Hate Speech: Sprache kann verletzen, aber ganz anders als Gewalt
Kommentar

Sprache kann verletzen. Aber sie ist nicht mit Gewalt zu verwechseln

Hasserfülltes Sprechen ist in aller Munde; pausenlos wird über Zensur debattiert. Doch worüber reden wir eigentlich? Klar ist, es geht im Kern um Sprache. Vergessen geht dabei meist: Ihre Macht wird überschätzt.

Claudia Mäder
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Man mag Gemeinheiten noch so laut herausbrüllen – wie die angegriffenen Menschen mit den Worten umgehen, kann der Absender nicht bestimmen.

Man mag Gemeinheiten noch so laut herausbrüllen – wie die angegriffenen Menschen mit den Worten umgehen, kann der Absender nicht bestimmen.

Carlo Allegri / Reuters

Es ist gefährlich, diesen Text zu schreiben. Ich will niemanden verletzen oder treffen mit meinen Sätzen, es soll sich auch möglichst kein Leser vor den Kopf gestossen und keine Leserin gekränkt oder angegriffen fühlen, kurz: Ich möchte niemandem weh tun mit meinen Worten.

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Zu all diesen Dingen ist Sprache aber ganz selbstverständlich in der Lage. Gehörtes und Gelesenes kann einem kurz den Atem verschlagen, eine bissige Formulierung ist nicht selten als kleine Zuckung in der Magengegend zu spüren, und gewisse Sätze schlagen Wunden in die Seele, die auch nach Jahren der Vernarbung nicht vergessen gehen. Wer immer kommuniziert und fühlt, sich also als Mensch durch die Welt bewegt, hat diese Erfahrungen schon gemacht.

Dass Sprache auf ihre Art verletzen kann, ist also evident. Man brauchte darüber nicht länger zu reden, wenn einen die Politik nicht dazu zwänge, die Macht der Sprache wieder einmal genauer zu betrachten. Das kränkende Reden ist heute Gegenstand grosser Debatten, in denen eine besondere Form des Sprechens im Zentrum steht – die Hassrede, «hate speech», reizt das Verletzungspotenzial der Sprache gewissermassen bis aufs Letzte aus, indem sie Menschen mutwillig und niederträchtig beleidigt und diffamiert.

Eine traurige Diskussion

Ob solcher Sprachgebrauch gesetzlich reglementiert werden soll, wenn er homosexuelle Menschen trifft, steht zurzeit zur Diskussion, und der Verlauf derselben ist ein Trauerspiel. Seit Wochen dreht sich der Disput im Kreis. Auf der einen Seite wird «Zensur» geschrien, auf Meinungsfreiheit gepocht und darauf aufmerksam gemacht, dass Ehrverletzungen und Aufrufe zu Gewalt vom Gesetz bereits abgedeckt seien.

Auf der anderen Seite will man «ein Zeichen setzen» – in der Hoffnung, durch eine Strafrechtsanpassung die Gesellschaft zu verändern, Hass einzudämmen und exponierte Minderheiten besser zu schützen. Denn verbale Ausfälle, so die Logik, fördern nicht nur physische Gewaltakte. Nein, sie stellen eine eigene Form von Gewalt dar, die es zu bekämpfen gilt: «Angriffe gegen einen sensiblen Teil der eigenen Identität» sind «psychische Gewalt» und richten als solche beträchtliche Schäden an, wie es etwa in einem Communiqué aller Jungparteien jenseits der SVP heisst.

Alle Argumente und Gegenargumente sind sattsam bekannt, doch man vermisst jede tiefere Reflexion. Sicher sind auf der Gegnerseite radikale Heuchler zu finden, die die Meinungsfreiheit als Deckmantel benutzen, um ihre Homophobie zu kaschieren. Darauf kann man jederzeit zeigen, nur wäre es interessanter, einmal von derjenigen Sache zu reden, über die wir hier im Kern verhandeln. Letztlich geht es um die Sprache, und gerade die Befürworterseite scheint ein bemerkenswert unterkomplexes Verständnis von diesem Gegenstand zu haben: Hier ist ein quasimagisches Konzept am Werk, das die Kraft der Rede überschätzt, die Funktionsweisen der Sprache nicht genau hinterfragt – und dadurch zuletzt das Subjekt degradiert.

