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Literatur

Eine Reise in die Metropole des Todes

Der Historiker Dov Kulka hat sich bisher nur wissenschaftlich mit Auschwitz befasst. Nun steigt er selbst in die Schächte der Erinnerung

Es ist ein erstaunliches Buch, das Dov Kulka geschrieben hat, erstaunlich nicht nur für den Leser, sondern auch für den Autor selbst. Er durchwandert eine Landschaft, die zu betreten er sich lange verboten hat, und lesend erleben wir die Überraschung mit, die ihn dabei erfüllt.

Dov Kulka ist ein bekannter israelischer Historiker, sein Fachgebiet ist die jüdische Geschichte, sein Forschungsfeld die Nazizeit. Er hat die sogenannten Lageberichte entdeckt und erschlossen: das ausgeklügelte Meldesystem, mit dem die nationalsozialistische Diktatur die deutsche Öffentlichkeit beherrschte und ihre Reaktionen auf die radikalen Maßnahmen des Regimes registrierte. Wissenschaftlich durchleuchtete er die Peripherie des Grauens, doch das war, wie das neue Buch deutlich macht, auch ein Selbstschutz.

Im achtzigsten Lebensjahr durchstößt Kulka ihn jetzt und erzählt erstmals von seiner Kindheit in Auschwitz. „Nur wenige“, heißt es zu Beginn, „wissen von einer Dimension des Schweigens in mir, von der Entscheidung, die ich getroffen hatte, die biografische von der historischen Vergangenheit zu trennen.“ Später erfahren wir, wie tief, ja kompulsiv diese Trennung ist: „Im Grunde habe ich es immer vermieden und vermeide es bis zum heutigen Tag, irgendetwas Literarisches oder Künstlerisches zu lesen, das Auschwitz, die Konzentrationslager, dieses Kapitel der ‚Endlösung‘ beschreibt oder zu beschreiben versucht. Auch habe ich vermieden, Ausstellungen oder Museen zu besuchen.“

Wo es um die Shoa geht, hält Dov Kulka die Kunst und die Wissenschaft ein Leben lang auseinander. Denn zwangsläufig berührt die Kunst einen ihm unerträglichen Erlebnisgrund, vor dem er in die Wissenschaft ausweicht, und vielleicht ist es daher nur folgerichtig, dass sein in der erzwungenen Latenzzeit herangereiftes Buch zu Literatur wurde. „Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft“ heißt sein Untertitel: Hier, an ihren Grenzen, wachsen Kulkas Erinnerung und seine Vorstellungskraft zum Kunstwerk zusammen.

Nicht die objektiven Umstände der von ihm durchlebten Geschichte stehen im Mittelpunkt des Buches, sondern die subjektiven Umstände seines eigenen Lebens; und nicht nur seine Erinnerungen daran, sondern auch die Weise, wie er sie aus dem Vergessen geholt hat. Im Jahre 1978 fuhr er zu einem Historikerkongress nach Polen, an den organisierten Touren durch das Land aber nahm er nicht teil. Stattdessen fuhr er nach Auschwitz.

Für die letzte Strecke zum Lager nahm er ein Taxi. „Ich sprach Polnisch“, lesen wir, „zum Teil noch von damals. Wir fuhren an der Wisła entlang, der Fahrer erzählte von der Wisła zła, der bösen Wisła, die über die Ufer tritt.“ Und dann beschreibt Dov Kulka ein Gefühl: „Ich nehme nicht mehr auf, was er sagt. Ich nehme vielmehr diesen Weg auf. Ich kenne die Schilder. Diese Häuser. Und ich verstand etwas, worauf ich nicht vorbereitet gewesen war: dass ich in der Gegenrichtung auf jener Straße fuhr, auf der man uns am 18. Januar 1945 hinausgeführt hatte.“

So beginnt seine Reise in die Kindheit, und schon hier, an ihrem Anfang, wird sie zum literarischen Text. Sie geht an der Wisła entlang, die sich in den Fluss der Zeit verwandelt, auf dem er unversehens, an den Spiegelbildern der Erinnerung entlang, in die umgekehrte Richtung fährt; und schließlich in den Styx, den Fluss zur Unterwelt, der er als Kind einst entkam.

