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Kultur Tragikomödie

Wie Yasmina Reza virtuos die Leere umkreist

Corinna Harfouch (Nathalie Oppenheim) und Alexander Khuon (Roland Boulanger) in dem Theaterstück „Ihre Version des Spiels“ von Yasmina Reza, das in den Kammerspielen vom Deutschen Theater Berlin gezeigt wird Corinna Harfouch (Nathalie Oppenheim) und Alexander Khuon (Roland Boulanger) in dem Theaterstück „Ihre Version des Spiels“ von Yasmina Reza, das in den Kammerspielen vom Deutschen Theater Berlin gezeigt wird
Corinna Harfouch (Nathalie Oppenheim) und Alexander Khuon (Roland Boulanger) in dem Theaterstück „Ihre Version des Spiels“ von Yasmina Reza, das in den Kammerspielen vom Deutschen ...Theater Berlin gezeigt wird
Quelle: picture alliance / Eventpress Ho
Es ist die wichtigste Berliner Uraufführung der Saison: Mit „Ihre Version des Spiels“ wirft die Erfolgsautorin Yasmina Reza einen bitterbösen Blick auf die Abgründe des Literaturbetriebs.

Wir sind in einer so genannten Mehrweckhalle in der französischen Provinzstadt Vilan-en-Volène. Eigentlich aber in Berlin, in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Zu einer Dichterlesung und -befragung. Auch die Dichterin der Dichterin ist anwesend, sitzt jedoch mit uns gerade mal 120 Zuschauern auf der Bühne und begutachtet die Uraufführung des Stücks „Ihre Version des Spiels“.

Warum lässt Yasmina Reza, die erfolgreichste Dramatikerin der Gegenwart, ihre Werke mit Vorliebe in deutscher Sprache aus der Taufe heben – sei’s „Drei Mal Leben“ am Wiener Burgtheater, sei’s „Der Gott des Gemetzels“ am Zürcher Schauspielhaus?

Sie weiss eben, was sie will und braucht: beste Qualität der Regie und erstklassige Darsteller. Dafür bürgten einst die Namen Luc Bondy und Jürgen Gosch. Dafür bürgt von nun an auch Stephan Kimmig .

Spielen muss man selbst

Was in der Theorie mühsam erscheint, entwickelt in der Praxis ungeheure Sogkraft. Das Mühselige liegt in der für die Autorin charakteristischen Vertracktheit, dem vielfach Verschachtelten der Konstruktion. Wir sind nicht nur Publikum, wir haben es obendrein zu spielen. Freilich wird von uns Zumutbares verlangt: Aufmerksamkeit, weiter nichts.

Leer sind die Zuschauerreihen zu Beginn, leer sind auch die amphitheatralischen Ränge unterm hohen Bühnenturm: unser Aufenthaltsort für die kommenden 105 Minuten. Katja Haß hat bloss, wie im Text vorgesehen, drei Tischchen samt Stühlen und ein Stehpult hingestellt.

In der Mitte wird die Hauptperson Platz nehmen: die Schriftstellerin Nathalie Oppenheim, deren neuer Roman „Im Land des Überdrusses“ schon einen wichtigen Preis eingeheimst hat. Zur Linken ist die Journalistin Rosanna Ertel-Keval positioniert, zur Rechten der Moderator des Abends, der Bibliothekar Roland Boulanger, der mit literarischen Veranstaltungen ein wenig Metropolenglanz in sein Städtchen bringt.

Oppenheim als Opfer im Folterkammerspiel

Die Ertel-Keval, eine gefinkelte Interviewerin, hat sich gründlich vorbereitet, mit Auszügen aus Buch und Kritiken bewaffnet. Katrin Wichmanns Domina-Stiefel sollen zeigen, wer die Herrin der Mehrzweckhalle, wer hier der Star ist. Die Oppenheim ist ihr Opfer, ihr Spielmaterial im Folterkammerspiel. Im Grunde hasst Nathalie öffentliche Auftritte, das heute fast unverzichtbare Ritual, sich anfassen zu lassen, in Fleisch und Blut Rede und Antwort für Fantasie- und Sprachprodukte, also für Kunst zu stehen.

Corinna Harfouch ist schlicht und einfach überwältigend. Allein ihre Verlegenheit, ihre Fahrigkeit, die unzähligen winzigen Gesten des Unbehagens vom Fußscharren aufwärts faszinieren. Alles ist „gemacht“ und dennoch überlebenswahr, von vollendeter Natürlichkeit. Im Grunde kam sie nach Vilan-en-Volène, weil ihr der Literaturenthusiast Boulanger einen netten, herzlichen Einladungsbrief geschickt hat.

