Konstruktiver Journalismus in Grün: Ein Selbstversuch mit dem Deutschlandfunk

Deutschlands öffentlichrechtliche Sender stehen in der Kritik. Wer zwei Tage intensiv zuhört, erkennt: Es ist nicht alles schlecht, doch auf Dauer entfaltet das Programm des Deutschlandfunks anästhesierende Wirkung. Den Klimawandel nehmen die Radioleute sehr ernst. Themen wie Kriminalität oder Asylpolitik spielen kaum eine Rolle.

Hansjörg Friedrich Müller, Berlin
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Das Funkhaus des Deutschlandfunks in Köln (rechts). Die Hochhäuser in der Bildmitte waren einst Sitz der Deutschen Welle und werden derzeit abgerissen.

Das Funkhaus des Deutschlandfunks in Köln (rechts). Die Hochhäuser in der Bildmitte waren einst Sitz der Deutschen Welle und werden derzeit abgerissen.

Imago

Nie zuvor in seiner Geschichte stand der öffentlichrechtliche Rundfunk in Deutschland stärker unter Druck als heute: Er nähre sich durch «Zwangsgebühren», sagen seine Kritiker; angesichts des Medienwandels sei er nicht mehr zeitgemäss, vor allem aber berichte er tendenziös, will heissen: zu links und zu regierungstreu. Weniger Rückhalt hatten die Anstalten nie. Als der Westdeutsche Rundfunk Ende Dezember den hauseigenen Kinderchor ein mutmasslich satirisch gemeintes Liedchen singen liess, in dem eine fiktive Grossmutter als «alte Umweltsau» geschmäht wurde, schien die halbe Nation zu schäumen.

Das Urteil, das viele über die Sender fällen, scheint allerdings oft eher auf Momentaufnahmen zu basieren als auf einer vertieften Betrachtung: Fehler bleiben eher im Gedächtnis als solide Leistungen; dümmliche und unverschämte Äusserungen, die Mitarbeiter der Sender privat auf Portalen wie Twitter absondern, werden pauschal ihren Arbeitgebern angelastet. Besonders häufig in der Kritik steht der Deutschlandfunk. Wer sich zwei Tage lang durch das Programm des Kölner Senders hört, kommt zwangsläufig zu einem differenzierteren Urteil, wie ein Selbstversuch Mitte Januar zeigt. Das bedeutet allerdings nicht, dass sämtliche Vorwürfe unberechtigt wären.

Eine hauseigene Expertin darf Benedikt XVI. zerlegen

Dienstagmorgen, 9 Uhr 30, Zeit für die täglichen «Informationen aus Religion und Gesellschaft». Klassische Musik von der heiteren Sorte leitet die Sendung ein. Wer meint, dass deswegen Harmonie angesagt wäre, irrt. Heute geht es unter anderen um das Buch, das der konservative Kardinal Robert Sarah geschrieben hat und als dessen Co-Autor zu diesem Zeitpunkt noch der zurückgetretene Papst Benedikt XVI. genannt wird. Sarah und Benedikt verteidigen darin den Zölibat.

«Der zurückgetretene Papst tritt nach», sagt die Moderatorin Monika Dittrich, wenig später lässt sie ihn «wettern». Das Buch «kann man wohl als Bevormundung des amtierenden Papstes werten», erklärt sie. Das kann man in der Tat, zumindest, wenn man schon in der Anmoderation eindeutig Partei ergreifen will.

Das Experteninterview zählt zu den Paradedisziplinen des Deutschlandfunks. Im Idealfall holt man sich damit Fachwissen ins Programm, über das man selbst nicht verfügt; oft scheint es aber auch nur darum zu gehen, sich die eigenen Ansichten bestätigen zu lassen und ihnen den Anschein von Objektivität zu verleihen. Was die beiden Päpste betrifft, wählt man beim Deutschlandfunk eine praktische Lösung und zieht als Expertin Christiane Florin bei, eine Kollegin aus der hauseigenen Redaktion «Religion und Gesellschaft».

