Nemo kann mehr als nur verloren gehen

Clownfische sind nicht nur bei Kinobesuchern beliebt, sondern auch bei Forschern. Sie können an ihnen gleich mehrere Phänomene der Biologie studieren – vom Geschlechtswechsel bis zur Symbiose.

Kurt de Swaaf
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Clownfische besiedeln den ganzen Indopazifik; im Bild zwei Clownfische in einer Seeanemone im Great Barrier Reef.

Clownfische besiedeln den ganzen Indopazifik; im Bild zwei Clownfische in einer Seeanemone im Great Barrier Reef.

Lucas Jackson / Reuters

Mama ist wachsam. Wie ein kleines, kampfbereites U-Boot schwebt sie im Wasser und lässt die Besucher nicht aus den Augen. Unten, im umgekippten Blumentopf, kümmert sich ihr Partner derweil um den Nachwuchs. Fürsorglich fächert er den rund 300 Eiern mit seinen Flossen Frischwasser zu und schnappt angeschwemmte Schmutzpartikel vom Gelege. Eine perfekte Arbeitsteilung, seit vielen Jahrtausenden bewährt. Weibliche Clownfische sind immer grösser als die Männchen, erklärt Vincent Laudet. Ihnen obliege deshalb der Schutz des Nests. «Und sie können sehr mutig sein.» Sogar Taucher werden aggressiv gestellt, wie Laudet aus eigener Erfahrung zu berichten weiss. Man nähere sich der Fischheimstatt, und plötzlich schiesse eine bunt gestreifte, gut zehn Zentimeter lange Furie hervor, die einem fast gegen die Tauchermaske knalle. Angriff gilt unter Clownfischen offenbar als die beste Verteidigung.

Diesmal ist allerdings keine Attacke zu erwarten. Die Tiere leben in einem Aquarium, hinter Glas im Dienst der Wissenschaft. Laudet, Forscher am Observatoire Océanologique in Banyuls-sur-Mer (OOB) im Süden Frankreichs, befasst sich bereits seit vielen Jahren mit den faszinierenden Riffbewohnern. 28 verschiedene Arten zählt die Gattung Amphiprion, die allesamt im indopazifischen Raum vorkommen. Am berühmtesten ist Amphirion ocellaris, der Star aus dem Animationsfilm «Findet Nemo». Die Geschichte vom putzigen Fischkind versetzte 2003 ein Millionenpublikum in Verzückung, doch unter Fachleuten wie Laudet sind Clownfische vor allem als Studienobjekte beliebt. Ihre komplexe Lebensweise bietet Einblicke in unterschiedliche Aspekte der Evolution, Fortpflanzungsstrategien, Symbiosen und in das Sozialverhalten von Fischen. Amphiprion ist somit ein Multitalent der Biologie. Und zudem noch relativ leicht zu halten.

In freier Natur sind Clownfische bekanntlich eng mit Seeanemonen verbunden. Die toxischen Nesselzellen der Letzteren bieten ihnen Schutz vor Räubern. Die Fische selbst indes brauchen ihre Wirte nicht zu fürchten. Eine dicke Spezialschleimschicht bewahrt sie vor den Giften. Im OOB-Labor sieht man allerdings keine Seeanemonen. «Wir brauchen sie nicht», sagt Laudet. Keine Fressfeinde, keine Schutzengel. Auch sonst scheinen Laudets Tiere nicht anspruchsvoll zu sein. Simple Terrakotta-Blumentöpfe dienen den Fischen als Eiablageplätze. Unter natürlichen Bedingungen setzen sie ihr Gelege auf Felsuntergründe direkt neben ihren Wirtanemonen ab.

Das Sexualleben von Amphiprion könnte dagegen kaum seltsamer anmuten. Die Paarbildung richtet sich nach einem strikten Regelwerk, wie Laudet erläutert, denn Clownfische sind soziale Geschöpfe. Normalerweise tun sich die Tiere in Verbänden von vier bis zwölf Exemplaren zusammen und bewohnen gemeinsam eine Seeanemone. Es pflanzen sich aber nur die zwei ältesten Gruppenmitglieder fort, das dominante Paar. Bei den anderen, Rekruten genannt, handelt es sich stets um jüngere Männchen ohne eigenen Anspruch auf Vermehrung – zumindest vorerst nicht.

Denn die Courage der Muttertiere hat ihren Preis. Ihre Angriffslust mag viele potenzielle Laichräuber in die Flucht schlagen, doch irgendwann kommt jemand vorbei, den dieser Elan nicht beeindruckt. Ein stämmiger Zackenbarsch zum Beispiel braucht nur kurz das Maul zu öffnen, und schon ist das Weibchen auf ewig verschwunden. Der Vater bleibt alleine mit dem Nachwuchs und der Schar Halbstarker zurück. Seine Reaktion ist, gelinde gesagt, tiefgreifend. Der Tod seiner Partnerin veranlasst das Männchen dazu, sich einer selbstgesteuerten Geschlechtsumwandlung zu unterziehen. Papa wird Mutter. Unter Fischen kommt dies nicht selten vor. Man nennt die Grenzgänger protandrische Hermaphroditen, und die als Speisefisch beliebte und tonnenweise gezüchtete Goldbrasse, die Dorade royale, ist einer von ihnen.

