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Wie Eichmann zum Klischee wurde

Hannah Arendts Formel von der "Banalität des Bösen" taugt nicht zu einer falschen Universalisierung des Holocaust

Der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 hatte in Israel und Deutschland eine zunächst erstaunlich parallele, im Ergebnis aber gegenläufige Wirkung. Erstmals kamen durch das Tribunal unerträgliche Einzelheiten über das Grauen der NS-Vernichtungsmaschinerie vor einer breiten Weltöffentlichkeit zur Sprache, von denen man in beiden Ländern aus unterschiedlichen Gründen möglichst wenig wissen wollte. Im Land der Täter - das Deutschland damals im Wortsinne noch war - gab es offensichtliche Gründe, das ganze Ausmaß der Verbrechen des NS-Regimes und der Verstrickung großer Teile der deutschen Gesellschaft im Verborgenen zu halten. Zu sehr schien die junge Bundesrepublik auf die Mitarbeit von Vollstreckern und Handlangern des NS-Systems beim Aufbau des neuen Staats angewiesen.

Paradoxerweise passte die allzu intensive Beschäftigung mit dem Holocaust jedoch zunächst auch in Israel nicht ins Konzept. Der jüdische Staat, nahezu zeitgleich mit der Bundesrepublik gegründet, musste sich ähnlich wie diese erst einmal ein positives Selbstbild erschaffen, das in die Zukunft wies - was den Bruch mit einer potenziell handlungslähmenden Vergangenheit einschloss. So konzentrierte sich die Identitätsbildung des jungen Staates Israel auf das Ideal des kampfbereiten, wagemutigen Pioniers, das ein neues, starkes und selbstbewusstes Judentum begründen sollte und im Widerspruch zu der jahrtausendealten jüdischen Opfergeschichte stand. Die Erinnerung an die fast vollständige Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Europas, die ihrer Entrechtung, Entmenschlichung und schließlichen Auslöschung wehrlos ausgeliefert war, musste daher zunächst in den Hintergrund gedrängt werden.

Der Prozess gegen Eichmann änderte dies auf beispielhafte Weise. Der Augenblick, in dem ein führender Organisator der NS-Mordmaschinerie vor einem israelischen Gericht "Haltung annahm", wie es ein Prozessbeteiligter formulierte, unterstrich dramatisch die Notwendigkeit eines eigenständigen, starken jüdischen Staates als existenzielle Garantie für das jüdische Volk. Die Aussagen der überlebenden Zeugen der Shoa vor Gericht ließen Schmerz und Verzweiflung über die Ohnmacht der Vergangenheit mit voller Wucht aufbrechen - indem die Untaten eines der wichtigsten Administratoren der Judenvernichtung jedoch von einem souveränen israelischen Gericht abgeurteilt wurden, konnte das Grauen der Vergangenheit in das Selbstbild einer sich aus unsäglichem Leid erhebenden, neuen, verteidigungsbereiten jüdischen Nation integriert werden.

Auch in Deutschland bedeuteten die Enthüllungen des Eichmann-Prozesses das Ende des effektiven Beschweigens der Abgründe der jüngsten Vergangenheit. Insbesondere in der ersten Nachkriegsgeneration, die sich selbst nicht schuldig gemacht hatte, lösten sie bodenlose Erschütterung aus - nicht nur wegen der schockartig vor Augen geführten Tatsache, dass solche Verbrechen überhaupt möglich waren, sondern auch angesichts der Erkenntnis, welche ungeheuere Bürde von Schuld und Scham den jüngeren Deutschen von der Vätergeneration aufgeschultert worden war. Der Eichmann-Prozess gab so einerseits den Bestrebungen Auftrieb, nun auch von deutscher Seite aus die Verfolgung von NS-Untaten endlich intensiver zu betreiben. Vom Eichmann-Prozess führte so eine direkte Linie zum Frankfurter Auschwitz-Prozess, der Ende 1963 begann und die Ära einer systematischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit einläutete.

Während das Aufbrechen der Erinnerung in Israel also letztlich eine Affirmation der jüdischen Nationalidee zeitigte, stellte sie in Deutschland jede Art von Rekonstruktion eines handhabbaren nationalen Selbstgefühls in Frage. Mit der Erschütterung stellte sich deshalb sogleich auch das Bedürfnis nach einer Rationalisierung des schlechthin Unfassbaren ein. Denn nur eine universell verallgemeinerbare Erklärung für die nie dagewesene Dimension des Verbrechens versprach Entlastung von der niederschmetternden Aussicht, als Angehöriger einer Nation weiterleben zu müssen, deren Name für ein einmaliges, in letzter Instanz ebenso unbegreifliches wie unsühnbares Menschheitsverbrechen stand. Nur wenn man eine überhistorische, allgemein gültige Ursache für das Entsetzliche identifizieren konnte, die bis in die Gegenwart hineinwirkte, konnte man mit der Abtragung der unermesslichen Schuld und Scham beginnen - durch die Bekämpfung dieser vermeintlichen Ursache als Vorbeugung einer möglichen Wiederholung.