Dov Kulkas Rückkehr in die Vergangenheit ist vielschichtig, und auch das Jahr des Historikerkongresses, 1978, gehört zu ihrer Struktur. In der langen Latenz zwischen den Ereignissen und dem Buch bezeichnet es eine ungefähre Mitte, und die gleiche Zeit musste noch einmal verstreichen, ehe sie zur Sprache kommen konnten. Ein dem Text beigegebenes Bild hält diese Zweiteilung fest. Der Taxifahrer, offensichtlich ein schlechter Fotograf, hat es aufgenommen. Es zeigt den Torbogen von Birkenau, und davor Dov Kulka, aber der Bildrand schneidet ihn entzwei. Wir sehen nur die linke Hälfte seines Körpers.

Das Eintauchen in jene Zeit beginnt zwischen Theresienstadt und Auschwitz.“ Im September 1943, an der Hand seiner Mutter, macht der Zehnjährige den Weg von der Vorhölle in die Hölle, und gemeinsam kommen sie ins sogenannte „Familienlager“. Das war eine neue Einrichtung in Auschwitz – ein Bezirk, in dem die Kinder zeitweise bei ihren Müttern bleiben durften –, und hier erhält der Leser Einblick in die Arbeitsweise des Historikers. Im Anhang des Buches findet sich der einzige Aufsatz, den Kulka je über Auschwitz geschrieben hat: über das Familienlager und seine sorgfältig geplante, letztlich aber überflüssige Propagandafunktion. Schon wenige Monate später, im Juli 1944, wurde es aufgelöst, denn das Rote Kreuz hatte sich inzwischen von den ‚humanen‘ Bedingungen in Theresienstadt überzeugt und verzichtete auf einen Kontrollbesuch in Auschwitz.

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Das alles steht in Kulkas Aufsatz, kein Wort jedoch darüber, dass er selbst als Kind in diesem Familienlager überlebte und hier seine Mutter verlor. Das erzählt er erst heute, fast dreißig Jahre nach Erscheinen des Aufsatzes, und seine Sprache ist auch jetzt von erstaunlicher Zurückhaltung. „Dort habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Sekunden eines hastigen Abschieds, danach wandte meine Mutter sich um und begann in die Ferne zu gehen, den grauen Lagerbauten entgegen. Ich erwartete, dass sie sich umdrehen würde, erwartete irgendein Zeichen. Mutter drehte sich nicht um.“

Dov Kulka beschreibt und schweigt zugleich. Seinen tiefsten Schmerz deutet er nur an. Die metaphorische Sprache des Buches nennt er seine „persönliche Mythologie“, und in ihr wird Auschwitz nicht nur zur „Metropole des Todes“, sondern auch zum Ausgangspunkt seiner geistigen Entwicklung. Weil das Familienlager dem Muster von Theresienstadt nachgebildet war, gab es auch hier – nahe bei den Krematorien – eine große Anzahl kultureller Veranstaltungen, und so überraschend es klingen mag: Auf sie führt Dov Kulka den Kern seiner Persönlichkeitsstruktur zurück.

Ein junger Mann, der Auschwitz nicht überlebte, hat ihn geprägt: Freddy Hirsch, der kein Lagerkapo werden wollte und sich stattdessen um die Kinder von Birkenau kümmerte. „Unsere Baracke wurde binnen kürzester Zeit zum Zentrum des kulturellen und geistigen Lebens an diesem Ort. Und ich meine das ohne jede Einschränkung: Es war ein Ort, an dem Theateraufführungen und Konzerte stattfanden, und die Erlebnisse von dort bilden zweifelsohne das ethische Fundament meiner Einstellung zur Kultur, zum Leben, zu fast allem; es wurde bei mir im Alter von zehn bis elf Jahren gelegt, in jenen wenigen Monaten zwischen September 1943 bis zur Liquidierung des Lagers im Juli 1944.“

Vielleicht, so wird man hier gewahr, erwächst alle Kultur erst aus der Angst, mit der der Mensch die Alternative begreift: den Schrecken der Natur oder, schlimmer noch, den Schrecken der Barbarei.

Dov Kulka hat ihn in Auschwitz erfahren, und er brauchte siebzig Jahre, um ein Buch darüber zu schreiben. Es sollte viele Leser finden.

Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Aus dem Hebr. von I. Arroyo Antezana u.a. DVA, München. 190 S., 19,99 €.

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