Private Daten: Das Internet sollte vergessen

Internet sollte vergessen
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Private Daten im Internet stehen auch nach Jahrzehnten noch zur Verfügung und können einigen Ärger verursachen. Harvard-Professor Viktor Mayer-Schönberger hat eine Lösung.

Es heißt, das Internet vergisst nicht. Damit wird ein uralter Traum der Menschheit wahr: das perfekte Gedächtnis. Welche Vor- und Nachteile hat das?

Viktor Mayer-Schönberger: Das meiste, was wir wahrnehmen, die meisten Gedanken, die wir haben, vergessen wir auch sofort wieder. Mit gutem Grund. Das Erinnern erfordert Aufwand, Energie, Zeit und ist deshalb von Menschen immer sehr sparsam verwendet worden. Nur dann, wenn wir geglaubt haben, dass es etwas ganz Wichtiges ist, das wir festhalten wollen. Die wichtigen Epen der Menschheitsgeschichte zum Beispiel. Oder das Familienfoto zum 25. Hochzeitstag. In der heutigen Zeit der digitalen Werkzeuge hat sich diese Gleichung genau umgekehrt. Aufgrund der Digitalisierung, der enorm gesunkenen Speicherkosten, der einfachen Wiederfindung von Informationen in dem globalen Zugriffsnetzwerk Internet, ist es heute die Regel, sich an alles zu erinnern und das Vergessen ist teuer geworden. Ökonomisch gesehen: Die zweieinhalb bis drei Minuten, die Sie brauchen, wenn Sie digitale Fotos von der Kamera auf ihren Computer spielen und entscheiden, ob Sie das Foto behalten wollen oder nicht, sind bereits teurer als die Speicherkosten auf der Festplatte, wenn Sie einfach entscheiden, alle zu speichern. Aus diesem Grund überlegen die Menschen nicht mehr, ob sie sich erinnern wollen oder lieber vergessen – sie erinnern sich einfach. Dieser Standard ist in vielen digitalen Werkzeugen bereits integriert. Das sollte eigentlich ein Grund zur Freude sein. Wir vergessen so vielleicht nicht mehr, wo wir unser Auto geparkt haben oder wann unsere Freunde Geburtstag haben.

In Ihrem Buch „Delete“ fordern Sie, dass auch im digitalen Zeitalter wieder mehr vergessen werden sollte. Was ist das Problem mit dem perfekten Gedächtnis?

Da gibt es eine interessante Kurzgeschichte von dem argentinischen Schriftsteller Jorge Borges, die „Funes el Memorioso“ („Das unerbittliche Gedächtnis“, Anm.) heißt. Darin geht es um einen jungen Mann, der vom Pferd fällt und nachher nicht mehr vergessen kann. Borges besucht ihn und ist völlig entsetzt: Dadurch, dass der junge Mann ein perfektes Gedächtnis hat und sich an alles erinnern kann, hat er keine Fähigkeit mehr zu generalisieren und zu abstrahieren und vor allem zu lernen. Lernen bedeutet vergessen. Das Detail zu vergessen und die generelle Regel zu behalten. Damit bleibt dieser Mann auf ewig im Detail der Vergangenheit verhaftet und kann nicht mehr in der Gegenwart leben. Ich fürchte, wenn wir zu viele unserer Erinnerungsstücke festhalten, laufen wir Gefahr, zum Funes el Memorioso zu werden. Das hat nicht nur Nachteile für die Gesellschaft und die Kommunikation, sondern auch für das menschliche Entscheidungsvermögen.

Im Internet kommt die Datenschutzproblematik dazu. Ein Foto von mir als Betrunkener hat mich als 19-Jähriger noch nicht gestört. Aber wenn ich ein erfolgreicher Anwalt mit 39 bin, habe ich ein Problem. Die einzige Möglichkeit, dem unter herkömmlichen Mitteln zu entgehen, ist nichts mehr in diese sozialen Netzwerke einzuspeisen.

