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Warum Judith Butler den Adorno-Preis verdient hat

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Judith Butler, geboren 1956 in Cleveland, gilt als Mitbegründerin der Queer-Theorie, die sich mit dem Zusammenhang von biologischem Geschlecht, sozialen Geschlechterrollen und sexuellem Begehren beschäftigt Judith Butler, geboren 1956 in Cleveland, gilt als Mitbegründerin der Queer-Theorie, die sich mit dem Zusammenhang von biologischem Geschlecht, sozialen Geschlechterrollen und sexuellem Begehren beschäftigt
Judith Butler, geboren 1956 in Cleveland, gilt als Mitbegründerin der Queer-Theorie, die sich mit dem Zusammenhang von biologischem Geschlecht, sozialen Geschlechterrollen und sexu...ellem Begehren beschäftigt
Quelle: Christian Siekmeier
Wegen ihrer umstrittenen Äußerungen zu Israel, Hamas und Hisbollah gibt es Streit um die Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler. Dabei passen Adorno und Butler bestens zusammen. Im Schlechten.

Im Jahre 1900 erschien in der Verlagsbuchhandlung Carl Marhold in Halle an der Saale ein 23-seitiges Pamphlet eines bis dahin wenig bekannten Neurologen und Psychiaters namens Dr. Paul Julius Möbius: „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“. Möbius behauptete, Frauen hätten von Natur aus eine physiologisch bedingte geringere geistige Begabung als Männer.

Die Veröffentlichung kam zu einer Zeit, da in Deutschland über die Zulassung von Frauen zum Medizinstudium gestritten wurde. Entsprechend fielen die Reaktionen aus. Die einen feierten den Leipziger Privatgelehrten als mutigen Vordenker, die anderen verdammten ihn als verbohrten Ignoranten. Die kleine Schrift erreichte viele Auflagen und gilt bis heute als Musterbeispiel für wissenschaftlich verbrämten Unsinn.

Unsinn kommt nie aus der Mode

Über 100 Jahre, zwei Weltkriege und viele Revolutionen später haben sich die Parameter gründlich verschoben. Es gilt das allgemeine Wahlrecht, Frauen dienen in Polizei und Armee, sie boxen, spielen Fußball und fällen politische Entscheidungen von größter Tragweite. Wer heute „den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ zur Diskussion stellen würde, wäre nicht nur blamiert, er wäre erledigt.

Was freilich nicht bedeutet, dass wissenschaftlich verbrämter Unsinn aus der Mode gekommen wäre, im Gegenteil. Wie zur Zeit von Möbius findet jedes schräge Angebot ein dankbares Publikum, wenn es nur den Bedürfnissen der Klientel entgegenkommt. Egal, ob es sich um Ökostrom handelt, der aus der Steckdose fließt, während der Nachbar gegenüber Atomstrom bezieht, oder die These, „dass die Identifikation mit einem Geschlecht, also die Vorstellung, ein Mann oder eine Frau zu sein, eine elaborierte, von der Gesellschaft oktroyierte Fantasie ist – ein Konstrukt aus internalisierten Bildern und Diskursen also und keine von den Merkmalen des eigenen Körpers vorgegebene Kategorie“.

Männern bleibt das Kinderkriegen versagt

Mit diesen Worten bringt der Kulturkritiker Daniel Schreiber die Thesen der amerikanischen Philosophin Judith Butler auf eine griffige Formel. Eine Person ist nicht ein Mann oder eine Frau, die Person hat nur die „Vorstellung“, ein Mann oder eine Frau zu sein, und die ist eine „von der Gesellschaft“ aufgezwungene Fantasie. Das ist eine durchaus reizvolle philosophische Figur, der allerdings Erkenntnisse anderer wissenschaftlicher Disziplinen entgegenstehen – der Biologie, der Medizin und der Verhaltensforschung zum Beispiel. Ein Mann mag die Vorstellung genießen, eine Frau zu sein, das Menstruieren, das Kinderkriegen und die Menopause bleiben ihm dennoch versagt.

