Krimtschaken, Juden und Karäer

Die ethnischen und religiösen Mikrominderheiten auf der Krim können mit der russischen Herrschaft leben. Aber die meisten waren mit den Ukrainern glücklicher.

Ulrich Schmid, Simferopol
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Grabsteine auf einem Friedhof von Karäern, einer kleinen Minderheit auf der Krim.

Grabsteine auf einem Friedhof von Karäern, einer kleinen Minderheit auf der Krim.

Sergei Malgawko / Tass / Getty

Wjatscheslaw Lebedew hat ein Problem. Eigentlich ist der bärtige Senior mit dem wallenden weissen Haar ein begeisterter Freund Putins und der Russen. Schon 1991, beim Zerfall der Sowjetunion, hatte er vor dem Kreml für die Rückkehr der Krim unter die Herrschaft Moskaus demonstriert, mit russischen und sowjetischen Fähnchen, mit Hüten und Anstecknadeln, ein patriotisches Original, eher belächelt als bewundert. Jetzt ist das Ziel erreicht. Die Krim ist russisch, und Lebedew sollte froh und glücklich sein. Das ist er aber nicht: «Unter den Ukrainern ging es uns viel besser!»

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«Kiew hat sich um uns gekümmert»

Wenn Lebedew «uns» sagt, meint er die Karäer, ein winziges Turkvolk, das vor gut tausend Jahren im heutigen Südrussland lebte und einen jüdisch geprägten Glauben annahm. Die Karäer lehnen den Talmud und die mündlichen Überlieferungen des rabbinischen Judentums ab, ihre spirituelle Quelle ist das Alte Testament. Mit dem Judentum haben sie seit längerem nichts mehr am Hut, weshalb die Nazis sie im Zweiten Weltkrieg am Leben liessen. 900 Karäer starben dennoch im Krieg, aber als Sowjetsoldaten. Heute leben nur noch rund 500 Angehörige dieses Volkes auf der Krim, die meisten in grösseren Städten wie Simferopol und Sewastopol. Ihr Zentrum befindet sich in der nordwestlichen Stadt Jewpatorija.

Lebedew ist nur «ein halber Karäer», da sein Vater Russe war. Aber im Kampf um die Rechte der Karäer kennt er keine Halbheiten, und umso drolliger wirkt seine Verzweiflung über die Kühle seiner angebeteten Russen. «Kiew, ich muss es sagen, hat sich um die Minderheiten gekümmert. Hat sie unterstützt, organisatorisch und finanziell. Und Russland? Kümmert sich einen Deut um uns. Denen sind wir komplett egal.»

Es ehrt Lebedew, dass er ehrlich bleibt trotz seiner Liebe zum Kreml. In Russland können Völker mit weniger als 50 000 Menschen den Status eines «alteingesessenen Volkes» beantragen, womit Vorteile wie kostenloser Schulunterricht, punktuelle Subventionen oder die Rückgabe von Immobilien verbunden sein können. Selbstverständlich habe man diese Vorrechte beantragt, sagt Igor Schaitan, der Vizechef der Karäer auf der Krim. «Aber in Moskau regte sich nichts.» Überhaupt ist es ein Elend. Die karäische Schule ist geschlossen. Die Jungen interessieren sich nicht mehr für die Traditionen, kaum jemand spricht noch die alte, melodiöse Turksprache. Alle sind säkular, und selbst der vitale Lebedew bezweifelt, dass es die Karäer hier auf der Krim in hundert Jahren noch geben wird.

Schaitan zitiert ein paar Zeilen aus einem alten karäischen Gedicht, seine Stimme wird sofort langsamer, getragener. Das Karäische gehört wie das Aserische, das Gagausische oder das Uigurische zu den Turksprachen. Weltweit zählt man heute rund 2000 «echte» Karäer, dazu kommen laut Schaitan «die nicht ganz echten», die rund 20 000 bis 30 000 ägyptischen Karäer, die zwar den Glauben angenommen haben, aber Araber sind und damit eben kein Turkvolk. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die Krim-Karäer schauten etwas auf die arabischen Karäer herab.

