Träume: Beeinflussen sie unser Verhalten?

Weit mehr als die Hälfte der Schlafenszeit verbringen wir im Traum. Die dabei entstehenden Traumwelten und Geschichten dienen nicht nur der Unterhaltung des schlafenden Gehirns.

Gwendolin Schönfeld
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Im Laufe der Nacht verändern sich die Träume, von anfangs unzusammenhängenden Bild-Fetzen bis zu bunten Traumgeschichten.

Im Laufe der Nacht verändern sich die Träume, von anfangs unzusammenhängenden Bild-Fetzen bis zu bunten Traumgeschichten.

Gjon Mili, The LIFE Picture Collection

Armond wird unsanft aus dem Schlaf gerissen. Vor ihm steht sein Vater – in heller Aufregung. Der Achtjährige gähnt, wie gerne hätte er weitergeschlafen, er hatte so schön geträumt.

So oder so ähnlich kann man sich den Beginn der modernen Schlafforschung in einem Labor im Keller der Universität Chicago im Jahr 1953 vorstellen: Eugene Aserinsky ist Biologie-Doktorand und hat seinen Sohn zu einem kleinen Experiment überredet. Aserinsky klebt Elektroden auf den Kopf des Jungen, um dessen Gehirnströme zu messen. Nach kurzer Zeit schläft Armond ein. Nach knapp eineinhalb Stunden jedoch zeigen die Messgeräte starke Auslenkungen. Aserinsky eilt zu seinem Sohn, da er glaubt, der Junge sei erwacht. Aber Armond schläft entspannt in seinem Bett. Nur seine Augäpfel bewegen sich schnell unter den geschlossenen Liedern. Nach dem Wecken berichtet der Achtjährige von einem lebhaften Traum.

Aserinsky stürzt sich in die Arbeit. Er bittet weitere Studienteilnehmer ins Schlaflabor, und nach wenigen Monaten publiziert er zusammen mit seinem Doktorvater Nataniel Kleitman eine Studie, die belegt, dass 74 Prozent der Testpersonen nach dem Erwachen aus einem Schlaf mit schnellen Augenbewegungen (Rapid Eye Movement, REM) von Träumen berichten. Seither wird diese Schlafphase REM-Schlaf genannt.

«Die ganze heutige Schlafforschung hat mit Träumen und REM-Schlaf begonnen», erklärt der Schlafforscher Reto Huber, dessen Forschungsgruppe am Kinderspital Zürich über den Zusammenhang von Schlaf und Hirnentwicklung bei Kindern forscht. «Man hat erkannt, dass Schlaf nicht einfach nur die Gehirnzellen abschaltet, sondern dass etwas im Gehirn passiert.»

Mystische Zeichen der Götter

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Träume als mystische Zeichen der Götter oder als Prophezeiungen verstanden. Der Psychologe Sigmund Freud interpretierte sie als Ventil für unterdrückte Wünsche. Träume blieben damals Gedankenspiele ohne nachweisbare Auswirkungen auf den Träumenden und die reale Welt.

Die Entdeckung des REM-Schlafs schuf den Grundstein für einen naturwissenschaftlichen Zugang zu Träumen und den begleitenden Gehirnaktivitäten. 66 Jahre nach Aserinsky wissen Schlafforscher, dass Träume spezifische Aktivitätsmuster in unseren nachtschlafenden Gehirnen generieren und womöglich beeinflussen sie sogar unser Verhalten und unsere kognitiven Fähigkeiten am Tag.

Schlaf und Traum sind untrennbar

Schlaf und Traum sind fast untrennbar miteinander verschmolzen, und sogar in der Fachliteratur werden beide Begriffe häufig synonym verwendet. Psychologische Studien belegen, dass der Mensch im Schlaf fast immer träumt. Probanden, die aus NREM-Schlaf geweckt wurden, berichteten in 50 bis 70 Prozent der Fälle von einem Traum, und nach dem Erwachen aus dem REM-Schlaf waren es sogar 75 bis 90 Prozent der Probanden. Jedoch können Inhalt, Lebhaftigkeit oder Emotionalität der Träume über die Nacht hinweg stark variieren.