Und in der Tat: Alexander Khuon wirkt sehr sympathisch, eine buchstäblich rührende Gestalt. Er strahlt schüchterne Beflissenheit aus, platzt vor Begeisterungsfähigkeit aus sämtlichen Nähten. Im schnellstmöglichen Tempo spult er seine auswendig gelernten Floskeln herunter. Kein Wunder, dass er sich dabei verhaspelt, aus „fruchtlos“ der Schreckensbegriff „furchtbar“ wird. Solch Fehlleistung stammt nicht von Yasmina Reza, sie war ein Regie-Einfall.

Zeugen kultureller Erniedrigung

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An der vermeintlichen Petitesse offenbart sich die Präzisionsarbeit einer Inszenierung, die noch dem Schweigen Raum gibt. Was sie hinzu erfindet, ist signifikant und erhellend, lenkt nie vom Szenario ab. Dasselbe gilt für die Idee, auf eine Videoleinwand das Gesicht der lesenden Nathalie in Großaufnahme zu projizieren, in dem sich Qual und Abwehr spiegeln. Es befriedigt und beschämt unsere voyeuristischen Bedürfnisse zugleich. Mit Sigmund Freuds Verlaub gesagt, werden wir Zeugen der „allgemeinsten Erniedrigung“ nicht „des Liebeslebens“, sondern im Kulturleben.

Worum es sonst im „Land des Überdrusses“ geht? Die Protagonistin Gabrielle Gorne, selbst Schriftstellerin und Verfasserin des Bandes „Ihre Version des Spiels“, dessen Titel wiederum ein Zitat des amerikanischen Kollegen Michael Herr ist, bittet darin einen befreundeten Polizeibeamten, die Geliebte ihres Mannes zu beseitigen. Somit eine Art Thriller beziehungsweise „Ssriller“, wie die wühlmausig begabte Ertel-Keval messerscharf vermutet.

Indes würde auch eine ganz normale Liebesgeschichte ihre penetrante Schnüffelsucht wecken. Hartnäckig versucht sie, den autobiografischen Hintergrund von Nathalie Oppenheims Schreiben aufzudecken – Sätze, Motive und Handlungen der Figuren der Verfasserin zu unterschieben. Die bewiesene Deckungsgleichheit von Fiktion und Wirklichkeit wäre ihr journalistischer Triumph. Mit Zähnen und Klauen verteidigt Corinna Harfouchs Nathalie die Autonomie des Kunstwerks und damit die eigene. Nervosität kippt in aggressive Genervtheit, zumal da sich ihre nur scheinbar freundliche Nachbarin in sie gleichsam verbissen hat.

Mord und Totschlag in greifbarer Nähe

Ein bewährter Trick der Reza: Verbale Mückenstiche verwandeln Menschen in wutschnaubende Elefanten, die alles und jeden niedertrampeln müssen. Die Zivilisationsschminke der Kulturbürger zerbröckelt, dahinter blitzt die Fratze der Gewalt hervor, unser ebenso gern wie vergeblich verleugnetes atavistisches Erbe. Yasmina Rezas gemischtes Doppel – das Trio wird gegen Ende um den geschwätzigen Bürgermeister von Sven Lehmann zum üblichen Quartett erweitert – entpuppt sich als Kampfspiel in der Arena, Mord und Totschlag sind stets in greifbarer Nähe.

Aber, und das bedingt Yasmina Rezas Größe: Auf diesem Schlachtfeld blühen auch zartere Regungen. Es ist die erotische Anziehung zwischen Nathalie und Roland, die im abschließenden furiosen Besäufnis zu Gilbert Bécauds „Nathalie“ explodiert. Das letzte Wort, auch wenn es Rolands braven Gedichtlein entlehnt ist, hat naturgemäß Madame Oppenheim, die würdige Stellvertreterin ihrer Schöpferin. Es lautet: „gespielt“. Sie hat sich und jene, die sie ersann, gerächt.

Yasmina Rezas Tragikomödien erinnern an die Peer Gyntsche Zwiebel: Wer zum Kern vordringen möchte, der stößt auf verstörende Leere, auf das Nichts – der Genuss und die Kunstleistung stecken im bitter-süß-scharfen Aroma der Schalen. Beides ist exquisit.

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