Igor Schaitan (Mitte) bei einem Gottesdienst mit anderen Mitgliedern der karäischen Minderheit in Simferopol.

Igor Schaitan (Mitte) bei einem Gottesdienst mit anderen Mitgliedern der karäischen Minderheit in Simferopol.

Sergei Malgawko / Tass / Getty

Desinteressierte Jugend

Eine noch winzigere Minderheit als die Karäer sind die Krimtschaken. Die drei Personen, die in ihrem Hauptquartier in Simferopol ehrenamtlich arbeiten, sind schon mehr als ein Prozent ihres gesamten Volkes. Die Krimtschaken sind ein Kuriosum: Wie die Karäer sind sie eine turksprachige Minderheit, aber eine jüdischen Glaubens. In sowjetischer Zeit lebten rund 10 000 Krimtschaken auf der Krim. Von ihnen erschossen die Nazis rund 7000, sie machten keinen Unterschied zwischen Juden und Krimtschaken. Heute zählt man noch 228 Krimtschaken auf der Krim, dazu kommen 51 in Sewastopol (die Stadt ist in der Sicht Moskaus verwaltungstechnisch ein eigenständiges Subjekt der Russischen Föderation).

Dora Towjewna, Vorsitzende der Gesellschaft der Krimtschaken.

Dora Towjewna, Vorsitzende der Gesellschaft der Krimtschaken.

Ulrich Schmid

Dora Towjewna ist die Chefin der Gesellschaft der Krimtschaken. Zusammen mit zwei ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen führt sie das kleine historische Museum nebenan und redigiert die Broschüren, Alben und Almanache, mit denen sie unermüdlich für die Bewahrung ihrer Kultur kämpft. Ihr Eifer ist gross, doch wie bei den Karäern hat man nicht wirklich den Eindruck, die Krimtschaken glaubten an eine lichte, prosperierende Zukunft. Und Towjewna wandelt auf schmalem Grat. Einerseits beklagt sie, dass Moskau die Krimtschaken bis heute nicht als «alteingesessenes Volk» anerkenne. Überhaupt sei es den Krimtschaken unter ukrainischer Herrschaft eindeutig besser gegangen als heute. Anderseits legt Towjewna Wert auf die Feststellung, auch in Russland lasse es sich leben, und mit mehr als einem Anflug von Stolz erwähnt sie, dass es 2014 in Sewastopol sogar zu einer direkten Begegnung zwischen den Krimtschaken und «Wladimir Wladimirowitsch Putin, unserem Staatspräsidenten», gekommen sei.

Dass die Krimtschaken ums Überleben bangen, hat denn laut Towjewna auch mehr mit eigenen Sünden als mangelnder Hilfe zu tun. Rituale und Traditionen werden vernachlässigt. Die Moderne lockt. Und das Ethnische ist wichtiger als das Religiöse. Tiefgläubig oder «orthodox» ist kein Krimtschak, es regieren Säkularismus und religiöses Desinteresse. Dora Towjewna blickt traurig, man verlässt die gastfreundlichen, liebenswürdigen Krimtschaken mit dem Gefühl, sie könnten bald zu den ausgestorbenen Völkern gehören.

Der lange Schatten des Vaters

Eine weitaus positivere Einstellung gegenüber Russland, der Annexion der Krim und vor allem dem Staatsführer Putin zeigen die «richtigen» Juden auf der Krim. Die kleine Synagoge im Zentrum Simferopols ist das Reich des Rabbiners Ezechiel Lasar. Er kam 2014, unmittelbar nach der Annexion und noch nicht 25 Jahre alt, nach Simferopol, um die Leitung der hiesigen chassidischen Gemeinde zu übernehmen. Ein Zufall? Ganz gewiss nicht, denn Ezechiels Vater, Berel Lasar, ist der Oberrabbiner von Russland und ein guter Freund Putins.

