Franz Kafka fand im Chotekpark in Prag Ruhe und Einkehr

In diesem Park fand Kafka Zuflucht vor den Dämonen seiner Nächte

Der Chotek-Park muss zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Oase gewesen sein. Heute verblasst der Glanz und bröckelt das Mauerwerk.

Bernd Noack
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Dieser Ausblick blieb Franz Kafka erspart: Als er mit seiner Familie 1907 in das Haus «Zum Schiff» am Ende der damaligen Niklasstrasse in Prag zog, ahnte niemand, dass knapp fünfzig Jahre später genau gegenüber, auf der anderen Seite der Moldau, der Welt grösstes Stalin-Denkmal errichtet werden würde. 15 Meter hoch und 22 Meter lang, zeigte es den sowjetischen Führer in energischer Vorwärtspose, hinter ihm das Volk in Granit auf dem steinigen Weg in eine rosige Zukunft. Der Pulk wäre zielgerichtet auf Kafkas Zimmer im dritten Stock des Hauses zugeschritten und stand doch wie festgefroren dort, wohin der Dichter sechs Jahre lang von seinem Fenster aus so gerne schaute. Da drüben lag sein Sehnsuchtsort, verborgen hinter Bäumen: der Chotek-Park.

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Ich stehe am Eck der Niklasstrasse, die heute nobel Pařížská heisst und mit Gucci- und Prada-Läden teuer bestückt ist, und fast alles ist verschwunden. Das Wohnhaus hat einem klotzigen Hotel Platz machen müssen, der Stalin wurde 1962 mit Getöse in die Luft gejagt. Immerhin, ein paar Anhaltspunkte gibt es noch, die an Kafka erinnern. Vor mir die Čech-Brücke, von wo im «Urteil» der arme Georg Bendemann sich in den Tod schwingt; unten am Ufer die letzten Bauten der Zivilschwimmschule, in die der ausgezeichnete Schwimmer Kafka oft ging und die heute ein feines Restaurant ist, wo Kellner die saloppe Kleidung des neugierigen Gastes mit strengen Blicken abschätzen.

Franz Kafka vermutlich um 1910 vor seinem Wohnhaus in Prag in einer nachträglich kolorierten Aufnahme.

Franz Kafka vermutlich um 1910 vor seinem Wohnhaus in Prag in einer nachträglich kolorierten Aufnahme.

Ullstein

Rasch vorbei an diesen Relikten, die rot-weisse Strassenbahn um die scharfe Kurve quietschen lassen und hinüber zum Fuss der Erhebung, auf deren Plateau sich zunächst der Letenské-Park erstreckt. Die lange Treppe mit ihren brüchigen Steinplatten, beschmiert mit Graffiti, gab es zu Kafkas Zeiten noch nicht; er ging steile und schmale, mäandernde Wege den Berg hinauf. Vom Stalin-Monument sind nur noch die riesigen Schalen rechts und links geblieben; auf dem Diktator-Sockel steht jetzt ein Metronom, das, so der sarkastische Kommentar des Verlegers Klaus Wagenbach, «die neuen Zeiten anzeigt».

Ist das Kafkas Sprache?

An diesem frühen Morgen gehört die Anlage den Joggern, die mit Stöpseln im Ohr und schneller als ihre hechelnden Hunde wie aufgezogene Spielzeugfiguren Runden drehen, als gelte es, ebendieser «neuen Zeit» hinterherzujagen. Sie haben keinen Blick übrig für das Panorama, das sich ihnen böte, wenn sie nur schauen könnten: Da unten liegt ruhig die schöne Stadt, und sie taugt keinesfalls als Kulisse für hastende Menschen in grellbunten Sportanzügen und mit stierem Blick auf Puls- und Kalorien-Chronometer.

Eine alte Frau bleibt neben mir stehen, als ich die willkürlich zerkratzte Tafel mit dem Plan der Anlage studiere. «You are here» kann man gerade noch lesen, aber die skizzierte Topografie drumherum ist mit gründlichem Furor eliminiert. Die Dame lächelt und fragt zunächst auf Tschechisch, wohin ich denn möchte; meinem Achselzucken begegnet sie mit ein paar deutschen Brocken und klaubt dann, als ich nicke, alles zusammen, was ihr noch im Gedächtnis ist.

Das ist er wohl, der Klang dieser eigentümlichen Prager Sprache, dieses Dialekts, wie ihn auch Kafka gehabt haben muss. Ich sage ihr, dass ich den Chotek-Park suche, und sie lacht und meint, ich solle doch lieber hinübergehen zur Burg, zum Hradschin, da sei es viel schöner. Aber sie zeigt auch gleichzeitig in eine andere Richtung und wünscht einen guten Tag. Über einen Steg, der eine vielbefahrene Strasse überbrückt und mit zwei lustigen Kirmes-Kandelabern geschmückt ist, komme ich in den Park. Und in eine andere Welt.

Der Chotek ist nicht gross, man kann ihn vom Eingang aus überblicken. Und wie er da liegt, zwischen dem Abgrund, wo tief unten die Kleinseite beginnt, der lärmenden Mariánské-Strasse rechts und dem Schloss Belvedere am Ende, kommt er einem wie eine Insel vor. Hat Kafka deshalb gerade hier Strindbergs «Am offenen Meer» gelesen? Ein Buch, das er «mit Wohlbehagen» zur Hand nahm, das ihn «nährte». Nein, Böhmen liegt nicht am Meer, aber fühlte er sich nicht hier oben und doch inmitten der Stadt «hohl wie eine Muschel am Strand, bereit, durch einen Fusstritt zermalmt zu werden»?