In dieser Konstellation fand Hannah Arendts Formel von der "Banalität des Bösen" in Deutschland starken Widerhall. Während Arendts 1963 erschienener Prozessbericht "Eichmann in Jerusalem", dem diese Formel entnommen war, in Israel und der jüdischen Welt wegen der angeblichen Kälte ihres Tonfalls sowie mancher missverständlicher Äußerungen über die Verstrickung der Judenräte auf heftige Ablehnung stieß, bot das Konstrukt einer "Banalität des Bösen" für die deutsche Selbstverständigungsdebatte einige Vorteile. Es widersprach zum einen jener Dämonisierung der NS-Täter, die nach dem Krieg zur Exkulpierung des "deutschen Volkes" gedient hatte. Eichmann war, schien Arendts Formel zu sagen, eben keine abartige Ausnahme, sondern eine Durchschnittspersönlichkeit, die erst im Kontext eines auf Vernichtung ausgelegten Apparats die in ihr schlummernde Mordenergie freisetzte.

Dieses Bild entsprach der Wahrnehmung, dass zahlreiche NS-Täter nunmehr als unauffällige, scheinbar zu braven Demokraten gewandelte Bürger in der friedfertigen Bundesrepublik lebten. Das Postulat einer "Banalität des Bösen" schien jedoch auch an eine in der bundesdeutschen Intelligenz - und zwar links wie rechts - weit verbreitete kulturkritische Skepsis gegenüber einer vermeintlich allmächtigen technischen Rationalität anschließbar zu sein, die den Menschen auf eine Funktion im Räderwerk reduzierte. Wenn eine "banale" Person wie Eichmann zum skrupellosen Organisator eines gigantischen Massenmordes aufsteigen konnte, so würden sich unter vergleichbaren Umständen wohl zahllose neue "Eichmänner" finden. Auf diese Weise banalisiert, konnte Eichmann in der linken Gesellschaftskritik nun zum Prototypen des "autoritären Charakters" und zur Negativschablone einer antirepressiven Pädagogik werden.

Derartiges freilich hatte Hannah Arendt mit ihrer Feststellung einer "Banalität des Bösen" ausdrücklich nicht im Sinn gehabt. Ihre Intention war nicht, die persönliche Schuld Eichmanns wie die Besonderheit des NS-Verbrechens hinter einer anonymen Maschinerie verselbstständigter technischer Rationalität verschwinden zu lassen. Bald nach dem Erscheinen ihres Buches stellte sie richtig, sie habe keineswegs sagen wollen, dass in "jedem von uns ein Eichmann" stecke. Sie habe vielmehr eine radikale Form der "Dummheit" gemeint, die unfähig ist, in menschlich verallgemeinerbaren moralischen Kategorien zu denken.

Hannah Arendt musste sich nun vermehrt dagegen zur Wehr setzen, dass ihre Gedanken über die "Banalität des Bösen" in der deutschen Debatte ihrerseits systematisch banalisiert wurden. So vertrat ausgerechnet Hans Magnus Enzensberger, einer der klügsten Köpfe seiner Zeit, 1964 die These, im Zeitalter atomarer Massenvernichtungswaffen seien Politik und Verbrechen zu einer Einheit verschmolzen. Nicht, dass Deutsche dieses Menschheitsverbrechen realisiert hätten, sondern dass es in der Form des Atomkriegs überall wiederholt werden könne, sei an Auschwitz das Beunruhigendste.

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Hannah Arendt warf ihm daraufhin in einem Brief "Escapismus" vor, lasse er doch das Spezifische der NS-Verbrechen "in der Sauce des Allgemeinen untergehen" und so das Besondere deutscher Schuld in einem vagen Allgemeinen aufgehen. Eine falsche Universalisierung von Auschwitz ließe vergessen, dass es sich bei der Judenvernichtung um ein Verbrechen gehandelt hatte, das insofern ja gerade partikularen Charakter hatte, als es nun einmal von einem bestimmten Land, nämlich Deutschland, ausging und sich gezielt gegen die Juden als einer einzelnen, zur Ausrottung bestimmten Menschengruppe richtete.

Ungeachtet solcher Einwände festigte sich das Bild vom "banalen" Eichmann hierzulande jedoch unaufhaltsam zu einem Klischee, mit dem jedwede bürokratische Mittäterschaft an tatsächlichen oder vermeintlichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Verbindung gebracht wurde. Auf besonders plakative Weise kam diese Verkürzung in Heiner Kipphardts 1983 uraufgeführten Schauspiel "Bruder Eichmann" zum Ausdruck. Im zahlreichen "Analogieszenen" suggeriert Kipphardt, Vorgänge wie der Abwurf der Atombombe in Hiroshima, der Krieg in Vietnam, der Umgang mit den RAF-Terroristen in Stammheim oder mit Asylbewerbern in der Bundesrepublik, aber auch die Entwicklung von Gen-Technologie drückten das Fortleben eines "Prinzips Eichmann" aus. In jeden Funktionsträger der US-Administration, in jedem Biochemiker der Lebensmittelindustrie und in jedem Beamten der deutschen Ausländerbehörden konnten friedensbewegte und öko-alternative Zivilisationsskeptiker nun Eichmanns Antlitz des Bösen hineinprojizieren.

Der Abgrund, der sich mit dem Eichmann-Prozess aufgetan hatte, war so mit dem Schutt einer banalisierten Modernekritik wieder zugeschüttet und das ins Wanken geratene deutsche Selbstbewusstsein erfolgreich restabilisiert worden.

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