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Plädoyer fürs Nichtstun Immer mit der Ruhe!

Müßiggang ist aller Laster Anfang? Von wegen! Wahre Könner wissen um den Wert der täglichen Ruhepause, argumentiert Buchautor Ulrich Schnabel. Denn wer schläft, meditiert oder schlicht nichts tut, steigert Wohlbefinden, Kreativität und Leistungskraft.

Schlaf

Was haben Cicero, Montaigne, Mark Twain, Winston Churchill, Albert Einstein und John Lennon gemein? Antwort: Sie waren allesamt große Freunde der (Bett-)Ruhe und liebten ihren . Bei dem französischen Essayisten Michel de Montaigne ging diese Liebe sogar so weit, dass er seinen Diener anwies, ihn mitten in der Nacht zu wecken, damit er das Gefühl der Schläfrigkeit und das Vergnügen, wieder einzuschlafen, noch einmal genießen könne. Denn das einzig bedauerliche am Schlaf, so argumentierte Montaigne, sei der Umstand, dass man sich dessen Freuden, während man schlafe, leider nicht bewusst sei.

Inzwischen wagt es kaum noch jemand, den Schlaf derart zu verherrlichen. Im Gegenteil: Heute heißt es, früh und munter aus dem Bett zu springen und freudig sein Tagwerk in Angriff zu nehmen. Damit wir dem Übel der Ruhe nicht zu sehr frönen, hämmert man uns von Kindesbeinen an ruhestörende Merksätze in den Kopf wie: "Morgenstund hat Gold im Mund" oder: "Früher Vogel fängt den Wurm". Benjamin Franklin hat auf ganzer Linie gesiegt, jener amerikanische Staatsmann und Erfinder des Blitzableiters, der schon im 18. Jahrhundert das Frühaufstehen pries und in einem Tugendweiser sich und seine Zeitgenossen pausenlos antrieb: "Verliere keine Zeit, sei immer mit etwas Nützlichem beschäftigt; entsage aller unnützen Tätigkeit." Der Forscher unterwarf nicht nur die Naturgesetze sondern auch sein Leben einem strengen Kalkül, er legte sich in einem Tagebuch über jede Stunde seines Tages Rechenschaft ab und prägte schließlich 1748 jenen schicksalhaften Satz, der zur stahlharten Doktrin der industriellen Moderne werden sollte: "Zeit ist Geld".[i]

Heute, ein Vierteljahrtausend später, sind wir alle kleine Franklins geworden. Die Ansichten des zwanghaften amerikanischen Fleißapostels haben sich gegen die Entspanntheit eines Michel de Montaigne auf ganzer Linie durchgesetzt. Statt den Schlaf zu lieben und zu zelebrieren, klagen insgesamt rund 70 Prozent aller Deutschen über gelegentliche, häufige oder ständige Schlafprobleme. Fast genau so viele, nämlich 72 Prozent, antworten auf die Frage nach dem Motiv für ihre tägliche Arbeit ganz im Sinne Franklins: "Um Geld zu verdienen". Dass man mit Arbeit auch positive Effekte wie "Selbstbestätigung" oder "Kontakt mit anderen Menschen" verbinden könnte, kommt nur einer Minderheit in den Sinn. Kurz gesagt: Wir schlafen schlecht und hassen unsere Arbeit und höchstwahrscheinlich hat das eine mit dem anderen eine ganze Menge zu tun.

Höchste Zeit für eine Kurskorrektur. Höchste Zeit, sich von Benjamin Franklin nicht länger terrorisieren zu lassen und einmal die Freuden des Nichtstuns, des Faulenzens und des Dösens zu preisen. Da wir allerdings die Tugendpredigten von Franklins zahllosen Nachfolgern so verinnerlicht haben, dass wir den Müßiggang unwidersprochen als aller Laster Anfang akzeptieren, müssen wir die Jünger der Fleiß- und Produktivitätsreligion mit ihren eigenen Waffen schlagen: Indem wir uns klar machen, dass müßiggängerische Zustände wie Schlafen, Meditieren oder schlichtes Aus-dem-Fenster-schauen keinesfalls verlorene Zeit sind. Im Gegenteil: Sie fördern nicht nur Wohlbefinden und Kreativität, sondern letztlich auch die Leistungskraft.

