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S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Das Netzgespür

Das Internet ist vielen bis heute zu kompliziert. Nicht ganz zu Unrecht, findet Sascha Lobo. Angesichts seiner Größe und der schnellen Veränderung der Welt durch das Digitale bleibt uns nur der Rückgriff auf Heuristik und Intuition. Netzgespür könnte man von den alten Griechen lernen.

Wenn etwa 60 Prozent der deutschen Bevölkerung regelmäßig im Internet sind - was machen eigentlich die anderen 40 Prozent? Fernsehen? Soll man einigermaßen zynisch einfach offensiv warten, bis sich das Problem biologisch löst? Oder gäbe es auch andere Wege ins Netz für die sogenannten "Nonliner", die ja bereits unter diesem hässlichsten Neologismus der Neuzeit genug leiden müssen? Wenn man das Verständnis für die digitale Welt und das Internet als Alphabetisierung des 21. Jahrhunderts betrachtet, muss man sich Gedanken machen, wie dieses Verständnis sich verbreiten ließe und vor allem, wie es zustande kommt.

Im April 2010 stellte der frühere "Wired"-Redakteur Todd Lappin eines der erstaunlichsten Videos des Jahres auf YouTube ein. Es zeigt seine zweieinhalbjährige Tochter beim ersten Kontakt mit einem iPad. Es spielt keine Rolle, ob das Video einstudiert ist oder das Mädchen vorher mit dem iPhone des Vaters herumgespielt hat: Der Umgang des Kleinkinds mit der digitalen Technologie bleibt beeindruckend, fast beängstigend souverän. Das Mädchen beherrscht das Gerät. In einem Alter, in dem Kinder gerade Treppen steigen lernen, wundert sich das Mädchen sogar, dass dem iPad der ersten Generation die Kamera fehlt. Das war auch einer der häufigsten Kritikpunkte in den Tech-Blogs, die zweifellos zu den Weltzentralen des Besserwissertums gehören.

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Der Videoclip scheint ein Verständniskonzept der digitalen Welt zu bestätigen, das in den letzten Jahren in Deutschland intensiv medial verbreitet worden ist: die Unterteilung der Internetnutzer in Digital Natives und Digital Immigrants .

Es besagt, dem blut-und-bodigen Gegensatz zwischen "Eingeborenem" und "Einwanderer" folgend, dass ein grundlegender, eigentlich nicht überbrückbarer Unterschied zwischen Leuten besteht, die mit der digitalen Vernetzung aufwachsen und denen, die noch wissen, was eine Schreibmaschine oder eine Telefonzelle überhaupt sind. Das Digital-Native-Konzept klingt einleuchtend, ist sehr bequem und darüber hinaus totaler Quatsch.

Wir befinden uns in einer Art Internet-Antike

Natürlich lernen junge Menschen spielerischer und damit schneller, worauf es in der digitalen Sphäre ankommt. Aber für das Verständnis der digitalen, vernetzten Welt ist nicht das Alter entscheidend oder die Tatsache, dass bereits die Nabelschnur mit einem Laserschwert durchtrennt wurde. Ausschlaggebend ist etwas, was man Netzgespür nennen könnte oder digitale Intuition. Dieses Gespür für vernetzte Zusammenhänge und digitale Situationen macht den Unterschied aus zwischen den Netzaffinen und den Offlinern.

Ein Gefühl als entscheidende Fähigkeit für das Netzverständnis? Das mag zunächst klingen wie digitaler Wünschelrutengang. Aber es lässt sich eine interessante historische Parallele konstruieren: Die Gesellschaft steht der digitalen Welt noch verhältnismäßig unwissend gegenüber, vieles ist noch unbekannt, aber jeden Tag werden Zusammenhänge entdeckt und Neues entwickelt, die Basis der digitalen Kultur wird gelegt - wir befinden uns in einer Art Internet-Antike. Um die Welt verstehen zu lernen, mussten die Denker der nichtdigitalen Antike zunächst akzeptieren, Homer-Simpson-haft wenig zu wissen. Dann aber machten sie aus der scheinbaren Not eine Tugend: die Heuristik, also die Kunst, mit begrenztem Wissen trotzdem zu einer Lösung oder einer Erfindung zu gelangen - mit Hilfe des Erahnens, des Erratens oder des gezielten Ausprobierens - also mit Hilfe eines Gespürs.

