EuGH-Richter über Google-Urteil: „Das Recht auf Privatheit überwiegt“

Das Urteil war kein Angriff auf die Pressefreiheit, sagt Koen Lenaerts, Vizepräsident des EU-Gerichtshofs. Das Gericht sei ein Schützer von Demokratie und Grundrechten.

Hier endet das Recht der Internetnutzer. Bild: dpa

taz: Herr Lenaerts, das Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofs hat viele begeistert, weil Sie ein großes Unternehmen in die Schranken verwiesen haben. Andere aber sehen eine Einschränkung der Pressefreiheit.

Koen Lenaerts: Da ist leider auch viel missverstanden worden. So geht es in dem Urteil zum Beispiel gar nicht um die Löschung von Inhalten in Pressearchiven oder anderen Quellen. Es geht nur um den Konflikt einer Privatperson mit einer Suchmaschine, hier Google. Wir haben entschieden: Eine Privatperson kann verlangen, dass bestimmte Inhalte in den Suchergebnissen zu ihrer Person nicht mehr auftauchen.

Geht es dabei nur um veraltete oder verleumderische Inhalte?

Im vorgelegten spanischen Fall ging es um überholte Informationen über eine Zwangsversteigerung aus dem Jahr 1998. Doch der Anspruch, Links aus Suchergebnissen zu entfernen, ist nicht auf veraltete oder rechtswidrige Informationen beschränkt. Grund ist vielmehr, dass Suchmaschinen die Bildung eines mehr oder weniger detaillierten Profils der Person ermöglichen.

Der spanische Kläger berief sich auf ein „Recht auf Vergessenwerden“. Gibt es nun ein solches Recht?

Der EuGH hat sich in seiner Begründung nicht auf ein solches Recht berufen. Wir haben kein neues Recht erfunden, das ist nicht die Aufgabe des Gerichtshofs. Wir haben vielmehr die EU-Datenschutz-Richtlinie ausgelegt. Danach ist eine Datenverarbeitung nur zulässig, wenn nicht die Interessen und Grundrechte der betroffenen Person vorgehen. Wir kamen zum Schluss, dass die wirtschaftlichen Interessen der Suchmaschinenbetreiber den Eingriff in das Recht des Betroffenen auf Privatleben und den Schutz der persönlichen Daten nicht rechtfertigen können.

Und was ist mit dem Recht der Internetnutzer auf Informationsfreiheit?

Es ist schon fraglich, ob sich ein Suchmaschinenbetreiber auf Rechte seiner Nutzer berufen kann. Aber wir haben entschieden, dass im Allgemeinen auch das Recht der Internetnutzer nicht das Recht der Betroffenen auf Privatheit und Datenschutz überwiegt.

Der 59-Jährige ist seit 2003 Richter am Europäischen Gerichtshof (EuGH), seit 2012 ist er dessen Vizepräsident. Ursprünglich war der Belgier Rechtsprofessor in Leuven.

Welche Rolle spielen Meinungs- und Pressefreiheit derjenigen, die die unerwünschte Information im Internet veröffentlicht haben?

Das war hier nicht zu entscheiden. Es ging um den Konflikt zwischen einer Privatperson und Google Spain. Die Zeitung, die einst die Information über die Zwangsversteigerung veröffentlicht hatte, war an diesem Streit nicht beteiligt und hat auch nicht Stellung genommen. Wir sagen im Google-Spain-Urteil nichts über Presseorgane.

Wenn Medien von solchen Löschungsanträgen nichts erfahren, können sie auch nicht Stellung nehmen oder vor Gericht gehen …

Nochmals: Die Rolle der Presseorgane war nicht Gegenstand der spanischen Vorlage. Wir sind nur an einem einzigen Punkt über die Vorlage hinausgegangen, um Missverständnisse zu vermeiden. So haben wir klargestellt, dass es andere Lösungen geben kann, wenn Personen einen Antrag stellen, die in der Öffentlichkeit herausgehoben sind. In solchen besonders gelagerten Fällen hat das Recht auf Privatheit nicht automatisch Vorrang, vielmehr ist eine offene Abwägung anzustellen.

Aber wann genau ist eine Person in der Öffentlichkeit herausgehoben?