Wo Florins Sympathie liegt, ist rasch klar: Im Vatikan sieht sie ein «autoritäres» und ein «plurales» Lager im Widerstreit, wobei sie Benedikt offenbar ersterem zurechnet, seinen Nachfolger Franziskus letzterem. Benedikt habe sich «den Phantasietitel ‹Papa emeritus› genehmigt», sehe sich «offenbar zu keiner Loyalität verpflichtet» und schade sich dadurch selbst, erklärt Florin. Einen Dokumentarfilm über einen Hausbesuch beim emeritierten Papst, den das Bayerische Fernsehen um die Weihnachtszeit ausgestrahlt hat, kanzelt die meinungsstarke Politologin als «billige Daily Soap» ab.

Die Nachrichten verbreiten oft die Sicht der Regierenden

Nachrichten strahlt der Deutschlandfunk in der Regel jede halbe Stunde aus. Wer sie anhört, versteht auf Anhieb, warum der Sender als staatstragend gilt: Ein Gutteil der Meldungen besteht in der blossen Wiedergabe von Verlautbarungen der Regierenden.

Dass dies oft weniger auf politische Vorlieben als auf geistige Trägheit zurückzuführen ist, zeigt eine Meldung aus Brasilien. Jair Bolsonaro, der rechte Präsident des Landes, der im Kölner Funkhaus kaum Sympathisanten haben dürfte, hat ein umfassendes Privatisierungsprogramm angekündigt. «Er will damit die Korruption bekämpfen», erklärt der Sprecher. So wird eine Begründung der Regierung als Tatsache präsentiert.

Das Magazin «Umwelt und Verbraucher» beschäftigt sich mit dem «Green New Deal» der EU, der an diesem Tag präsentiert wird. Die Pläne der EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen werden ausführlich vorgestellt, aber kaum hinterfragt. Peter Liese, ein christlichdemokratischer Abgeordneter im EU-Parlament, darf verkünden, dass durch von der Leyens Massnahmen viel Geld nach Deutschland fliessen werde. Am Ende steht doch noch ein wenig Kritik: Für die Umweltschutzorganisation WWF seien die Pläne der EU ein Schritt, der in die richtige Richtung gehe, allerdings noch nicht weit genug. «Genauso sehen es auch die Grünen im Europaparlament», endet der Korrespondentenbericht aus Strassburg.

Die für den Deutschlandfunk entscheidenden Autoritäten sind damit offenbar zitiert. Vertreter der Wirtschaft, denen Brüssel bald zahlreiche neue Regeln auferlegen wird, kommen nicht zu Wort. Dafür darf die sozialdemokratische Umweltministerin Svenja Schulze «mehr Nachhaltigkeit» fordern. In den Zielen sind sich Journalisten und Politiker offenbar einig; was die Methoden – nämlich mehr staatliche Regulierung – angeht, anscheinend auch. Wird die Politik einmal kritisiert, dann allenfalls dafür, dass sie noch nicht genug reguliert und zu wenig Geld ausgibt.

Die Umweltministerin tritt als Kronzeugin auf

Wer an diesem Tag über längere Zeit den Deutschlandfunk hört, kommt an einer Tatsache nicht vorbei: Es gibt ein neues «Unwort des Jahres»; es lautet «Klimahysterie». Die Begründung der Jury wird von den Nachrichtensprechern jede halbe Stunde verlesen. Der Begriff, so heisst es wieder und wieder, «pathologisiert pauschal das zunehmende Engagement für den Klimaschutz als eine Art kollektiver Psychose». Am frühen Abend beschäftigt sich auch die Sendung «Kultur heute» mit dem Thema. «Viel Lob gab’s für die Wahl», verkündet der Moderator Jörg Biesler. Zur Bestätigung zitiert er Umweltministerin Svenja Schulze.

Bei der Auswahl der Expertin, die zur Wahl des «Unworts» befragt wird, hat die Redaktion eine glückliche Hand. Es ist die Schriftstellerin Juli Zeh. Ihr Kommentar ist klug, überraschend und differenziert. Sie halte die Wahl für kontraproduktiv, sagt Zeh, denn die Jury habe sich damit auf eine Seite geschlagen. Besser wäre es gewesen, zwei «Unwörter» zu küren, nämlich «Klimahysterie» und «Klimaleugner». So hätte man beide Seiten kritisiert.