Theodor W. Adorno (1903 - 1969) war ein deutscher Philosoph und Soziologe. Neben vielem anderen war er, wie auch Max Horkheimer, Mitbegründer der Frankfurter Schule
Theodor W. Adorno (1903 - 1969) war ein deutscher Philosoph und Soziologe. Neben vielem anderen war er, wie auch Max Horkheimer, Mitbegründer der Frankfurter Schule
Quelle: dpa

Nun ist Judith Butler weder eine „Dragqueen“ noch ein „Dragking“, sondern Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaften und Rhetorik an der University of California in Berkeley und „eine maßgebliche Denkerin unserer Zeit“, wie es in der Entscheidung des Frankfurter Gremiums heißt, das ihr den mit 50.000 Euro dotierten Adorno-Preis, der an diesem Sonntag verliehen wird, zugesprochen hat. Seit sie 1990 das Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ veröffentlicht habe, schreibt die „taz“, gehöre sie „zu den führenden Gender- und Queer-Theoretikerinnen der Welt“.

Sie nannte Hamas und Hisbollah progressiv

Der Direktor der American Academy in Berlin, Gary Smith, ein anerkannter Walter-Benjamin-Experte, geht noch weiter. Er sagt, es gebe keinen amerikanischen Philosophen und keine Philosophin, der/die so „einflussreich“ wäre wie Butler. Wenn aber die Frage, wie „einflussreich“ eine Arbeit ist, ein Kriterium für die Bedeutung des Urhebers/der Urheberin sein soll, dann gehören „Mein Kampf“, „Das Kapital“ und „Dianetik“ von Ron Hubbard zu den einflussreichsten Werken aller Zeiten, während die Bergpredigt sich immer noch nicht in dem Maße durchgesetzt hat, wie sie es verdienen würde.

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Nun ist Butler im Zusammenhang mit der Verleihung des Adorno-Preises wegen einiger politischer Äußerungen zur Weltlage ins Gerede gekommen. So hat sie unter anderem die Hamas und die Hisbollah als „progressiv“ und „Teil der internationalen linken Bewegung“ bezeichnet und zu einem kulturellen und wirtschaftlichen Boykott Israels aufgerufen. Ihre Affinität zu Terrororganisationen rechtfertigt sie heute mit der „Notwendigkeit ..., Allianzen zu bilden, um die Armut zu bekämpfen“.

Butlers Haltung ist widersprüchlich

Auf Kritik reagierte die erzliberale Professorin aus Berkeley wie die Funktionärin einer kommunistischen Splittergruppe. Sie sprach von einer „Denunziation“, die das Ziel verfolge, jede Kritik an Israel „im Keim zu ersticken“. Denunziation bedeutet im Allgemeinen das Anschwärzen einer Person hinter ihrem Rücken und zu ihrem Schaden bei staatlichen Instanzen. Eine offen vorgetragene Kritik an politischen Positionen als „Denunziation“ zu bezeichnen zeugt von einem radikal-autoritären Verständnis vom Meinungskampf. Frau Butler darf die Hamas und die Hisbollah als „progressiv“ bezeichnen, ihr zu sagen, dass sie damit Terroristen adelt, ist dagegen „denunziatorisch“.

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Der in dieser Haltung liegende Widerspruch könnte damit erklärt werden, dass Judith Butler nicht nur extrem sensibel reagiert, wenn es um sie geht, sondern auch als Intellektuelle maßlos überschätzt wird. Sie habe, behaupten ihre Fans, die „kritische Theorie“ von Adorno und Horkheimer weiterentwickelt. Richard Herzinger hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die beiden Großdenker nicht durchweg die „Säulenheiligen“ waren, für die sie heute gehalten werden. In ihrem Hauptwerk, der „Dialektik der Aufklärung“ aus dem Jahre 1944, dekretierten sie „Aufklärung ist totalitär“ und „zogen gegen Kapitalismus, angelsächsischen Rationalismus und ‚Positivismus‘ ... sowie gegen die amerikanische ‚Kulturindustrie‘ vom Leder“.

Noch gibt es keinen Paul-Julius-Möbius-Preis

Vieles von dem, das Adorno und Horkheimer geschrieben haben, wirkt heute nicht nur angestaubt, sondern auch pompös und prätentiös. Adornos „Minima Moralia“, lange Zeit der philosophische Ratgeber für alle Lebenslagen, liest sich heute wie eine Sammlung von Sprüchen aus einem Fortune-Cookie: „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein“, „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Was, wenn doch?

Diesen moralischen Rigorismus, darüber zu verfügen, was für andere gut sein soll, pflegt auch Judith Butler. Insofern hat sie sich den Adorno-Preis redlich verdient. Solange es keinen Paul-Julius-Möbius-Preis gibt.

Am 15. September findet im Jüdischen Museum Berlin eine Podiumsdiskussion mit Judith Butler und Micha Brumlik zum Thema: „Gehört der Zionismus zum Judentum?“ statt.

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