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Sterbehilfe "Schneiden Sie den Schlauch durch!"

Fünf Jahre lang lag Erika Küllmer im Wachkoma, dann durchtrennten ihre Kinder den Schlauch der Magensonde - auf Anraten eines Anwalts. Der Jurist wurde daraufhin wegen versuchten Totschlags verurteilt. Nun berät der Bundesgerichtshof über den Fall. Und könnte ein bahnbrechendes Urteil fällen.
Von Simone Utler
Wachkomapatientin Küllmer: Leben an einem Schlauch

Wachkomapatientin Küllmer: Leben an einem Schlauch

Hamburg - Wann soll das Leben enden? Und wie? Und was bedeutet es noch, wenn ein Mensch nichts mehr von seinem Leben wahrnimmt, ewig schläft, wenn er tot ist, obwohl er noch lebt?

Bundesgerichtshof

Vor dem (BGH) hat am Mittwoch ein Grundsatzprozess zu Fragen der Sterbehilfe begonnen. Es geht um einen aufsehenerregenden Fall, um das Schicksal der Wachkomapatientin Erika Küllmer und des Anwalts Wolfgang Putz. Aber es geht auch um die ganz große Frage, die immer mehr Menschen in Deutschland beantworten müssen: Wie sollen meine Angehörigen sterben?

Wachkoma

Erika Küllmer, damals 71, fiel nach einem Hirnschlag im Oktober 2002 ins . Die Ärzte legten ihr eine Magensonde, im Februar 2003 brachte man sie in ein Pflegeheim im hessischen Bad Hersfeld. Fortan vegetierte Erika Küllmer im Bett, schwerst pflegebedürftig. Ihr linker Arm wurde nach einem Bruch amputiert. Sie reagierte nicht auf Ansprache, nicht auf Berührungen.

Endlich sterben lassen

Wolfgang Putz ist ein bekannter Medizinrechtler. Er hat sich auf Palliativmedizin spezialisiert. Putz arbeitet als Sachverständiger, unterrichtet Medizinethik, ist Mitherausgeber einer Broschüre des bayerischen Justizministeriums über Patientenverfügungen. Mehr als 260 Menschen hat seine Kanzlei bisher gegen Ärzte und Heime vertreten. Den Fall von Erika Küllmer übernahm er 2006.

Die Kinder der damals 75-Jährigen wollten ihre Mutter endlich sterben lassen - so wie sie es sich gewünscht hatte. Erika Küllmer lehnte lebensverlängernde Maßnamen ab, sie verlangte keine künstliche Ernährung oder Beatmung, sie wollte friedlich einschlafen. Allerdings hatte Küllmer das nie schriftlich verfügt, sondern lediglich ihrer Tochter gesagt.

Und so hing Erika Küllmers Leben für fünf lange Jahre an dem dünnen Plastikschlauch einer Magensonde. Erst weigerte sich Küllmers Mann, die Ernährung einstellen zu lassen, nach dessen Tod verhinderte es die ihm zur Seite gestellte Betreuerin. Und selbst als ein Vormundschaftsgericht Küllmers Kinder in Kenntnis ihrer Absichten als Betreuer bestimmt hatte und eine ärztliche Empfehlung vorlag, zögerte das Pflegeheim noch.

"Ich habe meine Mutter die ganzen Jahre nicht so friedlich erlebt"

Kurz vor Weihnachten 2007 schien die Familie ihr Ziel endlich erreicht zu haben. Die Heimleitung hatte sich zu einem Kompromiss bereit erklärt: Die Pfleger sollten nur noch waschen und betten, die Kinder von Erika Küllmer derweil die Ernährung über die Sonde einstellen und ihre Mutter beim Sterben begleiten, Schmerzpflaster aufkleben, den Mund befeuchten.

Am Morgen des 20. Dezember lief die letzte Ration Flüssignahrung durch den Schlauch, die Wasserzufuhr sollte in den kommenden zwei Tagen langsam reduziert werden. Elke G. saß bei ihrer Mutter, streichelte ihren Kopf, las ihr vor. Leise erklang Meditationsmusik. "Ich habe sie die ganzen Jahre nicht so friedlich erlebt wie damals", erinnert sich Elke G.

Doch am nächsten Tag der Schock: Die Geschäftsleitung und die Rechtsabteilung der Heimkette schalteten sich plötzlich ein und untersagten die Sterbehilfe in ihrem Haus - wegen strafrechtlicher Risiken. Die Heimleiterin ließ Erika Küllmer sofort einen halben Liter Wasser zuführen, anschließend sollte dieselbe Menge Flüssignahrung folgen. Die Angehörigen könnten Erika Küllmer verlegen lassen oder müssten der Ernährung binnen zehn Minuten zustimmen - sonst würden sie des Hauses verwiesen, hieß es.

