Verlustgefühle: Polen, dreissig Jahre nach der politischen Wende
Gastkommentar
Jaroslaw Kuisz und Karolina Wigura

Dreissig Jahre nach der epochalen politischen Wende von 1989 steht Polen als Gewinner da – dennoch sind es eher die Verluste, die das Land umtreiben

Die Bilanz von dreissig Jahren Demokratie und Marktwirtschaft fällt in den Ländern Ostmitteleuropas zwiespältig aus. Selbst da, wo grosse wirtschaftliche Erfolge erzielt wurden, grassiert das Gefühl des Verlusts. Die populistische nationale Rechte nutzt dies weidlich aus.

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1989 gibt es in Polen noch um die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und um Identität: Warteschlange vor einem Brotladen in Warschau.

1989 gibt es in Polen noch um die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und um Identität: Warteschlange vor einem Brotladen in Warschau.

David Caulkin, AP

Es ist gut, dass das 30-Jahr-Jubiläum zur politischen Wende von 1989 endlich zu Ende geht. Für manchen Polen war es nur schwer zu ertragen. Die Erinnerungen an freudige Augenblicke wurden überlagert von der Verbitterung über die gegenwärtige Lage.

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Eigentlich sollte das Missvergnügen keine Überraschung sein. Bereits 1990 hatte Friedrich Dürrenmatt in einer Rede zu Ehren von Václav Havel darauf hingewiesen, dass jetzt erst die Ideale der Freiheit auf dem Prüfstand stünden und sich Havel bald schon dem Widerspruch zwischen Politik und Dissidententum werde stellen müssen. Genau so geschah es.

Seit langem sucht man die Enttäuschung über die demokratische Wende im ehemaligen Ostblock zu erklären. Als Ursache für den postkommunistischen Populismus werden politische, ökonomische und kulturelle Gründe genannt. Am häufigsten steht die Entscheidung für eine radikale Liberalisierung der Wirtschaft in der Kritik. Erst in jüngerer Zeit aber sind kulturelle Ressentiments dazugekommen. So geben AfD-Wähler als Grund für ihre Sympathien an, von den Leuten «aus dem Westen» noch immer als «Bürger zweiter Klasse» behandelt zu werden. Unabhängig davon, ob solches stimmt oder nicht, herrscht im europäischen Osten eine Stimmung, die es unmöglich macht, beim Gedanken an das Jahr 1989 einfach nur Freude zu empfinden.

Komplexe Verhältnisse

Lässt sich aber das heutige Unbehagen auf Fehler herunterrechnen, die im Lauf der Transformation begangen wurden? Eher nicht. Auch muss man unterscheiden. Ein Blick auf die politischen Verhältnisse in Ostmitteleuropa zeigt, dass es bei allen Ähnlichkeiten in Bezug auf die liberale bzw. illiberale Verfassung der Gesellschaft grosse Unterschiede gibt. Fast möchte man den berühmten Satz von Tolstoi paraphrasieren: «Alle liberalen Demokratien sind einander ähnlich; aber jede illiberale Demokratie ist auf ihre besondere Art illiberal.»

Es gibt keine einfache Erklärung dafür, warum manche Länder der Region heute einen mustergültigen demokratischen Weg beschreiten, wie etwa die Slowakei (und dies auch erst nach mehrjährigen Turbulenzen in der Folge der autoritären Regierung Mečiar). In Polen betrifft die Kritik an der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) vornehmlich die Verletzung elementarer Standards in Sachen Rechtsstaatlichkeit. In Ungarn bekam die Fidesz-Partei von Viktor Orbán dermassen viel Zuspruch, dass die Verfassung ganz legal in seinem Sinn geändert werden konnte. Trotzdem kann man in diesen Ländern schwerlich von einem verlorenen Kampf um die Demokratie sprechen. So haben die polnischen Wähler 2019 entschieden, dass der Senat in die Hände der Opposition und der Sejm in die der rechtskonservativen PiS kommt. In Ungarn ging aus den Wahlen für den Oberbürgermeister in Budapest ein Oppositioneller als Sieger hervor – ein Triumph über Orbán.

