Fast eine Million Artikel stehen im deutschen Ableger der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Täglich kommen etwa 500 Lexikoneinträge dazu. Doch nicht jede neue Wortmeldung hat in dem Wissensforum Bestand. Seit die vormals als basisdemokratisch und freidenkerisch geltende Plattform verstärkt auf Seriosität bedacht ist und Kontrollinstanzen einsetzt, ist es wiederholt zur Löschung ganzer Artikel gekommen. Jüngstes Beispiel: die Streichung eines Beitrags über den Verein „Missbrauchsopfer Gegen Internetsperren“ (Mogis).
Die Rostocker Vereinigung wurde im Mai dieses Jahres bundesweit bekannt, als sie sich in die Diskussion um eine gesetzliche Neuregelung der Sperrung pädophiler Netzseiten einschaltete. Anscheinend aber nicht bekannt genug, um den strenger gewordenen Auslesekriterien von Wikipedia zu genügen. Ein Beitrag, in dem Vereinsgründer Christian Bahls, Mathematiker und Missbrauchopfer, die Arbeit von Mogis darstellte, wurde von Wikipedia-Administratoren gelöscht. Begründung: Der Verein sei nicht relevant genug.
Seit dem Vorfall wird auf den Diskussionsseiten des Online-Lexikons darüber gestritten, woran sich Bedeutsamkeit bemisst. Das ist eine wichtige und überfällige Debatte. Zum einen, weil der frühere Tummelplatz für Spaßguerilleros randständigen Unterhaltungsphänomenen noch immer ähnlich viel Platz einräumt wie Artikeln zu politischen und wissenschaftlichen Themen.
Zum anderen, weil der Disput über die Eliminierung des Beitrags deutlich macht, vor welcher Zerreißprobe Wikipedia steht: Da gibt es einerseits gewachsene qualitative Ansprüche an ein Forum, das sich im Wettbewerb mit anderen Print- und Online-Lexika behaupten und daher als verlässlich empfehlen muss. Und da sind andererseits willkürliche Interventionen bezüglich missliebiger Inhalte.
Soll der Geruch einer Anarcho-Plattform abgewendet werden, muss Wikipedia sowohl transparenter als auch effektiver agieren. Dazu gehört ein klar konturierter Kriterienkatalog. Philosophische Grundlage für diese Aufgabe könnte die für Administratoren verpflichtende Lektüre von Thomas Glavinic' Roman „Das bin doch ich“ sein.
Darin behauptet ein Ich-Erzähler namens Thomas Glavinic, er habe einen Wikipedia-Eintrag über sich angelegt, wobei er sein Geburtsdatum absichtlich falsch geschrieben habe, „um sich nicht in den Verdacht zu bringen, sich selbst eingetragen zu haben“. Erst wenn Wikipedianern dieser subtile Zusammenhang zwischen Realität und Fiktion klar ist, sollte es ihnen erlaubt sein, sich an Urteile über Relevanz zu wagen.