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"Sarkozy hat keine Vision"

Und Hollande keine Träume: Der Philosoph Pierre Zaoui über Frankreich vor der Wahl, die Integration seiner jüdischen Familie und den wachsenden Hass auf die Hassprediger

Der Philosoph Pierre Zaoui ist Franzose algerisch-jüdischer Abstammung. Geboren im Symboljahr 1968, der Sternstunde der Meisterdenker wie Foucault und Deleuze, gehört er zu einer Generation, die neue Wege des Denkens sucht. Zaoui lehrt an der Universität Paris Diderot.

Die Welt:

Herr Zaoui, Ihre Eltern stammen aus Algerien.

Pierre Zaoui:

Sephardische Juden, vollkommen atheistisch, die während des Algerienkriegs nach Frankreich auswanderten. Nach Paris kam ich erst Ende der Achtzigerjahre zum Studium.

Fühlen Sie sich integriert?

Das Wort Integration kann ich nicht leiden. Meine Eltern verstanden sich als radikale französische Republikaner, algerische Juden besaßen ja seit Generationen die französische Staatsbürgerschaft. Allerdings blieben sie, als sie hier ankamen, arabisch geprägt. Aber sie wollten sich um jeden Preis französisch fühlen. Mich nannten sie Pierre, meine Schwester Marie-Hélène. Unbedingte Assimilation. In meiner Schulzeit erlebte ich den üblichen Rassismus, weil ich arabisch aussehe und zugleich Jude bin. Später, im intellektuellen Milieu, spielte das alles keine Rolle mehr. Das Wort Integration kann ich im Grunde nicht leiden.

Ein Wort, das diesen Wahlkampf prägt wie kaum ein anderes.

Dank Nicolas Sarkozy, der 2012 auf die Pferde von Marine Le Pen setzt. Im Jahr 2007 war das noch nicht so. Er setzte sich wie kein Politiker zuvor für die Integration ein, indem er etwa die arabischstämmige Rachida Dati in die Regierung berief und drei weiteren Immigranten hohe Staatsposten gab. Kein Sozialist hatte das je gewagt. Aber heute ist keiner der damals mutig Aufgenommenen mehr im Amt. Und vom einstigen Equilibrium ist auch nichts mehr zu spüren. Sarkozy wird die Wahlen verlieren.

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Sind Sie da so sicher?

Da gibt es gar keinen Zweifel! Angela Merkel ist die einzige, die noch an einen Sieg Nicolas Sarkozys glaubt. Dass er verlieren wird, sage ich nicht, weil die Umfragen schlecht für ihn aussehen. Sondern weil er die Brücken zur Mitte gekappt hat, zu jenen im Lande, die humanistische Ideale hochhalten. Heute führt Sarkozy die rechtslastigste Kampagne der Nachkriegszeit. Das fing mit der Vertreibung der Roma vor zwei Jahren an. Nun wird die Ausweisung aller nicht-europäischen Ausländer mit Vehemenz betrieben. Es ist zum Weinen. Wir sehen die Auswirkungen sogar an der Universität Paris VII. Auch einer Soziologiestudentin aus Québec drohte man mit Abschiebung, hätten wir nicht protestiert, wäre sie nicht mehr in Frankreich.

Aber dann dürfte Sarkozy ja im zweiten Wahlgang von den Le-Pen-Wählern profitieren?

So funktioniert das nicht. Höchstens 55 Prozent der Le-Pen-Wähler geben der gemäßigten Rechten ihr Votum. Das war nie anders. Bis 20 Prozent der Le-Pen-Stimmen kommen der Linken zugute.

Also steht uns eine zweite Französische Revolution bevor?

Mit François Hollande als Präsident? Nein! Keine Spur. Hollande ist - nicht unähnlich seinem einstigen Mentor Mitterrand - ein purer sozialistischer Aparatschik. Kein großer Politiker, sondern ein extrem moderater Sozialdemokrat der alten Schule. Hollande ist einfach das kleinere Übel. Der bevorstehenden Wahl kommt im Grunde keine sehr große Bedeutung zu. Höchstens dann, wenn Sarkozy wiedergewählt werden würde.

Eben sagten Sie doch, das könne nicht passieren.