Eine der frühen heuristischen Methoden stammt von dem griechischen Mathematiker Pappos von Alexandria. Er schlug vor, man solle ein Problem als bereits gelöst betrachten, um dann von der möglichen Lösung Schritt für Schritt rückwärts zu gehen. Anschließend solle der entstandene Lösungsweg als Beweis der Funktionsfähigkeit vorwärts beschritten werden. Dieses Verfahren spielt in der digitalen Welt eine wichtige Rolle, es ist als "Reverse Engineering" bekannt.

Das heutige mathematische Verständnis, die Grundlage der digitalen Welt, ist durch Heuristiker geprägt worden. Durch den arabischen Mathematiker al-Chwarismi etwa, einem der sehr wenigen Menschen, denen ein komplizierter Name zum Vorteil gereichte: "al-Chwarismi" wurde so lange falsch ausgesprochen und verballhornt, bis das heutige, griechisch anmutende Wort Algorithmus daraus entstand. Sollte jemand aus irgendwelchen verkrampften Gründen nach muslimischen Wurzeln in der europäischen Kultur suchen wollen: Hier sind sie. Al-Chwarismi begründete das Dezimalsystem der Zahlen und führte auch die Null ein. Mathematisch gesehen hätten wir heute ohne ihn also noch nicht einmal nichts. Und eben jene Null verwendete der ebenfalls heuristisch arbeitende Gottfried Wilhelm Leibniz ein paar hundert Jahre später zur Entwicklung des Binärcodes, auf dem überhaupt alles Digitale basiert.

Das Netz muss anfassbar werden

Das Erahnen möglicher Lösungen hat das Fundament des Internets gelegt, es ist auch im Kleinen der Schlüssel zu seinem besseren Verständnis. Todd Lappins Tochter erahnt, wie das iPad funktionieren könnte. Das ist nicht nur ein Kompliment an Apples Benutzerführung, es ist auch ein Beweis für die Macht des Gespürs in der digitalen Welt. Gespür aber entsteht aus der neugierigen und mutigen Beschäftigung mit der Materie und der darauf folgenden, schrittweisen Erkenntnis. Irgendwann stellt sich ein intuitives Verständnis ein - eben das Netzgespür. Ohne dieses Netzgespür ist man in der digitalen Welt schon deshalb verloren, weil man angesichts der schieren Größe und der extrem schnellen Weiterentwicklung des Internets nicht alles wissen kann, sondern kaum mehr als nichts. Wie aber könnte man die eingangs angesprochenen 40 Prozent der Bevölkerung überhaupt dazu bringen, sich der digitalen Welt zu nähern? Vielleicht liegt der Schlüssel dazu auch in dem Video der Zweieinhalbjährigen verborgen.

Es ist kein Zufall, dass das Wort begreifen doppeldeutig ist: verstehen und anfassen. Bis vor wenigen Jahren war das Internet die sprichwörtliche virtuelle Sphäre, abstrakt und körperlos. Mit dem Touchscreen - der bisher wichtigsten digitalen Entwicklung des 21. Jahrhunderts - wird die digitale Welt anfassbar und damit für Leute begreifbar, die das Netz im Wortsinn nicht begreifen konnten oder wollten, seien sie zweieinhalb oder zweiundsechzigeinhalb. Selbst gestandene Nerds mit feinem Netzgespür beschreiben ihre ersten Erlebnisse mit Touchscreen-Computern als faszinierende Premiere: Das Netz wird haptisch, es lässt sich anfassen - man kann es spüren wie nie zuvor.

Vielleicht haben uns Todd Lappin und seine Tochter gezeigt, wie die Gefahr der Aufspaltung der Gesellschaft in digital und nichtdigital verringert werden kann: indem das Netz anfassbar wird und so endlich von seiner schwindelerregend hohen Abstraktionsebene herunterkommt. Touchscreens für alle! Vielleicht führt das zu einem besseren Verständnis des Internets und zu einer größeren Verbreitung des Netzgespürs, selbst wenn jemand ohne eigenes Verschulden alt ist oder arm oder im Bundestag sitzt.