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Literatur

Elf Tage im Februar

München 1970: Eine Serie antisemitischer Anschläge erschüttert das Land, die Täter werden nie ermittelt. Erst heute, 40 Jahre später, kommt Bewegung in den Fall

Es war ein kalter, aber schöner Tag. In München lag Schnee und die Sonne schien. Doch der Eindruck eines lichten Wintertages trog. In Wirklichkeit war der 18. Februar 1970 ein düsterer, äußerst bedrückender Tag. Nicht grundlos sprach Oberbürgermeister Vogel davon, dass über der Stadt „dunkle Schatten“ lägen. Er hatte Trauerbeflaggung für alle staatlichen Gebäude angeordnet. In München waren acht Juden ermordet worden. Das sagte niemand so, aber es war so.

An diesem Tag kamen in der Aussegnungshalle des Israelitischen Friedhofs an der Ungererstraße Hunderte von Menschen zusammen, die der Opfer gedenken wollten, die zwei Terroranschläge in der Woche zuvor gekostet hatten. Begonnen hatte es am 10. Februar, dem letzten Faschingstag. Bei dem Versuch dreier palästinensischer Terroristen, auf dem Flughafen Riem eine El-Al-Maschine zu entführen, war ein Handgemenge entstanden. Handgranaten flogen, Schüsse fielen. Ein Israeli, Sohn eines vor den Nazis aus Deutschland geflohenen Juden, kam ums Leben, elf weitere Passagiere, darunter eine berühmte Schauspielerin, wurden schwer verletzt. Drei Tage später war es weitergegangen.

In dem in der Reichenbachstraße gelegenen Gemeindehaus der Israelitischen Kultusgemeinde war kurz nach Beginn des Sabbats gegen neun Uhr abends ein Feuer ausgebrochen. Ein Unbekannter war mit dem Fahrstuhl nach oben gefahren und hatte im hölzernen Treppenhaus Stockwerk für Stockwerk einen Aral-Kanister geleert und, wieder im Eingangsbereich angekommen, das Öl-Benzingemisch angezündet. Die Flammen breiteten sich in rasender Geschwindigkeit aus; im Nu war eine Sogwirkung wie in einem Kamin entstanden. Die Eingeschlossenen hatten kaum eine Chance. Einer rief in Todesangst aus einem der Fenster: „Wir werden vergast!“ Bei dem Brandanschlag wurden sieben ältere Menschen, allesamt NS-Überlebende, getötet und 15 verletzt.

Vier Tage später rückte erneut der Riemer Flughafen ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Drei Palästinenser, die in einer jugoslawischen Maschine wegen ihrer ausgebeulten Manteltaschen das Misstrauen des Kapitäns ausgelöst hatten, waren vom Bundesgrenzschutz verhaftet worden. Auch sie wollten eine El-Al-Maschine entführen. Einen Tag später fand die Trauerfeier für die Opfer des Brandanschlags und der gescheiterten Flugzeugentführung statt. Wie bedeutsam dieser Akt war, ließ sich schon daran erkennen, dass an ihm auch Bundespräsident Heinemann teilnahm. Die wichtigste Rede hielt Innenminister Hans-Dietrich Genscher. Es war eine der eindrucksvollsten Ansprachen, die ein Bundespolitiker bis dahin gehalten hatte. Und es war eine Art öffentlichen Gelöbnisses für die in der Bundesrepublik lebenden Juden. Genscher erklärte: „Das deutsche Volk wird niemals mehr zulassen, dass auf seinem Gebiet Gewalt und Terror regieren. Es wird niemals mehr zulassen, dass bestimmte Gruppen außerhalb der Gesellschaft von Menschen gestellt werden. Sie alle, die Sie heute hier sind, sind Zeugen dieses Versprechens.“ Das war ein Wort. Gegeben vom Innenminister persönlich. Von nun an stand der Staat selbst im Wort.

Doch das, was sich am 10. und am 13. Februar abgespielt hatte, war immer noch nicht alles, was diese Wintertage an Schreckensmeldungen zu bieten hatten. Einige Tage später verlagerten sich die terroristischen Aktivitäten um einige hundert Kilometer an zwei andere Orte. Im Frachtraum einer Maschine der „Austrian Airlines“, die sich auf dem Flug von Frankfurt nach Wien befand, um von dort nach Tel Aviv zu fliegen, riss am Vormittag des 21. Februar eine Explosion ein Loch in den Bug. Dem Piloten gelang es gerade noch, auf dem Rhein-Main-Flughafen notzulanden.