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Nichts ist unmöglich - aber ich halte es für ausgeschlossen. Es gibt einen Unsicherheitsfaktor: das Phänomen Mélenchon. Der Kandidat der Linken Front hat in den letzten Monaten wie kein anderer Politiker von sich reden gemacht und wird im ersten Wahlgang sehr wahrscheinlich Dritter. Kann sein, dass der Sozialist Hollande ihm zwischen den zwei Wahlgängen Versprechungen machen, ihm sogar einen Ministerposten in Aussicht stellen wird. Ich könnte nie Mélenchon wählen, denn er ist ein ausgemachter Nationalist: Frankreich über alles in der Welt. Er hat sich vor einigen Jahren sogar dafür stark gemacht, der französischsprachige Teil Belgiens sollte der Grande Nation einverleibt werden. Ein wahrer Bonapartist! Für das krisengeschüttelte Europa wäre ein Eintritt Mélenchons in die Regierung äußerst problematisch, gar beunruhigend.

Hollande wirkt nicht unbedingt sehr präsidentiell.

Die Alten mögen ihn. Das spricht nicht unbedingt für ihn, sagt eher etwas über sein nicht vorhandenes Charisma aus. Große Charismatiker waren im Lauf der Geschichte allerdings eher Tyrannen als gute Demokraten. Träumen macht er uns wahrlich nicht. Aber im Ernst: Die Präsidentschaft unter Hollande wird sicher keine Katastrophe für Frankreich. Nicolas Sarkozy hingegen war eine Katastrophe. Ein fünf Jahre währender Niedergang auf allen Ebenen. Sei es in Bezug auf die Einwanderungspolitik, sei es in Fragen der Wirtschaft, der sozialen Frage, der Staatsverschuldung. Man sagt doch: die Rechten sind wenigstens gut für die Wirtschaft, haben das Budget fest in der Hand. Das ist ein Mythos. Sarkozy hat absolut keine politische Vision. Er regiert von Tag zu Tag, ohne Konzept. Die Katastrophe von Toulouse, Mohammed Merahs Wahnsinnstat, damit wusste er gut umzugehen.

Was würde sich unter einem Präsidenten Hollande verändern?

Das staatliche Bildungswesen wird sich ändern, der unerträgliche Abbau von Lehrstellen aufhören. Das abwegige Steuerwesen wird einer großen Reform unterzogen werden, man wird ernsthaft versuchen, die Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen. Und die Gesetzgebung in Sachen Immigration wird sich ebenfalls drastisch ändern - die unerträglichen Abschiebungen, die den Staat nur Unsummen Geld kosten und ohnehin nichts bringen, werden aufhören. Fast siebzig Prozent der Ausgewiesenen strömen nach kurzer Zeit wieder illegal ins Land zurück. Dabei geht es um rund dreißigtausend Menschen, also um einen verschwindend kleinen Prozentsatz innerhalb einer Bevölkerung von fünfundsechzig Millionen Einwohnern.

Haben Sie als Philosoph einen anderen Blick auf die Politik?

Die Epoche der großen Philosophen wie Sartre, Deleuze, Foucault, ist definitiv vorbei. Es gibt keine absoluten Denkmodelle mehr, von denen abzuweichen undenkbar wäre. Heute hat jeder Philosoph seine Berechtigung, und er zwingt niemandem mehr seine Meinung auf, eine Meinung, die selten starr bleibt.

Wie sieht Ihr persönlicher Dialog mit muslimischen Intellektuellen aus?

Es gibt ein Problem, das sich nicht leugnen lässt: Mehr denn je wird die muslimische Gemeinde in Frankreich ausgegrenzt, sie wirkt verloren. Ich habe nicht viele muslimische Freunde, meist algerischer Abstammung, und die sind so aufgebracht, dass sie am liebsten sowohl die radikalen Imame als auch deren Gefolgsleute an die Wand stellen würden. Ich reagiere schockiert, wenn diese Freunde sagen: Wir müssen endlich radikal Schluss machen mit dem radikalen Islam! Kein Mitleid mit den Vollbärtigen! Dass Mohammed Merah getötet wurde, ist diesen Intellektuellen absolut recht.

Glauben Sie nicht, dass die Art, wie Sarkozy mit dieser Krise umgegangen ist, ihm bei den Wahlen helfen wird?

Das hat nicht viel Bewegung in die Umfragen gebracht. Im Moment scheint das einzig Positive an der Affäre Merah der Umstand zu sein, dass sie politisch folgenlos blieb. Merah ist ja auch, Gott sei Dank, ein extremer Einzelfall. So etwas wiederholt sich nicht so schnell. Und kommt, anderseits, nicht nur im Zusammenhang mit arabisch-muslimischem Gedankengut vor, wenn sie an den norwegischen Täter Breivik denken.

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