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WYHL Lichter aus

Das Kernkraftwerk Wyhl darf, nach über zehnjährigem Rechtsstreit, jetzt gebaut werden - doch es fehlt an Bedarf. *
aus DER SPIEGEL 1/1986

Im griesgrauen Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts zu Berlin bescherten, am Donnerstag vor Weihnachten, die rotgewandeten Richter des 7. Senats der westdeutschen Atombranche eine Entscheidung von nationaler Dimension: Die Klagen gegen das geplante Kernkraftwerk im südbadischen Wyhl wurden abgewiesen, mit dem Bau des umstrittenen Strommeilers darf begonnen werden.

Die Entscheidung ist ein politischer Erfolg für die Kraftwerksplaner der baden-württembergischen Landesregierung: Die erste Teilerrichtungsgenehmigung verletze keine Rechte der Kläger, die Behörden hätten eine »genügende« Risikovorsorge getroffen. Absolute Sicherheit gegen das von den Klägern befürchtete Bersten des Reaktorgefäßes, wie sie 1977 das Freiburger Verwaltungsgericht gefordert hatte, gebe es nicht; das Ereignis sei im übrigen so unwahrscheinlich, daß es »praktisch ausgeschlossen« werden könne.

Trost für die Kläger: Die nunmehr rechtmäßige Genehmigung ist kein Vorbescheid, mit dem das gesamte Kernkraftwerk genehmigt wurde - gegen jeden weiteren Verfahrensschritt kann, wieder durch alle Instanzen, geklagt werden.

Mit dem Berliner Richterspruch hat ein zäher Rechtsstreit sein zumindest vorläufiges Ende gefunden, der über zehn Jahre andauerte und der wie kaum ein anderer in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte einen Teil der Bevölkerung erregte wie politisierte.

Zwar gab es Proteste und Klagen zuvor schon gegen andere Atomkraftwerke, doch Wyhl erst schaffte eine neue Qualität kontra Kernkraft. Der Kampf gegen die Stromfabrik wurde zum Musterfall der Bürgerwehr gegen industrielle Großanlagen.

In Wyhl begann, was sich später, etwa in Brokdorf und Kalkar, in Gorleben und jetzt wieder in Wackersdorf, zuspitzte: die mitunter militant ausgetragene Kontroverse um Sinn und Nutzen der Kernenergie, ebenso der ideologiebefrachtete Streit um kurzfristigen Strombedarf und atomare Risiken bis in alle Ewigkeit.

Dabei gewann der Standort für den projektierten 1300-Megawatt-Meiler, 1973 von der baden-württembergischen Landesregierung und der Betreiberfirma »Kernkraftwerk Süd« zwischen den Rebhängen des Kaiserstuhls und der Oberrheinebene ausgeguckt, rasch Symbolwert für die Anti-Atombewegung: »Kein Atomkraftwerk in Wyhl - und anderswo« lautete die Parole des Widerstands, der sich fortan in der ganzen Republik ausbreitete und gelegentlich mehr als 100000 Protestler gegen geplante Atomanlagen mobilisierte.

Durch den Streit um Wyhl sahen sich die Bonner Parteien genötigt, ihre Energiepolitik zu überdenken und zumindest teilweise neu zu formulieren. Mit dem Widerstand in Wyhl entstand die größte westdeutsche Protestbewegung, die bald mehr Mitglieder in ihren Reihen zählte als alle Bundestagsparteien zusammen.

Geradezu beispielhaft hatten die Bauern und Winzer am Kaiserstuhl vorexerziert, wie Widerstand gegen Entscheidungen aus Politik und Wirtschaft einfallsreich und erfolgreich organisiert werden kann. Acht Gemeinden, dreißig Bürgerinitiativen und zahlreiche Anwohner wehrten sich zunächst mit der Sammlung von Unterschriften und Flugblättern gegen diesen Kraftwerksbau.

Als die CDU-Landesregierung 1975 gleichwohl die erste Teilerrichtungsgenehmigung für Wyhl und die Erlaubnis zum sofortigen Baubeginn erteilte, kam es zur Kraftprobe: Tausende Bürger besetzten insgesamt neun Monate lang den Bauplatz, errichteten Barrikaden und gründeten eine »volksunmittelbare Volkshochschule« in einem rohgezimmerten »Freundschaftshaus«, in dem auch Politiker wie Lothar Späth (CDU) und Erhard Eppler (SPD) zur atomaren Debatte antraten.

Zugleich begann der ebenso lange wie wechselvolle Rechtsstreit. Dutzende von Gutachtern wurden gehört und Urteile, wie vom Verwaltungsgerichtshof in Mannheim, in Buchstärke (548 Seiten) verfaßt.

Was immer sich Stromfirmen und Landesregierungen einfallen ließen, um den Bürgerwiderstand zu unterlaufen - am Beispiel Wyhl wurde es praktiziert und von Gerichten wechselweise unterbunden oder toleriert.

Mal waren es mangelhafte oder fehlende Antragsunterlagen, die Richter einen Baustopp über Wyhl verhängen ließen; ein anderes Mal mußte ein sogenannter Berstschutz her, der die Kaiserstuhl-Anrainer vor einer Explosion des Atomkraftwerks und radioaktiver Verseuchung bewahren sollte. Und immer wieder ging es auch um die angebliche Stromknappheit, die nach Ansicht der CDU-Landesregierung und ihrer Strommänner das Wyhl-Werk unverzichtbar machte.

Wenn Wyhl nicht ganz schnell gebaut werde, drohte 1975 der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Hans Karl Filbinger, »dann gehen noch vor 1980 die Lichter aus«.

Die amtliche Angstmache Filbingers gilt Kernkraftgegnern seither als geflügeltes Wort, wenn es um offizielle Prognosen im Strombedarf geht: Filbinger ist lange weg, Wyhl immer noch nicht da - und Strom gibt's trotzdem im Überfluß.

Denn Blackout-Propheten vom Kaliber Filbingers gab es auch anderswo, und

Atommeiler wurden, ebenso wie Kohlekraftwerke, weiterhin errichtet. Zwar gingen weniger Kraftwerke als geplant ans Netz, doch die Überkapazität wuchs weiter. Von der installierten Kraftwerksleistung in Höhe von 81000 Megawatt werden zu Spitzenzeiten gerade 59000 Megawatt gebraucht. Der Rest, das sind umgerechnet 17 Kraftwerke von der Größe Wyhls, gilt als Reserve, die der Stromkunde auch ohne Bedarf mitbezahlen muß.

Daß Baden-Württemberg und die Stromfirma den Beschluß von Berlin nun nutzen, um in Wyhl das lange umkämpfte Kraftwerk zu bauen, ist schon deshalb unwahrscheinlich. Ministerpräsident Späth und die Energieversorger haben bereits erklärt, daß sie vor Mitte der neunziger Jahre keinerlei Bedarf für Wyhl erkennen könnten.

Ein Beschluß über den Bau des Kraftwerks am Kaiserstuhl, so der Ministerpräsident, werde zwar »eines Tages« fällig. Doch bis dahin könnten noch acht oder 14 Jahre vergehen. Wie die Entscheidung dann aussieht, sagt Späth »weiß ich noch nicht«.

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