Zwei Stunden später startete vom Flughafen Kloten bei Zürich eine weitere Maschine in Richtung Tel Aviv. Auch die Coronado der „Swissair“ hatte eine Bombe an Bord. Sie explodierte ebenfalls nach Erreichen einer bestimmten Flughöhe. Wieder versuchte der Flugkapitän die Notlandung einzuleiten. Doch es war zu spät. Das Feuer breitete sichaus, im Cockpit verhinderte dichter Qualm eine kontrollierte Steuerung. Das Flugzeug stürzte nur wenige hundert Meter vom schweizerischen Atomreaktor Würenlingen entfernt ab. Dabei kamen alle Passagiere und Besatzungsmitglieder ums Leben, insgesamt 47 Menschen. Ihre Körper wurden so sehr zerstückelt, dass eine Identifikation der Opfer nicht mehr gelang. Es war das erste Mal in der Geschichte des Terrorismus, dass ein Zivilflugzeug mit einer Bombe vom Himmel geholt worden war.

Die Sprengstoffpakete, die die Explosionen verursacht hatten, waren an Scheinadressen in Jerusalem adressiert und am 20. Februar auf Postämtern in Frankfurt und München aufgegeben worden. Dahinter steckte eine Kommandogruppe der Palästinenser. Ihr Kopf hatte die Verbrechen von München aus organisiert und sich mit seinem Auto in Richtung Jordanien absetzen können.

Eine derartige Serie von Terroranschlägen hatte es mitten in Europa zuvor noch nicht gegeben. Insbesondere Israel und die Jüdischen Gemeinden waren tief verunsichert. Hans Lamm, der kurz darauf sein Amt als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde antrat, kommentierte die Schreckensmeldungen mit den Worten: „Kein Ereignis der 25 Nachkriegsjahre hat sie so sehr erschüttert und ergriffen: keine Friedhofsschändung und nicht die Kölner Ereignisse von 1959, kein Prozess und kein antisemitischer Skandal.“ Nicht wenige ihrer Mitglieder dachten unweigerlich, nun ginge alles wieder von vorne los.

Noch etwas anderes beunruhigte sie. Im Laufe dieser Tage hatte sich in der bayerischen Landeshauptstadt eine bis dahin unbekannte Untergrundgruppierung zu Wort gemeldet. Am 20. Februar traf im Münchner dpa-Büro ein Drohbrief ein, der sich gegen Richter und Staatsanwälte richtete. Unterzeichnet war das Papier, in dem Freiheit für einen ehemaligen, wegen Fahnenflucht zu einer mehrmonatigen Gefängnisstrafe verurteilten Kommunarden gefordert wurde, mit den in einem fünfzackigen Stern montierten Initialen „TM“. In der Nacht vom 22. zum 23. Februar warfen Unbekannte Molotow-Cocktails in das Wohnzimmer jenes Amtsgerichtsrats, der den APO-Aktivisten verurteilt hatte. Der Schaden blieb zwar begrenzt, die Gefahr jedoch war erheblich. Erst Passanten, die den Feuerschein entdeckten, gelang es, den schlafenden Juristen zu alarmieren und Schlimmeres abzuwenden.

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Nicht nur die zeitliche Koinzidenz zwischen den im Laufe von noch nicht einmal zwei Wochen begangenen Anschlägen rief die Ermittler auf den Plan. Die Initialen „TM“ standen für „Tupamaros München“. Bei der Gruppe handelte es sich um eine Schwesterorganisation der „TW“, den „Tupamaros West-Berlin“, die seit einem Vierteljahr die Berliner Polizei mit einer Serie von Anschlägen in Atem hielten. Als ihr Kopf galt der untergetauchte Ex-Kommunarde Dieter Kunzelmann. Und als Anführer der „TM“ ein anderes Mitglied der einstigen „Kommune I“, dessen publizitätsträchtiger Gefährte Fritz Teufel. Sollte es etwa einen Zusammenhang zwischen den Aktionen der Palästinenser, dem Brandanschlag auf das Israelitische Gemeindehaus und den Anschlägen der „Tupamaro“-Ableger gegeben haben?