Es geht um ein Gefühl, ein besonderes Gefühl – das Gefühl des Verlustes.

Gleichzeitig aber erinnern die Erfolge von Populisten in vielen westlichen Ländern – wie von Donald Trump in den USA und den Brexit-Befürwortern in Grossbritannien – zu sehr an das, was in Polen und Ungarn vonstattengeht, als dass man darum herumkäme, nach einer gemeinsamen Erklärung zu suchen. Tatsächlich lässt sich die Geschichte des illiberalen Populismus als Antwort auf den Neoliberalismus erzählen. Im Kern steht dabei ein in der Politik gern übersehener Teil der menschlichen Natur, nämlich die Emotionen. Genauer gesagt: Es geht um ein Gefühl, ein besonderes Gefühl – das Gefühl des Verlustes.

«Der Platz» heisst ein autobiografisches Buch der Französin Annie Ernaux. Es beginnt mit einer Bestattungsszene. Die bereits erwachsene Autorin blickt auf den Sarg, in dem der Leichnam ihres Vaters liegt, und das erste Wort, das ihr einfällt, ist «Schuld». Wie kommt dieses Gefühl zustande? Was Ernaux erzählt, ist die Geschichte ihrer persönlichen Entwicklung von der Tochter einer Bauernfamilie in der Normandie zur Lehrerin, zur Übersetzerin und zu einer der wichtigsten Intellektuellen Frankreichs.

Der multikulturelle Traum des Westens findet im wertkonservativen Polen nur begrenzt Anklang. – Vorstadt in Wroclaw/Breslau.

Der multikulturelle Traum des Westens findet im wertkonservativen Polen nur begrenzt Anklang. – Vorstadt in Wroclaw/Breslau.

Doch die Erzählung der Karriere ist auch die Geschichte eines Verlustes. Es geht um einen beidseitigen Verlust, denn wo Ernaux sich intellektuell hocharbeitet und ihren Geburtsort später verlässt, verliert sie nach und nach den Kontakt zum Vater, die Möglichkeit, mit ihm zu reden, die enge zwischenmenschliche Beziehung. Der Vater wiederum verliert seine Tochter und mit ihr ein Stück seiner Zukunft – die Hoffnung, die er hegte, unter ihrer Fürsorge alt werden zu dürfen.

Der Fortschritt und seine Kosten

Wenn wir an gesellschaftliche Veränderungen denken, halten wir uns gern den Gewinn vor Augen, den sie uns bringen werden. Seltener fällt unser Blick auf die sozialen und persönlichen Verluste. «Der Platz» ist eine universelle Erzählung über die menschlichen Kosten des sozialen Aufstiegs. Nach 1989 erlebten Millionen von Familien in Ostmitteleuropa dieses Drama. Selbst wenn sie den Profiteuren der Wende gehörten, stülpten die Veränderungen ihr Leben um. Es war eine paradoxe und ambivalente Erfahrung.

In Polen, das 2008 von der Finanz- und Euro-Krise verschont blieb, ist der Widerstand eines grossen Teils der Gesellschaft gegenüber der liberalen Demokratie nicht trotz ihrem gigantischen Erfolg entstanden, sondern – im Gegenteil – als Konsequenz ebendieses Erfolges.

So wie Charles Dickens in seiner 1789 spielenden «Geschichte aus zwei Städten» von einer «Periode des Lichts und der Finsternis», vom «Frühling der Hoffnung» und vom «Winter des Verzweifelns» schrieb, so brachte das Jahr 1989 einerseits revolutionären Fortschritt, der sich festmachen lässt an der Entwicklung der Infrastruktur, der Erhöhung der innergesellschaftlichen Mobilität, der Verbesserung des Lebensstandards – und anderseits ein durchdringendes Gefühl von Unsicherheit. Kompakte Lebenswelten lösten sich auf, alte Gewohnheiten wurden hinfällig, zwischenmenschliche Beziehungen zerfielen, und selbst das Ich kam sich abhanden.