Es ist windig, nasskalt, und trotzdem setze ich mich auf eine der Bänke und hole das Buch hervor. Es spielt in der Schärenwelt Schwedens und erzählt von abgelegenen Orten, von einer Flucht aus der geordneten Zivilisation, von der Suche nach einem eigenen, sicheren Standpunkt. Und wie ein Ozean, dem man nicht trauen kann, erscheint mir jetzt die menschenleere Wirklichkeit um mich herum, weit weg das Leben.

Bei Strindberg ist es ein Zollinspektor, der in ein Dorf kommt, das ihm feindselig begegnet, und das erste Kapitel erinnert erstaunlich an den Auftritt des Landvermessers im «Schloss»-Roman, den Kafka erst 1922 schreiben wird. Einstweilen, wir befinden uns im Jahr 1914, hat der Schriftsteller noch anderes, Verwirrendes im Kopf. Er gibt sich seiner November-Melancholie hin. «Heute teilweise schöner Sonntag. In den Chotekschen Anlagen Dostojewskis Verteidigungsschrift gelesen.» Darin heisst es einmal: «Die Hälfte meiner Zeit war ausgefüllt durch die Arbeit, die mich nährte, die andere Hälfte mit hypochondrischen Einfällen.»

Wie das passt zum Angestellten der Versicherung, der sich nachts die Stunden fürs Schreiben abtrotzt! Wie das passt zu seiner Stimmung: «Viel Selbstzufriedenheit während des ganzen Tags. Und jetzt vollständiges Versagen bei der Arbeit. Und es ist nicht einmal Versagen, ich sehe die Aufgabe und den Weg zu ihr, ich müsste nur irgendwelche dünnen Hindernisse durchstossen und kann es nicht.» Und dann «spielt» er einmal mehr «mit Gedanken» an Felice, die ferne, schwierige Geliebte.

Die Zeiten überlagern sich

Der «schönste Ort in Prag» war der Chotek-Park für Kafka, wie er im Tagebuch notiert: «Vögel sangen, das Schloss mit der Galerie, die alten Bäume mit vorjährigem Laub behängt, das Halbdunkel.» An manchen Ästen der Büsche zeigen sich jetzt schon erste Knospen, aber die Bäume sind noch kahl und lassen den Blick durch auf die Umgebung. Von hier kann man sogar die Rückseite des Häuschens von Kafkas Schwester Ottla im Goldenen Gässchen ausmachen, wohin sich der Dichter zeitweise zum ungestörten Schreiben zurückzog. Der Fluss teilt die Stadt in zwei Hälften; die Karlsbrücke sieht man, auf der zu dieser frühen Stunde nur vier, fünf Menschen laufen.

Das ziemlich kitschige Denkmal für den tschechischen Nationaldichter Julius Zeyer – eine Grotte mit Figuren aus weissem Marmor – steht in diesem ersten öffentlichen Prager Stadtpark zentral seit 1913. Kafka muss also oft an ihm vorbeigegangen sein, aber er erwähnt den «Kollegen» mit keinem Wort. Rilke dagegen fand Zeyer zunächst recht gut, störte sich aber später an den nationalistischen Tendenzen in dem Werk und nahm Abstand von ihm: «Der erscheint mir als der Grösste, der zu keiner Fahne schwört.»

Das Schloss der Königin Anna hat mit den Jahren gelitten. Der Putz bröckelt grossflächig, die Ornamente wie angenagt. Im verriegelten Hof stehen die Stellwände einer alten Ausstellung zusammengereiht herum: George Bush grinst mich durchs Gitter an, auf anderen Plakaten sieht man Szenen des Aufstands von 1968: wütende Demonstranten in Schwarz-Weiss auf dem Wenzelsplatz – gestern Abend ging ich doch erst an diesem Ort vorbei, und vor einer flackernden Flamme standen stumm junge Menschen, auf Transparenten stand verzweifelt karg nur das Wort «Frieden». Geschichte in Prag ist wie eine Überlagerung von Ereignissen, kleinen und grossen, sie überspringt Zeiten. «Der Geist der Doppelung» herrsche über die Stadt, schreibt die Schriftstellerin Daniela Hodrová: Der jetzige Augenblick kann leicht auch ein vergangener sein.

Vielleicht fühlt man sich Franz Kafka deshalb hier im kleinen, unscheinbaren Park so nah? Die alten Bäume wachsen in einen Himmel, der sich wie eh und je über das Labyrinth der Gassen und Gedanken wölbt. Aber kein verwunschener Ort ist das, eher ein strenger, sehr realer, nüchtern geordneter, der nicht ablenkt, der den eigenen Sinn zulässt, die Zweifel in die Schranken weist. Kafka floh dorthin, wenn er «nichts» fühlte, nur seinen «dumpfen, leicht schmerzenden Kopf».

Man «ergeht» sich nicht im Chotek, aber «erdenken» kann man sich hier sehr gut.