Das klingt unrealistisch. Gibt es eine andere Lösung?

Es ist nicht nur unrealistisch, es ist auch theoretisch falsch. Jetzt haben wir solche mächtigen digitalen Werkzeuge, die in der Lage sind, eine neue Öffentlichkeit herzustellen und genau diesen robusten Diskurs zu erzeugen, den wir in einer Demokratie brauchen. Dann sagen wir zu allen Leuten, zensuriert euch? Das kann es doch nicht sein. Dann nehmen wir ja diesen Werkzeugen wieder die Macht, die sie haben und lassen die Kommunikation im Netz verarmen.

Wie könnte man das Problem ihrer Ansicht nach lösen?

Indem man dem Vergessen wieder eine Chance gibt. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Eine davon ist, Informationen, die wir speichern, ein Verfallsdatum zu geben.

Wie soll das genau funktionieren?

In dem Moment, in dem wir etwas abspeichern wollen, müssen wir nicht nur den Namen eingeben, sondern auch ein Verfallsdatum. Dieses Datum können wir frei wählen und auch nachträglich wieder verändern, wenn wir merken, dass die Information länger relevant ist. Aber diese Notwendigkeit, ein Verfallsdatum einzugeben, führt uns zu Bewusstsein, dass Information nicht zeitlos ist. Dass sie einer bestimmten Situation verhaftet istund damit ihre Relevanz mit der Zeit verliert.

Im Internet hat man aber nicht immer die vollständige Kontrolle über seine Daten – teilweise sind persönliche Informationen in der Hand von Firmen wie Google oder Facebook. Wie soll man diese Firmen von der Idee eines Verfallsdatums überzeugen?

Wird das Ablaufdatum von Kunden gefordert, wird es auch von Dienstleistern zur Verfügung gestellt. Das sehen wir zum Beispiel bei der Suchmaschine Ask.com, die per Klick die gesamte persönliche Suchgeschichte löscht. Google hingegen zeichnet jede Suchanfrage auf. Warum macht das Ask.com? Weil sie glauben, dass sie da einen Wettbewerbsvorteil haben. Andererseits ist es auch für die Informationsanbieter besser, wenn von ihren Kunden jene Informationen ausgewählt würden, die noch relevant sind. Bei Amazon wird zum Beispiel für Empfehlungen jedes Buch gespeichert, das ich einmal gekauft habe. Mit der Zeit verändern sich meine Präferenzen aber und die Empfehlungen werden schlechter. Nehmen Sie das Beispiel eines Reiseführers. Es bringt nichts, wenn Amazon diesen Reiseführer einbezieht in die Empfehlungen, nachdem ich von der Reise zurückgekehrt bin. Oder wenn ich ein Geschenk für jemand anderen gekauft habe. Hier steigt die Informationsqualität, indem ich nicht mehr relevante Informationen lösche.

Haben Sie Ratschläge, wie Jugendliche mit persönlichen Informationen im Internet umgehen sollten?

Man muss ja nicht unbedingt Facebook nutzen, um Fotos zu teilen. Es gibt zum Beispiel Drop.io, wo Bilder ein Ablaufdatum besitzen. Selbst bei Facebook gibt es Applikationen wie Wisk-it, die es erlauben, geteilte Fotos auch wieder „zurückzuholen“. Natürlich muss uns allen bewusst sein, dass Facebook und Twitter ein beharrliches Erinnerungsvermögen haben.

Buchtipp:
Viktor Mayer-Schönberger, Delete: „The Virtue of Forgetting in the Digital Age“, Princeton Press, 2009

Verfallsdatum für Fotos:
http://drop.io

www.flickr.com/help/guestpass/

Suchmaschine ohne Gedächtnis:
http://ask.com

Homepage von Viktor Mayer-Schönberger:
www.vmsweb.net

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.03.2010)

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