Dabei hat der Verlust, von dem hier die Rede ist, nicht nur eine ostmitteleuropäische, sondern auch eine globale Dimension. «1989» bedeutete nämlich nicht nur das Ende der Epoche des Kommunismus, sondern auch den Beginn einer noch nie gesehenen Beschleunigung. Die Globalisierung kam in Gang und mit ihr ein Handel, der die Welt umspannte. Der technische Fortschritt ermöglichte eine ungeahnte neue Mobilität sowie schnellere und umfassendere Kommunikation – eine Entwicklung, die im Internet gipfelte. Hinzu kamen der Anstieg des Lebensniveaus in vielen Gesellschaften und der radikale Rückgang der Kindersterblichkeit.

Es ist das verbreitete Gefühl des Verlusts, dem ein regressiver Populismus entwächst. Man wünscht sich Fortschritt, doch zugleich soll alles so sein wie in den «guten alten Zeiten». Darum wiederholt die polnische Regierung unaufhörlich, dass sie es nicht erlaube, dass die traditionelle Familie zerstört werde. Und deshalb gewinnt Trump die Wahlen mit dem Slogan «Make America great again». Wenn sich illiberale populistische Politiker grosser Beliebtheit erfreuen, dann weniger deshalb, weil ihre Wähler den Gegner bereitwillig hassen, als deshalb, weil sie erfolgreich das mit den Verlusten verbundene Wut- und Frustrationsreservoir anzapfen. Autoren wie Steven Pinker, die mittels Daten nachweisen, dass wir in der besten aller bisherigen Welten leben, finden wenig Gehör. Denn sie sprechen den Verstand an, während populistische Politiker, ausgestattet mit feinem Gespür für enttäuschte Hoffnung, wachsendes Ressentiment und aufkeimenden Fremdenhass, ganz auf Gefühle setzen.

Ein neues Gleichgewicht finden

Kann es eine politische Antwort auf das Gefühl des Verlustes geben, ohne dass der Glaube an die liberale Demokratie und den Rechtsstaat infrage gestellt wird? Es käme grundsätzlich darauf an, den sentimentalen Blick auf die Vergangenheit mit dem hoffnungsvollen Blick auf die Zukunft in ein neues Gleichgewicht zu bringen. Derzeit indes hat der mythologisierende Blick in die Vergangenheit die Oberhand. Es herrscht Angst vor der Zukunft, und was fehlt, sind positive Visionen für die kommenden Jahrzehnte, die alle ansprechen. Technologische Utopien bleiben ungenügend, weil sie die Menschen innerlich kaltlassen. Auch wird man sich, wo der rasende Fortschritt zur Regel wird, verstärkt in eine Kultur des Umgangs mit Verlusten einüben müssen. Was auch Empathie und Verständnis umfasst: Wer selber Opfer von Ausgrenzung ist, sollte sich auch in andere einfühlen können: in ethnische und sexuelle Minderheiten, aber auch in politische Gegner. Wo der gesellschaftliche Dialog lebt, stehen liberale Demokratien gefestigt da gegenüber den autoritären Auswüchsen des Populismus.

1946 beschrieb George Orwell in einem Essay ein «neues intellektuelles Phänomen», das er den «Gradualismus der Katastrophe» nannte. Es geht um die Überzeugung, dass die Geschichte dem Prinzip aufeinanderfolgender Grausamkeiten gehorcht und jedes Jahrhundert genauso oder fast so schlimm wie das vergangene ist. Heute geht die Mär von der Unabwendbarkeit des Sieges der Populisten um. Dagegen gilt es den Glauben an die Freiheit des Individuums und mit ihm den Liberalismus hochzuhalten. Das kann aber nur aus einem tiefen Vertrauen in die Fähigkeit des Menschen geschehen, über sich selbst zu bestimmen. Die Zukunft muss offen und als Chance erscheinen, wenn wir nicht in den Sog eines gefährlichen Determinismus geraten wollen. Auch die grössten Sternstunden der Demokratie, wie das Jahr 1989 eine war, wären nicht möglich gewesen ohne die Hoffnung.

Der Historiker Jaroslaw Kuisz und die Soziologin Karolina Wigura sind Herausgeber der «Kultura Liberalna», einer der führenden intellektuellen Wochenzeitschriften Polens. Sie sind derzeit Stipendiaten am Wissenschaftskolleg zu Berlin. – Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Miller.