Dazu mussten wir nichts sagen, weil der Kläger im vorgelegten Fall jedenfalls keine derartige Person war. Wir wollten nur andeuten, dass es auch andere Fälle mit anderen Lösungen geben kann. Mit dem Google-Spain-Urteil haben wir keine Türen geschlossen. Das ist ganz wichtig zu sehen.

Haben Sie nicht zu viele Fragen offengelassen? Sie enttäuschen die europäische Öffentlichkeit.

Ein Gerichtshof ist ein Gerichtshof und kein Gesetzgeber. Wir machen nicht Aussagen zu allem, was Sie oder andere für wichtig halten. Wir entscheiden nicht alle Varianten eines Falles, damit es gleich eine schöne Erläuterung eines ganzen Rechtsgebietes gibt. Nein, wir entscheiden von einem Fall zum nächsten und nur das, was für den jeweiligen Fall erforderlich ist. Nur dann gehen wir methodologisch sauber vor.

Mit dem Urteil zu Google und dem zur Vorratsdatenspeicherung hat der Europäische Gerichtshof in diesem Jahr schon für zwei Paukenschläge gesorgt. Wollen Sie in Europa eine ähnliche Rolle spielen wie das Bundesverfassungsgericht in Deutschland?

Der Gerichtshof hat gezeigt, dass ihm als Schützer der Demokratie und der Grundrechte vertraut werden kann. Er nimmt seine Aufgabe als Verfassungsgericht der EU wahr – neben allen anderen Rollen.

Welche Rollen hat der Europäische Gerichtshof noch?

Wir legen die EU-Richtlinien und -Verordnungen aus und sind damit auch das höchste Zivil-, Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits- und Sozialgericht der EU.

Wäre ein separates EU-Verfassungsgericht nicht effizienter?

Das deutsche Modell ist nicht das allein mögliche. Von 28 EU-Staaten haben nur 18 ein spezielles Verfassungsgericht. Bei den übrigen 10 EU-Staaten werden Verfassungsfragen vom obersten nationalen Gericht mit entschieden, etwa in den Niederlanden oder in Skandinavien. Oft lassen sich Verfassungsfragen und die Auslegung des EU-Rechts auch gar nicht einfach trennen.

Verdrängt der EuGH das Bundesverfassungsgericht?

Nein, wir haben unterschiedliche Aufgaben und schützen die Grundrechte arbeitsteilig. Der EuGH ist zuständig für den Grundrechtsschutz bei der Durchführung von EU-Recht. Sein Maßstab ist die EU-Grundrechtecharta. Und die Verfassungsgerichte der EU-Staaten sind für den Schutz gegenüber nationalem Recht zuständig. Ihr Maßstab sind die nationalen Verfassungen, zum Beispiel das deutsche Grundgesetz.

Und was gilt bei nationalem Recht, mit dem EU-Recht durchgeführt wird, wie bei der Vorratsdatenspeicherung?

Da gibt es teilweise zweifachen Grundrechtsschutz. Das Bundesverfassungsgericht hat 2010 das deutsche Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung beanstandet und der EuGH 2014 die zugrunde liegende EU-Richtlinie.

Sie haben vorhin das Verhältnismäßigkeitsprinzip erwähnt. Prüfen Sie die Zulässigkeit von Grundrechtseingriffen mit den gleichen Methoden wie das Bundesverfassungsgericht?

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit haben wir im Einklang mit der deutschen Verfassungsrechtsprechung ausgearbeitet. Allerdings gibt es im angelsächsischen Recht ein ähnliches Instrument, den less-restrictive-alternative-test.

Orientiert sich der EuGH vor allem am deutschen Recht?

Nein. Der EuGH arbeitet viel mit Rechtsvergleichung. Wenn wir einen Rechtsbegriff im EU-Recht auslegen, dann untersuchen wir zuerst, wie er in den 28 Rechtsordnungen ausgelegt wird …

und übernehmen die Variante, die Sie am häufigsten finden?

Natürlich nicht. Wir wählen die Variante, die den Zielen des EU-Rechts am besten entspricht – und die in anderen Mitgliedsstaaten nicht als schockierend und völlig unvernünftig empfunden wird. Es geht ja immer auch um die Akzeptanz einer Lösung.

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