Das "Im-Bett-liegen" als unschätzbares Gut

Dichter, Musiker und Denker bezeugen: Schöpferische Einfälle kommen uns häufig gerade dann, wenn wir sie nicht herbeizuzwingen versuchen, sondern die Gedanken schweifen lassen und der sprichwörtlichen Muse die Zeit und Gelegenheit geben, uns zu küssen. Und welcher Ort wäre dafür besser geeignet als das eigene Bett?

So berichtete etwa der geniale indische Mathematiker Ramanujan (1887-1920), ihm würden seine wunderbaren Formeln immer nachts von der Göttin Namakkal eingegeben. Dem Chemiker Friedrich Kekulé (1829-1896) wurde die lang gesuchte Struktur des Benzolrings klar, als er von zwei, sich gegenseitig in den Schwanz beißenden Schlangen träumte. Und von Johann Sebastian Bach ist die Erkenntnis überliefert, es sei nicht schwer, musikalische Ideen zu finden; das Problem sei, "morgens beim Aufstehen nicht auf sie zu treten."

Vor einem überhasteten Frühaufstehen warnt auch der chinesisch-amerikanische Autor Lin Yutang. In seinem Essay On Lying in Bed preist er das "Im-Bett-liegen" als unschätzbares Gut. "Ein Schriftsteller wird in dieser Stellung mehr Einfälle für seine Artikel oder Romane bekommen, als wenn er morgens und nachmittags beharrlich an seinem Schreibtisch säße", propagiert Lin Yutang. "Denn dort, befreit von Telefonanrufen, wohlmeinenden Besuchern und den üblichen Trivialitäten des täglichen Lebens, sieht er das Leben gleichsam in einem Spiegel oder auf einer Perlleinwand, und ein Glorienschein poetischer Ideen fällt auf die Welt der Wirklichkeit und durchdringt sie mit magischer Schönheit."

Die kreativitätsfördernden Effekte des Ausruhens

Wissenschaftler betrachten die Sache naturgemäß nüchterner. Doch auch sie wissen um die ebenso heilsamen wie kreativitätsfördernden Effekte des Ausruhens. Zunehmend haben in den vergangenen Jahren Schlafforscher, Mediziner und Neurobiologen untersucht, was in unserem Organismus geschieht, wenn wir dösen, träumen oder einfach mal gar nichts tun. Und dabei zeigt sich: In der Ruhe sind wir ganz schön aktiv.

So wies der Schlafforscher Robert Stickgold von der Harvard University nach, dass sich Lernleistungen durch eine entspannte Nachtruhe deutlich steigern lassen. Seine Probanden übten, Unregelmäßigkeiten in einem ansonsten regelmäßigen Strichmuster zu erkennen. Konnten sie danach eine Nacht gut schlafen, stieg ihre Leistung am nächsten Tag sprunghaft an, gerade so, als hätte das Gehirn im Schlaf weiter geübt. Hinderte man die Versuchspersonen am Schlafen, blieb der Lerneffekt prompt aus.

Ähnliche Erkenntnisse lieferten Experimente mit Ratten, die tagsüber lernen mussten, sich in einem komplizierten Labyrinth zurechtzufinden. Anhand ihrer Hirnströme konnte der Neuroforscher Matthew Wilson vom MIT in Boston feststellen, dass die Rattenhirne während des Schlafens genau dieselben Muster wie am Tag produzierten. Wilson folgert daraus, dass die Nager im Schlaf noch einmal den Weg durch das Labyrinth vergegenwärtigen und sich so das tagsüber Gelernte unbewusst einprägen.