Zumindest einen Zeitzeugen gab es, der eine solche Verbindung für gegeben hielt. Es war mit Heinz Galinski der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin. In einem Kommentar schrieb er, dass sich „die drohende Zuspitzung“ bereits im Vorjahr in Charlottenburg angekündigt hätte. Während einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der sogenannten „Reichskristallnacht“ hatten die dortigen „Tupamaros“ eine Bombe in das Gemeindehaus in der Charlottenburger Fasanenstraße gelegt. Gerade weil sie nicht hochgegangen war, sah Galinski darin die Antizipation des am 13. Februar verübten Mordanschlags in der Münchner Reichenbachstraße. Seiner Einschätzung nach schien im zweiten Anlauf den Attentätern das offenbar „gelungen“ zu sein, was sie bereits drei Monate zuvor im Schilde geführt hatten.

Im April 1970 meldete sich nun jener Mann zu Wort, von dem seit 2005 bekannt ist, dass er es war, der hinter dem Berliner Bombenanschlag stand. In einer Ausgabe der linken Subkultur-Zeitung „Agit 883“ erschien ein von Kunzelmann verfasster „Brief aus Amman“. Wie ein erster, ein halbes Jahr zuvor veröffentlichter war er jedoch nicht in Jordanien, sondern im Berliner Untergrund verfasst worden. Wann beginne endlich, appellierte er darin an seine Leser, „der organisierte Kampf gegen die heilige Kuh Israel“? Palästinensische „Todeskommandos“ wie das auf dem Flughafen München-Riem müssten „durch besser organisierte zielgerichtetere“ ersetzt werden – durch deutsche Guerillakommandos.

Kunzelmann ließ es sich zudem nicht nehmen, den heimtückischen Brandanschlag auf das israelitische Gemeindehaus in der Reichenbachstraße zu kommentieren. Er versuchte, den Juden selbst die Schuld an der Mordaktion in die Schuhe zu schieben, und behauptete, dass „Zionisten“ hinter dieser Schreckenstat stünden. Das Motiv für „das zionistische Massaker“ bestünde darin, dass sie damit unter den in Deutschland lebenden Juden Angst und Schrecken verbreiten wollten, um sie zur Emigration nach Israel zu drängen.

Die Urheber dieses Mordanschlags konnten trotz der höchsten bis dahin ausgesetzten Belohnung in der Kriminalgeschichte der Bundesrepublik nicht ermittelt werden. In diesem Zusammenhang war auch nach dem untergetauchten Teufel gefahndet worden. Am 12. Juni 1970 wurde er schließlich wegen des Verdachts, an diversen Brandanschlägen beteiligt gewesen zu sein, in Schwabing verhaftet. Kunzelmann ging am 19. Juli in West-Berlin Zivilbeamten ins Netz, als er am Flughafen auf seine aus Amman eintreffende Gefährtin Ina Siepmann wartete. Sie hatte dort mit den Guerilleros der Fatah kooperiert und war so etwas wie die Residentin der „Tupamaros“ bei den Palästinensern.

In Kunzelmanns Unterschlupf fand die Polizei zahllose Unterlagen – Briefe, Notizen und ein Tagebuch. Aus ihnen gingen nicht nur Kontakte mit den Palästinensern hervor, sondern auch Überlegungen zum Ausspähen von Flughäfen. In einem von Georg von Rauch, einem weiteren Mitglied der „Tupamaros“, verfassten, 36 Seiten starken Papier fanden sich darüber hinaus Planungen für Anschläge auf die Münchner Olympiade.

Je näher die XX. Olympischen Spiele dann rückten, umso mehr schien alles, was sich im Februar 1970 abgespielt hatte, vergessen zu sein. Die Monate vor der Eröffnung waren von Hektik und Vorfreude geprägt. Die Organisatoren schienen sich einig darin, einen Gegenentwurf zur Nazi-Olympiade von 1936 und damit ein anderes Deutschland präsentieren zu wollen, eines das aus der Vergangenheit gelernt hatte. Nichts und niemand erinnerte noch daran, was sich zweieinhalb Jahre zuvor abgespielt hatte. Weder die Münchner, weder die Bayern noch die Vertreter des Bundes, aber auch die Israelis nicht.