Geboren in Mailand, hat der Chabad-Chassid Berel Lasar eine atemraubende Karriere hingelegt. Seit 2000 ist er russischer Staatsbürger. Er kennt die Machtelite in Moskau, 2004 ehrte ihn Putin mit dem Orden der Freundschaft. Möglich, dass er das dem Präsidenten zehn Jahre später dankte, indem er seinen Sohn auf die Krim schickte, die eben russisch geworden war. Ezechiel, der junge Rabbiner, weiss zu seiner Inthronisierung nicht eben viel zu sagen. Sein Vorgänger in Simferopol, Rabbiner Yitzhak Meyer Lipschitz, sei halt «gegangen». Warum, wisse er nicht. Es sei aber bekannt gewesen, dass Lipschitz die Annexion der Krim «gar nicht schätzte».

Ezechiel Lasar, Rabbiner in Simferopol.

Ezechiel Lasar, Rabbiner in Simferopol.

Ulrich Schmid

Man kann das so sagen. Man könnte auch sagen, dass die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine die jüdische Gemeinde zutiefst entzweit hat. Über 32 000 Juden sind seit 2014 nach Israel geflohen. In Dnipro etablierte sich das Zentrum des jüdischen Widerstandes gegen Putin. Der Rabbiner Schmuel Kaminezki wetterte in seinen Predigten gegen Putin und sprach vom «neuen Haman» – der biblische Haman taucht als Ratgeber des Perserkönigs Xerxes und mörderischer Unhold im Buch Esther auf. Bei Berel Lasar und Putin kam dieser kühne Vergleich nicht gut an, und es folgte ein langer, intensiver Propagandakrieg zwischen Anhängern und Feinden der Annexion. Putin stellte sich als Retter der Juden dar und ging so weit, den angeblichen Antisemitismus auf der Krim als einen der Gründe für seine Intervention anzuführen. Die «Wiedergeburt von nazistischem Gedankengut» in der Ukraine sei unerträglich.

Der in Brooklyn geborene ukrainische Oberrabbiner Dov Bleich wiederum beschuldigte den Herrn im Kreml, «Taktiken des Dritten Reiches» anzuwenden. Die rhetorische Schlacht wogte jahrelang, im Grunde dauert sie bis heute an. In einem ist man sich allerdings einig: Juden auf beiden Seiten, der proukrainischen ebenso wie der prorussischen, taten viel für die Flüchtlinge. Mittlerweile sind weit über 70 Prozent der Juden, die in der Ostukraine lebten, geflohen, die meisten nach Israel.

Lieber unabhängig

Die jüdische Krim jedenfalls ist fest in russischer Hand, und der junge Ezechiel Lasar gerät ins Schwärmen, wenn er über Putin spricht: Die politischen Rahmenbedingungen seien gut. Russland sei gut zu den Juden. Das Verhältnis zu den übrigen Religionsgruppen sei gut. Was nicht so gut sei, eigentlich sogar betrüblich, sei der Mangel an Spiritualität. Genaues will Lasar nicht sagen. Doch Fain Pinkas-Eli, der Administrator der Synagoge, verrät, dass von den 15 000 Juden auf der Krim vielleicht gerade einmal 300 wirklich religiös seien und regelmässig in der Synagoge auftauchten. Das ist nicht zu leugnen: An Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, erscheint ein zwar wohlgemutes, aber winziges Grüppchen.

Ezechiel Lasar lässt sich davon nicht entmutigen. Mit dem Bau von Yeshiva-Schulen, mit intensivem Religionsunterricht und mit Gottes Hilfe will er dafür sorgen, dass «die Juden wieder jüdisch werden» und die traurig niedrige Geburtenrate wieder ansteigt. «Ich will die jüdische Seele erwecken.» Wäre bei alledem ein wenig Staatsgeld nicht hilfreich? Könnten die Juden nicht beantragen, ein «alteingesessenes Volk» zu werden? Doch Lasar winkt ab. Anders als die Karäer und die Krimtschaken reissen sich die Juden der Krim nicht um diesen Sonderstatus. Er werde keinen Antrag stellen, sagt Lasar. Es gebe nichts gratis auf dieser Welt – es hiesse, bestimmte Bedingungen zu akzeptieren. Und das wolle er nicht. «Wir bleiben lieber unabhängig.»