Wie die Tiefschlafphase das Fakten- und Wissensgedächtnis fördert

Dabei fördert vor allem die sogenannte Tiefschlafphase unser Fakten- und Wissensgedächtnis, wie der Lübecker Schlafforscher Jan Born an Medizinstudenten demonstrierte: Nachdem diese sich tagsüber ihren Stoff eingetrichtert hatten, verwehrte er ihnen nachts den Tiefschlaf. Prompt erinnerten sie sich am nächsten Morgen schlechter an die gebüffelten Fakten als Kommilitonen, die eine ungestörte Nachtruhe genießen durften. In einer anderen Studie ließ er Schüler Vokabeln lernen und fragte sie zwei Tage später wieder ab. Dabei schnitten wiederum jene Schüler am besten ab, die nachts tief geschlafen hatten.

Besonders gut waren ihre Ergebnisse, wenn die Schüler ihre Vokabeln abends, kurz vor dem Schlafengehen, gelernt hatten. "Offensichtlich fördert der Schlaf die Gedächtniskonsolidierung insbesondere dann, wenn er relativ bald nach dem Lernen auftritt", folgert daraus Jan Born. Das hieße also: Vokabeln und schwierige Fakten sollte man möglichst abends büffeln und dann ins Bett fallen. Den Rest besorgt das Gehirn buchstäblich im Schlaf.

Selbst einen "Tuning-Effekt" für den Schlaf hat Jan Born entdeckt. Als er in einem Experiment mit Hilfe von Elektroden nächtens jene Hirnfrequenzen verstärkte, die im Tiefschlaf auftreten, schnitten diese Probanden bei Gedächtnistests am nächsten Tag um acht Prozent besser ab als jene, die ohne die elektronische Denkhilfe schlafen mussten. Kommt also bald die technisch hochgerüstete Deltaschlafmütze auf den Markt, die mit Hilfe entsprechender Elektroden unseren Tiefschlaf verstärkt und uns damit zu ungeahnten Leistungen beflügelt? Nicht auszuschließen, dass ein findiges Start-up-Unternehmen ein solches Produkt irgendwann auf den Markt bringt.

Wundermittel "Mittagsschläfchen"

Wer allerdings nächtens partout zu wenig Schlaf bekommt, braucht nicht zu verzweifeln. Für den gibt es immer noch ein Wundermittel: Das altbewährte Mittagsschläfchen, das schon Winston Churchill zu schätzen wusste. Der britische Premier war überzeugt, man brauche "eine gewisse Menge Schlaf zwischen Lunch und Dinner und keine halben Sachen". Großbritanniens Held, der Bezwinger Hitlers und Nobelpreisträger für Literatur, ging also jeden Nachmittag ins Bett - und verteidigte diese Angewohnheit offensiv: "Man soll nicht glauben, dass man weniger arbeitet, bloß weil man tagsüber schläft. Das ist eine alberne Vorstellung, und wer sie vertritt, hat keine Phantasie. Man schafft die Arbeit von zwei Tagen an einem - na ja, zumindest die von anderthalb, davon bin ich überzeugt." Er selbst habe jedenfalls den Zweiten Weltkrieg nur durchgestanden, weil er jeden Tag ein Schläfchen einlegte.

Heute würde Churchill massive Schützenhilfe vonseiten der Wissenschaft erhalten. Diese hat mittlerweile vielfach demonstriert, dass schon ein kurzes Dösen sich positiv auf die Leistungsfähigkeit auswirkt. Dafür wirbt vor allem die Schlafforscherin Sara Mednick, die einst als Doktorandin bei Robert Stickgold in Harvard begann und heute an der University of California in San Diego lehrt. Sie rechnet den amerikanischen Unternehmen vor, dass übermüdete Angestellte für Unfälle und Produktionsausfälle im Wert von jährlich 150 Milliarden Dollar verantwortlich seien und dass, so gesehen, kaum etwas lukrativer sei als gesunder Schlaf. In ihrem Buch Take a nap. Change your life preist sie das Nickerchen gar als lebensverändernde Kraft.