Auf dem Land in Brandenburg, wo sie wohne, erhöhe die ständige Beschäftigung mit dem Klimawandel den Zuspruch für rechte Parteien, berichtet Zeh. Und dann sagt sie einen Satz, der in den Ohren vieler Klimabewegter wie eine Ungeheuerlichkeit tönen muss. Die gesellschaftliche Spaltung sei «eher bedrohlich als der Klimawandel selber». Leider ist Zehs Zeit als Expertin nach sechseinhalb Minuten auch schon wieder um. Womöglich hätte sie noch mehr Interessantes zu sagen gehabt.

Dem Klimawandel kann keiner entgehen

Der Deutschlandfunk ist ein Programm für Hörer mit überdurchschnittlichem Interesse am politischen Geschehen. In den «Informationen am Morgen» können sich Politiker und Hauptstadt-Journalisten aufmunitionieren. Dem Klimawandel entgehen die Hörer auch hier nicht, zumindest nicht an diesem Mittwoch: «Wo man hinschaut, Strukturwandel in Deutschland. Nötig wäre er, raus aus der Verbrennung!», ruft die Moderatorin Christine Heuer, als hätte sie die Absicht, einen Tagesbefehl auszugeben.

Was folgt, ist unter anderem ein interessanter Beitrag, der sich mit ebenjenen Konflikten beschäftigt, die Juli Zeh am Vorabend angedeutet hat: Es geht um Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Linkspartei, die durch die Klimapolitik aufgebrochen sind. «Wir dürfen nicht grüner als die Grünen werden», ermahnt der Bundestagsabgeordnete Klaus Ernst seine Parteikollegen.

«Ich kann in meinem Dorf in Vorpommern nicht sagen, der Verbrennungsmotor ist bald weg», sagt Dietmar Bartsch, einer der Fraktionschefs der Partei. Vor allem für junge Aktivisten sei das Thema wichtig; nun werde es für innerparteiliche Machtkämpfe instrumentalisiert, erklärt Bartsch. Der Politiker liefert damit die distanzierte Analyse, die man von den Journalisten erwarten würde.

Ein Programm, frei von Ironie, Polemik und Zynismus

Wer den Deutschlandfunk mit privaten Medien vergleicht, dem fällt vor allem eines auf: die nahezu vollständige Abwesenheit von Ironie, Polemik und Zynismus. Der journalistische Ansatz ist häufig ein konstruktiver. Das gilt auch für die «Länderzeit» am frühen Vormittag, die an diesem Tag live aus der Islamischen Gemeinde Herne-Röhlinghausen im Ruhrgebiet ausgestrahlt wird.

Manche Hörer dürfte allein schon die Versuchsanlage der Sendung auf die Palme bringen, denn es ist zweifellos eine Vorzeige-Gemeinde, die hier präsentiert wird: Alle sprechen perfekt Deutsch und scheinen herzensgute Menschen zu sein. Der Vorsitzende Tuncay Nazik gratuliert Christen und Juden zu deren Feiertagen; regelmässig lädt die Islamische Gemeinde auch Nichtmuslime zu Kochkursen und anderen Aktivitäten ein. Zuerst habe sie gedacht: «Meine Güte, Moschee, da kannste nicht hin», berichtet eine katholische Nachbarin. Jetzt finde sie die Gemeinde toll.

Man kann diese Begeisterung naiv finden, doch gehört die gelungene Integration in Röhlinghausen genauso zur muslimischen Realität in Deutschland wie kriminelle Clans oder salafistische Fanatiker. Über Erfolge zu berichten, ist ebenso legitim, wie Probleme zu zeigen, zumal weder der Moderator Jürgen Wiebicke noch seine Gesprächspartner irgendetwas schönzureden versuchen.

«Dann melden wir uns heute vom Ort der Ausnahme», konstatiert Wiebicke, nachdem der Migrationsforscher Michael Kiefer erklärt hat, er kenne nicht viele muslimische Gemeinden, die sich so klar gegen Extremismus aussprächen wie die Röhlinghausener Muslime. Auch Nazik ist sich der eigenen Ausnahmestellung bewusst. Weil sich seine Gemeinde nicht auf die Seite der türkischen Regierung schlage, werde er von manchen Muslimen «als Vaterlandsverräter abgestempelt», berichtet er. Dass Mitglieder die Gemeinde verlassen und sich fundamentalistischen Organisationen angeschlossen hätten, sei auch schon vorgekommen. Es läuft vieles gut in Röhlinghausen, doch eine heile Welt wird den Zuhörern nicht vorgegaukelt.

