vor der nächsten Zugfahrt einen Bahnhofskiosk zu betreten. Die Vielzahl der Magazine und Zeitschriften konfrontiert jeden Käufer mit einer solch enormen Textmenge, dass für deren Lektüre ein Menschenleben nicht ausreichte - und deren Disparatheit und Heterogenität im Analogieschluss das Bild einer ebenso zersplitterten und uneinigen Gesellschaft widerspiegelt. Wenn man das denn so verstehen will.

Tatsächlich hängt der Zusammenhalt einer Gesellschaft jedoch zum Glück nicht von der Interessengleichheit ihrer Teilnehmer ab - ja, in demokratischen Gesellschaften ist Interessenvielfalt vielmehr ein wichtiges und virulentes Gut. Gesellschaften brauchen Öffentlichkeiten. Zum Austausch von wichtigen Informationen, zur Auseinandersetzung über strittige Meinungen, zur Vermittlung unterschiedlicher Interessen. Öffentlichkeiten stiften Identitäten und erzeugen Differenzen; sie sind Orte des Zusammenfindens und der Abgrenzung zugleich: gerade auch die des Web 2.0. Die digitalen Öffentlichkeiten im Web 2.0 bereichern die plurale Vielfalt unserer Gesellschaft. Und das ist gut so.