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Dann geschah, womit – bis auf einen Psychologen – keiner gerechnet hatte. Die israelischen Sportler wurden von einem Kommando der Palästinenser überfallen und als Geiseln genommen. Als sich zwei Israelis zu wehren versuchten, wurden sie erschossen. In den Stunden danach begannen Verhandlungen mit dem Sprecher der Geiselnehmer.

Wer kennt sie nicht, die Aufnahmen, auf denen zu sehen ist, wie in der Connollystraße des Olympischen Dorfes der Anführer der Geiselnehmer mit den Deutschen verhandelt hat? Es waren der bayerische Innenminister Bruno Merk, der Münchner Polizeipräsident Manfred Schreiber und Bundesinnenminister Genscher, jene beiden Politiker und jener Polizeichef, die zweieinhalb Jahre zuvor zum Flughafen Riem sowie zur Brandstätte in der Reichenbachstraße gerufen worden waren und die auch an der Trauerfeier in der Ungererstraße teilgenommen hatten. Wird einem von ihnen bewusst gewesen sein, dass sie es eigentlich hätten besser wissen müssen? Schließlich hatten sie hautnah miterlebt, welchen Anschlägen Israelis und Juden bereits zuvor ausgesetzt waren. Sie hatten am 10. Februar die Blutlachen in der Abfertigungshalle gesehen und wenige Tage später das ausgebrannte Treppenhaus des Israelitischen Gemeindehauses, in dem sieben Holocaust-Überlebende umgekommen waren.

Jeder weiß, was anschließend in der Nacht vom 5. auf dem 6. September 1972 am Fliegerhorst der Bundesluftwaffe in Fürstenfeldbruck geschehen ist. Auch dort waren Merk, Schreiber und Genscher unmittelbar vor Ort. Sie waren nicht nur Zeugen des Desasters, das zum Tod aller Geiseln geführt hatte, sie waren auch die Hauptverantwortlichen dafür, dass dies überhaupt hatte geschehen können. Wird sich Genscher in dieser Situation oder in den Tagen darauf noch daran erinnert haben, was er den Angehörigen der jüdischen Opfer erklärt hatte? Er hatte das Versprechen nicht einlösen können. Es hatte keinen Schutz für die erneut Bedrohten gegeben.

Die elf Tage, die im Februar 1970 nicht nur München, sondern ein ganzes Land erschütterten, hätten ein Menetekel sein müssen. Doch die Schrift an der Wand war von niemandem gelesen worden. Die Politiker wollten sich nicht erinnern, die Polizisten nicht, die Juristen nicht, die Journalisten nicht und auch die Bevölkerung nicht. Es war wie eine einzige große Amnesie.

Diese Geschichte liegt nun schon weit über vierzig Jahre zurück. Doch sie ist längst noch nicht zu Ende. Wer sich eingehend mit den Ermittlungsakten befasst, dem drängt sich der Eindruck auf: Einige der Schuldigen für den Mordanschlag in der Reichenbachstraße, für das schlimmste nach 1945 in Deutschland begangene antisemitische Verbrechen, leben mitten unter uns. Sie dürften nur zu genau wissen, was geschehen würde, wenn einer von ihnen auszupacken begänne und endlich darüber redete, wie es zu dem Brand überhaupt kommen konnte. Die Münchner Kriminalpolizei hatte damals nichts unversucht gelassen, um die Täter zu fassen. Vergeblich. Es hatte ein paar Festnahmen gegeben, die Indizien reichten jedoch nicht aus, um auch nur gegen einen Einzigen Anklage zu erheben. Vor zwei Monaten hat die ARD nun einen Aufsehen erregenden Dokumentarfilm namens “München 1970" gezeigt, in dem die Zusammenhänge einem größeren Publikum in Grundrissen vor Augen geführt worden sind. Seitdem soll in bestimmten Kreisen Nervosität ausgebrochen sein. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob sich nach so langer Zeit doch noch etwas tut und es für die jüdischen Opfer zumindest ein spätes Zeichen der Gerechtigkeit geben wird.

Wolfgang Kraushaar hat sich als Historiker der Protestbewegung einen Namen gemacht. 2008 erschien sein Buch „Achtundsechzig“. Sein bereits angekündigtes Buch „München 1970: Die Anschlagsserie im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1972“ hat sein Verlag ohne Kommentar zurückgezogen. Nun erscheint es bei Rowohlt im Frühjahr.

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