Nach Papas Verwandlung ist für das älteste Männchen unter den anderen Gruppenmitgliedern der grosse Moment gekommen: Es darf endlich vollständig geschlechtsreif werden und die Vaterrolle übernehmen. Schon bald produziert das neue Paar sein erstes gemeinsames Gelege. Für den Rest der Gemeinschaft geht das Zusammenleben wie gehabt weiter. Dieses ist von einer strengen Hierarchie geprägt, erklärt Laudet.

Die Altersrangordnung und damit die Position in der Vermehrungs-Warteschlange spiegelt sich exakt in der Körperlänge. Niemand darf sich vordrängen. «Ein grösserer Fisch würde einen kleineren niemals erlauben, ihn beim Wachstum einzuholen.» Sollte dies trotzdem einmal dräuen, droht dem Aufsässigen die Verbannung aus der Kolonie. Das will keiner. «Die Seeanemone zu verlassen, bedeutet den sicheren Tod», betont Laudet. Um dem zu entgehen, scheinen die halbstarken Clownfische tatsächlich ihr Wachstum entsprechend anzupassen. Der Lohn der Subordination: Irgendwann kommt im Reproduktionsreigen jeder an die Reihe. Geduld ist dabei unabdingbar. Es dauert oft mehr als zehn Jahre, berichtet Laudet, bis ein Rekrut an die Position vorgerückt ist, die Geschlechtsreife zu erlangen.

Inzucht brauchen die bunten Riffbewohner kaum zu befürchten. Im Gegensatz zu den meisten anderen sozialen Tierarten bildet Amphiprion keine Familienverbände. Die Larven verschwinden sofort nach dem Schlüpfen ins offene Wasser. Noch nie hat dort jemand einen solchen Winzling gefunden, sagt Laudet. Zwei Wochen später jedoch verwandeln sich die durchsichtigen Minis in kleine, gestreifte Clownfische. Dann wird es kritisch. Der junge Fisch muss so schnell wie möglich eine Seeanemone finden. Vermutlich machen sie sich nachts, im Schutz der Dunkelheit, auf die Suche, meint Laudet. Bereits bewohnte Anemonen werden bevorzugt. In der Gruppe ist man sicherer.

Welche Schlüsselrolle die Nesseltiere generell für Clownfische spielen, offenbart ein Blick in die Evolutionsgeschichte. Der erste Vertreter der Gattung Amphiprion lebte nach bisherigen Erkenntnissen vor mehr als zwölf Millionen Jahren im damaligen Westpazifik. Dieser Ur-Clownfisch muss irgendwie einen Schutz gegen Anemonengift erlangt haben, was ihm neue Perspektiven eröffnete. Plötzlich fanden sich überall geeignete Schlupfwinkel, die keinen anderen Fischen offenstanden – und damit auch bisher unbesetzte ökologische Nischen. Das wiederum ermöglichte die Entstehung neuer Spezies. Fachleute bezeichnen eine solche Diversifizierung als «adaptive Radiation», man kennt sie unter anderem von den Darwinfinken auf den Galapagosinseln oder von den Buntbarschen aus ostafrikanischen Seen. Neue Amphiprion-Arten besiedelten den gesamten tropischen Indopazifik vom Roten Meer bis nach Tahiti.

Laudet und sein Team sind der Initialzündung dieser Entwicklung auf die Spur gekommen. Zusammen mit Kollegen der Universität Lausanne analysierten sie das Erbgut von neun verschiedenen Clownfisch-Spezies und suchten dabei gezielt nach Genen, die eine einzigartige Struktur aufweisen und unter Selektionsdruck gestanden haben müssen. 17 Gensequenzen zeigen tatsächlich Hinweise auf eine positive Auslese. Zwei davon tragen die Baupläne für Proteine mit neutralisierender Wirkung auf bestimmte Zuckerverbindungen. Diese «Aminozucker» kommen in Fischhaut normalerweise reichlich vor und dienen den Nesselzellen von Seeanemonen als Aktivierungssignal. Bei Amphiprion indes scheinen zumindest einige Aminozucker zu fehlen. Am Anfang des Bündnisses zwischen Clownfischen und Nesseltieren dürfte somit eine Art biochemische Tarnkappe gestanden haben.

Für die Forscher ist das Puzzle noch lange nicht komplett. Die Evolution hat die Symbiosen weiter optimiert, die Fische verfügen inzwischen wohl auch über Enzyme für den Abbau von Anemonengiften. Den Wirten selbst nützen die Ausscheidungen ihrer Schützlinge. Wie Korallenpolypen beherbergen auch Seeanemonen einzellige Algen als Zuckerlieferanten. Den Kleinstpflanzen dient Ammoniak aus den Fisch-Exkrementen als Dünger. Abgesehen davon attackieren die Clownfische Fressfeinde der Anemonen. Alle Beteiligten profitieren. Den Erfolg der Kooperation zeigt jedoch vor allem die aussergewöhnliche Lebenserwartung von Clownfischen, wie Laudet betont. Sie können bis zu 30 Jahre alt werden.