Dinge mit Worten machen

Kein Mensch kann die Existenz von sprachlich verursachten «Schäden» leugnen. Aber verbale Attacken, sosehr sie einen treffen, sind nicht mit dem zu verwechseln, was wir gemeinhin unter Gewalt verstehen und gesetzlich zum Beispiel als Körperverletzung ahnden. Diese Behauptung ist freilich nicht sehr populär; spätesten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist es üblich geworden, Gewalt und Sprache in einem Atemzug zu nennen.

Bis dahin hatte Gewalt eine physische Aktion bezeichnet, mit der ein Mensch einen anderen absichtlich verletzte – mithin eine Sache, die im Umgang der Bürger untereinander seit dem Mittelalter immer seltener wurde. Während aber die so definierte Gewalt zurückging, dehnte sich der Begriff stetig aus und begann immer weitere Phänomene zu umfassen. Die «strukturelle Gewalt», die namentlich dem kapitalistischen System inhärent sei, kam in den 1970er Jahren genauso dazu wie die «psychische Gewalt», als deren Waffen eben zum Beispiel die Worte fungierten.

Wohl haben die gesättigten Gesellschaften mit ihrer gesteigerten Sensibilität für alle individuellen Leiden dazu beigetragen, dass die Sprache in die Riege der Gewalttäter auf- oder absteigen konnte. Die Grundlagen dafür hat aber die Philosophie gelegt. 1955 hat J. L. Austin in einer Vorlesung die Sprechakttheorie entwickelt – «How to Do Things with Words» hiess das daraus entstandene Buch, das 1962 auf Englisch und 1972 auf Deutsch erschien. Es revolutionierte die Sprachphilosophie, denn sein Autor zeigte auf, wie Sprache die Welt nicht nur beschreibt, sondern verändert und wie die Sprachbenutzer mit ihren Sätzen nicht nur reden, sondern handeln.

Wenn nun Äusserungen Akte sind, liegt die Annahme nahe, dass Worte auch wie körperliche Taten auf ein Gegenüber wirken, gemeine Aussagen einen also wie Schläge ins Gesicht treffen – und entsprechend justiziabel sein müssen. In den USA, wo die Debatte um «hate speech» schon früh intensiv geführt wurde, trugen verschiedene Rechtswissenschafter in den 1990er Jahren eine solche Lesart der Sprache vor, um gesetzliche Massnahmen zu fordern. Jedoch erhoben sich dort auch kritische Stimmen. Namentlich Judith Butler trat den Rufen nach staatlicher Regulierung entgegen – es ist bedauerlich, dass die renommierte Gendertheoretikerin nicht auch auf diesem Feld Gefolgschaft fand.

Wie entsteht die Wirkung`?

Was Butler damals schrieb («Hass spricht», dt. 1998), ist bis heute bedenkenswert geblieben. Der Philosophin lag es fern, das Sprechaktmodell zu bezweifeln. Aber sie betonte eine entscheidende Nuance: «Die Gleichsetzung von Sprechen und Handeln beinhaltet nicht unbedingt, dass Sprechen auch effektiv handelt.» Sprachliche Handlungen, heisst das mit anderen Worten, können scheitern.

Zweifellos gibt es Aussagen, die eine Handlung direkt vollziehen. «Hiermit erkläre ich euch zu Frau und Frau» – sofern ich als Sprecherin Standesbeamtin und in einem aufgeschlossenen Land zu Hause bin, führt dieser Satz zwei ledige Menschen in den Stand der Ehe über. Und auch wenn ich hiermit hoch und heilig verspreche, niemals einen Tintenfisch zu essen, steht dieses Versprechen zusammen mit meiner Äusserung sofort und unmittelbar im Raum.

Doch längst nicht alle Sprechakte verfügen über diese direkte performative Kraft. Beleidigungen oder Diffamierungen, die eine Herabwürdigung intendieren, wirken gerade nicht auf diese Art. «Hiermit verletze ich alle Schwulen, diese perversen Schweine», ist ein Satz, der wohl gegen unser moralisches Empfinden, vor allem aber auch gegen die Funktionsweise unserer Sprache verstösst.