Wenn unser Gehirn in den Schlaf fällt, durchlaufen wir zunächst NREM-Schlaf (No Rapid Eye Movement, NREM). Diese Art von Schlaf dominiert in der ersten Nachthälfte und bewirkt, dass wir am Morgen erholt erwachen. Tiefschlaf ist eine Form des NREM-Schlafes. Häufig verarbeiten Menschen im NREM-Schlaf Erlebnisse und Aspekte des unmittelbaren Alltags, beispielsweise das Kapitel des Buches, welches man vor dem Einschlafen gelesen hat, oder die Unterhaltung beim Abendessen. Diese Träume sind meist fragmentiert und zeigen schnelle Schnappschüsse des vergangenen Tages. Es fehlt ihnen an Kohärenz, Lebhaftigkeit, und sie rufen nur selten Emotionen hervor.

Später in der Nacht verweilt das Gehirn länger in REM-Schlafphasen. Dieser Schlaf ist weniger tief, und auch die Hirnaktivität erinnert eher an den Wachzustand, wie Aserinsky zeigte. Die Träume im REM-Schlaf werden bunter und aktiver. Dies ist der Teil der Nacht, in dem wir richtige Traumgeschichten erleben und uns als Teil des Geschehens fühlen. Auch hier werden alltägliche Erlebnisse verarbeitet, dies aber im Kontext von lang anhaltenden Interessen, Gedanken oder Sorgen. Beispielsweise können REM-Träume Aspekte wie die Freude auf die bevorstehenden Skiferien verarbeiten oder auch die Sorge, die nächste Beförderung am Arbeitsplatz nicht zu erhalten. Diese Szenarien werden lebhaft und sehr emotional ausgeschmückt. Wir nehmen unsere Traumumwelt detailliert wahr und erleben euphorische Freude oder schreckliche Angst.

Um Träume wissenschaftlich zu erforschen, ist man auf Traumberichte angewiesen. Eine etablierte Methode ist das wiederholte Aufwecken der Probanden während der Nacht. Natürlich sind solche Berichte sehr variabel und subjektiv. Für stichhaltige Ergebnisse werden häufig verschiedene Studien zusammengeführt. Diese Meta-Studien umfassen dann Hunderte von Probanden und ermöglichen den Forschern einen soliden Überblick.

Bisher ist es nicht gelungen, Träumen eine physiologische Funktion per se zuzuschreiben. Vielmehr werden Träume als eine vom Gehirn geschaffene Bühne betrachtet, die die richtigen Bedingungen bereitstellt, um spezielle kognitive Prozesse des Gehirns zu unterstützen. Denn Träume können mit Veränderungen unseres Verhaltens und kognitiven Fähigkeiten im Wachzustand in Zusammenhang gebracht werden.

Das Gedächtnis stärken

Speziell NREM-Tiefschlaf konnte damit assoziiert werden, dass sich gelernte Inhalte besser in unserem Gedächtnis verfestigen. Es gebe gute Hinweise, dass Schlaf und Lernen sehr eng mit einander verbunden seien, sagt Huber. Natürlich finde Lernen hauptsächlich während des wachen Zustands statt. Aber es scheine so, dass es im Schlaf zu einer Verfestigung der gelernten Inhalte komme, so dass sie am nächsten Tag besser abgerufen werden könnten.

Ein Forscherteam aus Zürich, Freiburg i. Ü. und Mannheim, unter der Leitung des Psychologen Björn Rasch, untersuchte, ob am Abend gelernte Wort-Bild-Paare in Träume eingebaut werden und wie sich dies auf die Erinnerungsfähigkeit der Probanden am nächsten Morgen auswirkte. Vor dem Zubettgehen lernten die Probanden 100 Wort-Bild-Paare mit dem Wissen, dass am Morgen ein «Vokabeltest» stattfinden wird. Danach übernachteten die Probanden im Schlaflabor, und ihre Gehirnströme wurden konstant überwacht.

In der Nacht weckten die Forscher die Probanden mehrmals, sowohl im NREM- als auch im REM-Schlaf, und baten sie, von ihren Träumen zu berichten. Probanden, die die Wort-Bild-Paare in ihre NREM-Träume eingebaut hatten, schnitten beim Test am nächsten Morgen im Durchschnitt 5 Prozent besser ab als Probanden, die von anderen Dingen geträumt hatten. Somit scheint, dass das Wiederaufgreifen von Erlebnissen im NREM-Schlaf positive Auswirkungen auf unser Erinnerungsvermögen hat.