Rechtswidriger Angriff

Elke G. rief Rechtsanwalt Putz an, der sich mit seiner Kollegin beriet. Zahlreiche Telefonate später empfahl der Anwalt seiner Mandantin: "Schneiden Sie den Schlauch durch, direkt über der Bauchdecke." Die Juristen waren sich sicher: Die Sonde stelle einen rechtswidrigen Angriff auf Erika Küllmer dar und gerichtliche Schritte seien kurz vor Weihnachten nicht möglich.

"Das Entfernen der Sonde war die logischste und sanfteste Methode, den Angriff abzuwehren", so Putz. Er stützte sich auf zwei Urteile des Bundesgerichtshofes: Im September 1994 hatte der BGH im "Kemptener Fall" entschieden, dass die Einstellung der Ernährung im Fall eines Wachkomapatienten der "Abbruch einer einzelnen lebenserhaltenden Maßnahme" sei. Dieser könne auch dann erfolgen, wenn der Sterbevorgang noch nicht unmittelbar eingesetzt habe - entscheidend sei der mutmaßliche Wille des Patienten.

Patientenwillens

Und im Juni 2005 erklärte der 12. Zivilsenat in einer Grundsatzentscheidung zur Verbindlichkeit des und zu dessen Durchsetzbarkeit, kein Pflegeheim habe das Recht, eigenmächtig die künstliche Ernährung eines Bewohners gegen dessen Willen und gegen das Verbot von Arzt und Betreuer durchzuführen.

Der Schnitt

Nach dem ersten Schock folgten die Kinder der Empfehlung von Putz: Elke G. fand in einer Schublade eine Pflasterschere. Erika Küllmers Sohn Peter hielt den Schlauch der Sonde, seine Schwester schnitt ihn durch. Unmittelbar über der Bauchdecke, so dass das Ende in den Körper rutschte.

Wenige Minuten später entdeckten zwei Schwestern den durchtrennten Schlauch, die Heimleitung verständigte die Kriminalpolizei und die Staatsanwaltschaft. Elke G. wurde festgenommen, ihr Bruder als Zeuge befragt. Erika Küllmer kam in ein Krankenhaus, man legte einen neuen Schlauch.

Am 5. Januar starb Erika Küllmer an Herzversagen - allein. Einen Zusammenhang mit der Durchtrennung des Versorgungsschlauches konnte der Rechtsmediziner nicht feststellen. Doch Sohn Peter zerbrach an dem Schicksal seiner Mutter. Wenige Wochen nach ihrem Tod nahm er sich das Leben. Elke G. und Wolfgang Putz kamen vor Gericht.

"Durchschneiden ist und bleibt aktives Tun und ist rechtswidrig"

Die Staatsanwaltschaft sah in Putz einen "Überzeugungstäter". Er habe sich "zum Herrn über Leben und Tod gemacht", hieß es im Plädoyer der Staatsanwältin. Ihre Forderung: zweieinhalb Jahre Haft ohne Bewährung. Das hätte für Putz das Ende seiner Anwaltslaufbahn bedeutet. Die Fuldaer Richter entschieden auf versuchten Totschlag und neun Monate Haft auf Bewährung.

In ihrem ambivalenten Urteil stellten sie einerseits fest, dass ein Angriff der Pflegeheimverantwortlichen vorlag. Die Beibehaltung der Magensonde sei eine vorsätzliche Körperverletzung gewesen. Auf der anderen Seite sah die Kammer in dem Durchschneiden des Schlauches aber keinen Fall von erlaubter indirekter oder passiver Sterbehilfe, sondern einen aktiven Eingriff. "Durchschneiden ist und bleibt aktives Tun und ist rechtswidrig", so der Vorsitzende Richter.

Die Kammer wies jedoch auf "eine erhebliche Rechtsunsicherheit" auf dem Gebiet des Behandlungsabbruchs hin. Selbst dem 12. Zivilsenat des BGH erschienen die Grenzen einer "Hilfe zum Sterben" nicht hinreichend geklärt.

"Pflegekräfte stecken in unglaublichem Gewissenskonflikt"

Wann darf die künstliche Ernährung eines Wachkomapatienten eingestellt werden? Macht es einen Unterschied, ob keine Nahrung mehr über eine Magensonde zugeführt oder der Schlauch gekappt wird? Ist das Durchschneiden eines Schlauches ein Behandlungsabbruch oder ein Tötungsdelikt?