Nicht lustig, aber interessant: deutscher Humor im Wandel

Humor zählt nicht zu den Stärken des Deutschlandfunks. Bereits der Name der Sendung «Querköpfe – Kabarett, Comedy und schräge Lieder», die am Mittwochabend ausgestrahlt wird, klingt leicht bedrohlich. Leider sieht sich der Hörer in seinen Vorbehalten bestätigt. Ruft der Mann auf der Bühne «Habemus Groko», wird im Publikum bereits gelacht. Setzt er dann noch hinzu: «und das mit der gleichen, altbekannten Päpstin», vermögen sich einige kaum mehr zu halten. Thema der Sendung ist heute «die grosse Koalition als Spottmaterial für das Kabarett».

Schon das erste, 1966 gebildete Bündnis von CDU, CSU und SPD sei unter Kabarettisten auf wenig Zustimmung gestossen, ist zu erfahren, wobei sich bald herauskristallisiert, dass die Humoristen schlicht und einfach keine Freunde der Unionsparteien waren. Es störte sie, dass die SPD tun musste, was jeder Partner in einem solchen Bündnis tun muss, nämlich Kompromisse eingehen. «Wenn man nicht haargenau wie die CDU denkt, fliegt man aus der SPD», rief der Kabarettist Wolfgang Neuss seinerzeit von der Bühne. Schon damals litten Sozialdemokraten in der Koalition mehr als Christlichdemokraten und Christlichsoziale.

Politische Kabarettisten in Deutschland müssen nicht zwangsläufig lustig sein; es genügt, auf der Bühne als gispliger, dauerempörter Bürger aufzutreten. Trotzdem ist die Sendung interessant, und zwar aus einem Grund: Der Vergleich zwischen den 1960er Jahren und heute zeigt, wie sehr die Kunstform aus der Zeit gefallen ist. Damals waren die CDU und noch mehr die bayrische CSU die Feindbilder der Humorarbeiter – und heute, das ist das eigentlich Verblüffende, sind sie es immer noch, so, als hätte sich im ideologischen Koordinatensystem der Republik rein gar nichts geändert.

Wahrscheinlich ist das politische Kabarett einer der letzten Orte, wo die Union noch konsequent von links angegriffen wird. Dass ein «bräsiger Heimatmuseumswächter» wie der christlichsoziale Innenminister Horst Seehofer das wichtigste Ministerium übernommen habe, sei nicht zu begreifen, sagt ein Kabarettist. Die Kanzlerin komme ja «aus einem Land, wo es eine Einheitspartei gab, das führt sie jetzt wieder ein», ruft ein anderer. Das wiederum könnte genauso gut ein Vertreter der AfD gesagt haben, die für die Kabarettisten erstaunlicherweise kaum eine Rolle zu spielen scheint.

Twitter ist eine Parallelwelt, der Deutschlandfunk auch

Ausgewogenheit beginnt in der Themensetzung. Wer die oftmals aufgeregten Debatten in den sozialen Netzwerken verfolgt und dann den Deutschlandfunk einschaltet, meint, in ein anderes Land ausgewandert zu sein. Kriminalität, Integrationsprobleme und Asylpolitik spielen zumindest an diesen zwei Tagen praktisch keine Rolle; Umwelt- und Klimapolitik dominieren. Früher, da schmähten Konservative die öffentlichrechtlichen Anstalten als «Rotfunk»; würden sie heute von einem «Grünfunk» reden, kämen sie der Wahrheit wohl recht nahe.

Es ist nicht alles schlecht im Deutschlandfunk, doch auf die Dauer entfaltet das Programm anästhesierende Wirkung. Diskussionen auf Portalen wie Twitter mögen oft wirken, als fänden sie in einer Parallelwelt statt, doch für das Programm des Deutschlandfunks gilt dasselbe. Und im Gegensatz zu vielen Zeitungen macht sich der Sender erst gar nicht die Mühe, Themen aufzugreifen, die weite Teile der Bevölkerung ganz offensichtlich bewegen. Das ist das eigentliche Problem der öffentlichrechtlichen Anstalten. Je eher sie es erkennen, desto grösser ist ihre Chance, relevant zu bleiben.

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