«Aber ich wäre sehr vorsichtig eine Aussage über die Funktion von Träumen zu machen», sagt Huber. Zwar zeige diese Studie eine Korrelation zwischen Trauminhalten und besserem Lernerfolg, aber ob die Träume der Grund dafür seien, sei damit noch nicht erwiesen.

Mit klopfendem Herzen aufwachen

REM-Träume werden häufig als sehr emotional beschrieben. Erwachen wir mitten in der Nacht mit klopfendem Herzen, war es sehr wahrscheinlich ein REM-Traum, aus dem wir aufgeschreckt sind. Da REM-Träume häufig mit Angst in Zusammenhang gebracht werden, wurde die Hypothese aufgestellt, dass in diesen Träumen mögliche Gefahren simuliert werden und das Gehirn Fluchtszenarien für den Ernstfall erprobt.

Diese Hypothese wird durch eine aktuelle Studie der Universität Genf gestützt. Das Forscherteam um die Neurowissenschafter Virginie Sterpenich und Lampros Perogamvros bestätigte, dass beängstigende Träume einen Effekt darauf haben, wie stark man auf furchteinflössende Situationen im Wachzustand reagiert. Die Forscher zeigten den Probanden Fotos von angstauslösenden Situationen und zeichneten währenddessen ihre Hirnaktivität mittels funktioneller Magnetresonanztomografie auf. Probanden, die häufig von beängstigenden Träumen in ihrem Nachtschlaf berichteten, reagierten weniger stark auf die negativen Fotografien. Speziell die Hirnregion Amygdala, die als Angstzentrum des Gehirns gilt, zeigte durchschnittlich weniger Aktivität.

Angst im Albtraum

In diesem Kontext sind Albträume ein Extremfall. Man geht davon aus, dass das Gehirn maximal bedrohliche Szenarien kreiert, aus denen der Träumende nicht entrinnen kann. Die letzte Option ist dann die Flucht in die Realität und das schweissgebadete Aufwachen im eigenen Bett. Albträume dienen auch als Diagnosekriterium für einige psychische Erkrankungen, wie beispielsweise posttraumatische Belastungsstörungen. Doch auch viele gesunde Menschen, und speziell Kinder, erleben Albträume.

Ein kanadisches Forscherteam untersuchte die Unterschiede in der Hirnaktivität von gesunden Personen, die mehr als einen Albtraum pro Woche erleben, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe mit wenigen Albträumen pro Monat. Zur Überraschung der Forscher unterschieden sich die Aktivitäten der beiden Gruppen deutlich; nicht nur während des REM-Schlafes, sondern auch während des Wachzustandes. In den EEG-Messungen beobachteten sie mehr oszillierende Aktivität im Stirnlappen der Albtraum-geplagten Personen. Diese Oszillationen werden assoziiert mit dem Informationsaustausch zwischen dem Angstzentrum Amygdala und der Gehirnrinde, wo die bewusste Wahrnehmung stattfindet.

Die Wissenschafter vermuten, dass die Gehirne von Menschen mit vielen Albträumen besonders einfach Angstsignale generieren und verarbeiten können, sowohl im Schlaf als auch im Wachzustand. Eine Untersuchung der Universität Sydney stützt diese Hypothese. Schüler im Alter zwischen 12 und 19 Jahren, die häufig von Albträumen berichteten, reagierten stärker auf Stress im Schulalltag und erlebten schneller Angstzustände.

Somit scheint sich ein gesundes Mass an gruseligen REM-Träumen positiv auf die emotionale Stabilität auszuwirken. Reagiert man jedoch von Natur aus sensibel auf negative Reize, können aus emotionalen Träumen schnell Albträume werden. Ob und wie sich das auf unser alltägliches Erleben auswirkt, ist wissenschaftlich noch kaum erforscht. Von Albträumen einmal abgesehen, scheint es aber, dass Träume nicht nur unser Erleben am Tag spiegeln, sondern dass sie auch beeinflussen, wie wir im echten Leben agieren.