Der Traumschlaf steigert die Kreativität

Wer etwa besonders seine Kreativität fördern will, sollte laut Mednick zwischendurch etwas träumen. Denn in einem ihrer Versuche, bei denen es um das kreative Finden von Begriffsanalogien ging, schnitten jene am besten ab, die ein Mittagschläfchen mit mindestens einer Traumphase einlegte. "Für geistige Aufgaben, an denen wir schon geraume Zeit arbeiten, genügt einfach etwas Zeit, um eine Lösung zu finden", kommentiert Mednick. "Bei einer neuen Herausforderung kann aber nur der Traumschlaf die Kreativität steigern."

Doch kreative Geistesblitze sind für Mednick nur einer von vielen Gründen, sich mittags aufs Ohr zu legen. In einem Nickerchen-Manifest zählt sie insgesamt 20 Vorteile des Mittagsschlafs auf (siehe The Nap Manifesto ). Für die Schlafforscherin ist ein Schläfchen von unschätzbarem Wert, weil es

  • die Aufmerksamkeit um bis zu 100 Prozent erhöht;
  • die motorische Koordination und die Genauigkeit stärkt;
  • Wahrnehmungsfähigkeit und Entscheidungsfreude verbessert;
  • das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle reduziert;
  • ein jugendliches Aussehen bewahren hilft;
  • das Abnehmen fördert, da Ausgeschlafene weniger Heißhunger auf Süßigkeiten oder fettigen Knabberkram verspüren;
  • allgemein die Stimmung hebt, da beim Schlafen der Botenstoff Serotonin im Gehirn freigesetzt wird;
  • Stress ebenso reduziert wie die Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol, die häufig als Mittel gegen Erschöpfung eingesetzt werden;
  • Gedächtnisleistung und Kreativität verbessert;
  • für einen besseren Nachtschlaf sorgt;
  • und überdies - in den USA ein unschlagbares Argument - zu einem besseren Sex-Leben führt.

All diese Effekte seien nicht nur wissenschaftlich bewiesen, schreibt Mednick, sondern auch noch "kostenlos, ohne Schadstoffe und ohne gefährliche Nebenwirkungen" zu haben.

Kein Wunder, dass so viele große Geister auf ihren Mittagsschlaf schworen! Churchill, Napoleon oder Leonardo da Vinci kamen nur deshalb mit wenig Nachtschlaf aus, weil sie die Kunst perfektioniert hatten, sich tagsüber die notwendigen Ruhepausen zu gönnen. Dass man auf diese Weise sogar körperliche Höchstleistungen vollbringen kann, beweist in unseren Tagen die Schwimmerin Britta Steffens. Die Doppel-Olympiasiegerin schätzt ihr tägliches Mittagsschläfchen so sehr, dass sie sich zum Beispiel bei Fototerminen die Zeit für ein Nickerchen vertraglich zusichern lässt.

Dennoch gilt es - vor allem in der Geschäftswelt - noch immer als ungehörig, sich ein erquickendes Schläfchen zu gönnen. Da hilft nur der Mut zu unkonventionellen Lösungen. Zur Not stapelt man ein paar Bücher auf den Schreibtisch, auf die man seinen Kopf bettet (vorsichtige Naturen schlagen die Bücher auf, als seien sie gerade in die Lektüre vertieft). Andere quetschen sich in die Toilettenkabine, quer über den Sitz, die Füße gegen die Wand, den Kopf weich auf die Klopapierrolle gebettet. Besser als solche halbherzigen Lösungen wäre allerdings ein allgemeiner Sinneswandel, ein Paradigmenwechsel in Sachen Mittagsschlaf. Menschen in Führungsposition kann man da nur raten, mit gutem Beispiel voranzuliegen. Ihre Mitarbeiter werden es Ihnen danken!

[i] Zit. nach Zahrnt, A.: Zeitvergessenheit und Zeitbesessenheit der Ökonomie. In: Held/Geißler: Ökologie der Zeit, Hirzel, Stuttgart, 1993

Die ist ein gekürzter Auszug aus dem neuen Buch von Ulrich Schnabel: "Muße. Vom Glück des Nichtstuns". Es erscheint am 8. Dezember im Blessing Verlag.