Palliativmediziner und Pflegeheime, Ethikprofessoren und Medizinrechtler warten nun gespannt auf den neuerlichen Spruch des BGH. Der Fall von Wolfgang Putz und Erika Küllmer ist durchaus umstritten - aber in einem sind sich die meisten einig: Es muss mehr rechtliche Klarheit für den Umgang mit dem Sterben geben.

Dem Geschäftsführer der Akademie für Ethik in der Medizin in Göttingen, Alfred Simon, etwa ist unverständlich, dass sich in diesem Fall die Geschäftsführung des Heimes über die Einigung von Angehörigen, Arzt, Anwalt und Heimleitung hinwegsetzte. "Wie kann jemand, der den Fall überhaupt nicht kennt, einfach anordnen, die Patientin weiter zu ernähren?"

Das Pflegeheim in Bad Hersfeld erklärte auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE, es wolle sich zu diesem Fall nicht mehr äußern. Anfang des Jahres hatte es laut "ARD-Ratgeber: Recht" noch schriftlich mitgeteilt: "Entscheidend für uns war, dass keine schriftliche Verfügung des Amtsgerichts vorlag und nur diese wäre in diesem Fall bindend gewesen."

Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), der bundesweit rund 3400 Heime und 3100 Pflegedienste vertritt, weist auf die "schwer auszuhaltende" Situation hin. "Die Pflegekräfte stecken in einem unglaublichen Gewissenskonflikt", sagt bpa-Geschäftsführer Herbert Mauel. Die Heime seien gesetzlich und vertraglich zu aktivierender Hilfe verpflichtet. "Und im selben Moment sollen sie lebensverlängernde Maßnahmen einstellen? Sie sollen einerseits waschen und pflegen, andererseits dem Patienten kein Wasser und keine Nahrung geben? Das ist unzumutbar", so Mauel.

BGH steht vor weitreichender Entscheidung

Die Patientenschutzorganisation Deutsche Hospiz Stiftung betont, dass es stets um nichts Anderes gehen dürfe als um den Patientenwillen. "Lebenserhaltende Maßnahmen dürfen in Deutschland nur dann abgebrochen werden, wenn der Patient das eindeutig so will oder im Sterbevorgang ist", sagt Vorstand Eugen Brysch. "Da ein Wachkomapatient kein Sterbender ist, muss in einem solchen Fall eindeutig klar sein, was der Patient verfügt hat - für verschiedene Situationen wie Wachkoma, Organversagen oder Demenz."

Das Landgericht Fulda hat nach seiner Ansicht nicht ausreichend geklärt, was tatsächlich Erika Küllmers Wille war. Der BGH stehe nun vor einer weitreichenden Entscheidung. "Sie wird auch die Hunderttausenden demenziell Erkrankten betreffen, die ebenso wenig Sterbende sind wie Patienten im Wachkoma."

Brysch kritisiert das Verhalten von Wolfgang Putz. "Solche Wild-West-Methoden dürfen wir nicht zulassen. Auch wir helfen in Konfliktfällen, dass der Wille des Patienten durchgesetzt wird. Aber es ist unverantwortlich, wenn ein Anwalt zulässt, dass dies ohne Arzt oder Pflegekraft abläuft." Zwar habe das Pflegeheim nicht das Recht gehabt, die Ernährungseinstellung zu verhindern, aber der Anwalt hätte versuchen müssen, die Situation zu deeskalieren.

Putz selbst ist optimistisch, dass die Richter in Karlsruhe das Fuldaer Urteil revidieren - und den Eingriff als Behandlungsabbruch werten. Darin sieht er eine Chance für die Sterbehilfe in Deutschland. "Dann wüssten Ärzte, dass das Abschalten einer Maschine das Ende einer Therapie ist und keine aktive Sterbehilfe", sagt Putz. "Das Signal wäre: Wenn ihr eine Behandlung beendet, tötet ihr nicht."

Ein Vertreter der Bundesanwaltschaft kündigte vor Beginn der mündlichen Verhandlung an, voraussichtlich auf Freispruch zu plädieren. Das Verhalten des Angeklagten sei seiner Meinung nach rechtens gewesen.

Auch Elke G. hofft, dass die Karlsruher Richter Wolfgang Putz rehabilitieren - und sie selbst. Nach wie vor schwebe der Vorwurf der aktiven Sterbehilfe über ihr, obwohl sie in Fulda freigesprochen wurde. Sie habe nicht gewusst, was sie tue, und sich auf den Rat ihres Anwalts verlassen, urteilte das Landgericht. "Doch ich war nicht einfach eine Marionette", so G.. "Ich habe stets meine eigenen Entscheidungen getroffen. Und die Entscheidung, den Wunsch meiner Mutter umzusetzen, würde ich immer wieder so treffen."

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