Wie viele andere Äusserungen gehört «hate speech» zu denjenigen Sprechakten, die ihre Wirkung – hier: die Verletzung – erst als Konsequenz entfalten. Das heisst: Zwar kann der Sprecher eine Beleidigung beabsichtigen, doch seine Intention kann jederzeit ins Leere laufen. Wie ich auf den Satz «Frauen sind minderbemittelte Wesen» reagiere, vermag der Absender dieser Botschaft nicht zu kontrollieren. Möglich, dass ich mich tatsächlich getroffen fühle, möglich aber auch, dass ich den Kopf schüttle oder mit einem zweistündigen Vortrag über Judith Butlers Theorie des Performativen widerspreche. In den letzteren beiden Fällen misslingt der verletzende Sprechakt.

Handlungsmacht zugestehen

Solche Überlegungen sind keine linguistischen Haarspaltereien. Sie zeigen, wie fundamental sich sprachliche von physischer Gewalt unterscheidet, und sie eröffnen dem Subjekt einen eigenen Handlungsspielraum. Zu einem harten Schlag aufs Schienbein kann sich ein Mensch nicht selbstbestimmt verhalten, sein Knochen bricht, ob er es will oder nicht. Zu Worten dagegen, die einem an den Kopf geworfen werden, kann man, wenn auch vielleicht erst nach einem Schock, eine eigene Haltung einnehmen und demnach über ihre Wirkung mitbestimmen.

Das soll mitnichten bedeuten, dass «hate speech» kein objektiv zu erkennendes und zu verurteilendes Sprechen wäre oder gar erst durch den Rezipienten entstünde. Nein, der Gedanke, wie Butler ihn entwickelt, ist einzig darauf ausgerichtet, die Diffamierten aus der Starre ihrer Opferrolle herauszuführen, ihnen die Kraft zur Widerrede zuzugestehen und dadurch «Formen des Widerstands zu denken, die nicht auf den Staat fixiert sind».

In dieser Optik dehnen rechtliche Strategien nämlich nicht nur die Staatsgewalt zusehends aus, sie schreiben die betroffenen Gruppen auch in jener Leidenssituation fest, der sie eigentlich zu entkommen suchen. Ebendies war für Butler die paradoxe Wirkung eines Sprachverständnisses, das Reden und Verhalten, Sätze und Verletzungen bruchlos in eins setzt und die adressierten Subjekte automatisch zu machtlosen Geschädigten erniedrigt: «Die These, dass ‹hate speech› eine ‹Opferschicht› erzeugt, verleugnet die kritische Handlungsmacht und unterstützt tendenziell Eingriffe, in denen die Handlungsmacht vollständig an den Staat übergeht.»

Die Ursachen liegen tiefer

Das quasimagische Denken, in dem Aussagen und Handlungen komplett verschmelzen, ist mit Butler zuletzt auch noch auf einer anderen Ebene problematisch. Wer nämlich Worte als Taten begreift, kommt schnell auf die Idee, dass sich zusammen mit wüsten Sätzen auch physische Akte aus der Welt entfernen liessen.

Es ist zum Beispiel, wie Butler schreibt, für konservative Kreise recht logisch, die Zensur von Gangsta-Rap zu fordern und dabei zu argumentieren, dass die harten Lyrics Gewalt in den Städten förderten, ja diese geradezu verkörperten. Nur machte man sich die Sache mit einem Verbot von Texten ziemlich leicht und blendete aus, dass die städtische Gewalt, zumindest in diesem amerikanischen Fall, in sozialen Bedingungen, Rassen- oder Armutsproblemen wurzelt.

Solche Ursachen aber sind nicht mit Wortregulierungen zu bekämpfen, und genauso wenig wird homophobes Denken und Handeln dadurch verschwinden, dass man schwulen- und lesbenfeindliches Sprechen stärker kriminalisiert. Auch hier ist Sprache eben nicht die Sache selbst; sie ist Ausdruck einer Sache. Natürlich kann man diesen Ausdruck gesetzlich ächten und so ein Zeichen setzen. Aber man sollte sich vorher genau überlegen, was dieses Zeichen bedeutet.