Wie aussagekräftig sind die Corona-Studien aus Wien und Nordrhein-Westfalen?

Die Regierung in Wien hat mit einem nationalen Test die Dunkelziffer der Infizierten errechnet. Doch die Studie ist wie jene in Nordrhein-Westfalen mit erheblichen Unsicherheiten belastet.

Stephanie Lahrtz, München, Ivo Mijnssen, Wien
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Österreichs Bildungsminister Heinz Fassmann profiliert sich mit einer neuartigen nationalen Corona-Studie.

Österreichs Bildungsminister Heinz Fassmann profiliert sich mit einer neuartigen nationalen Corona-Studie.

Leonhard Foeger / Reuters

Österreich findet dieser Tage sichtlich Gefallen daran, den Nachbarn in der Corona-Krise einen Schritt voraus zu sein. Bundeskanzler Sebastian Kurz gab sich vor einer Woche zuversichtlich, dass sein Land schneller und besser durch die Krise komme als andere. Am Montag war seine Regierung die erste in Europa, die einen Fahrplan für den Ausstieg aus dem Lockdown ankündigte. Am Karfreitag war es an Bildungsminister Heinz Fassmann, eine Premiere zu verkünden: Man lege als erstes Land in Kontinentaleuropa eine Studie über die Verbreitung des Virus in der Gesamtbevölkerung vor, erklärte er. «Österreich ist Vorbild und Pionier.»

Fassmanns Ministerium arbeitete dafür mit dem Umfrageinstitut Sora und dem Roten Kreuz zusammen: In der ersten Aprilwoche wurden innerhalb einer repräsentativ ausgewählten Bevölkerungsgruppe 1544 Personen auf das Virus getestet. Daraus lasse sich ableiten, dass zwischen 0,12 und 0,76 Prozent der in Österreich wohnhaften Personen zum Zeitpunkt der Probenabnahme Corona-positiv gewesen seien. Der statistisch wahrscheinlichste Wert liege bei 28 500 Fällen am 6. April. Dies ist fast das Vierfache der zu jenem Zeitpunkt bestätigten Infektionen, was auf eine erhebliche Dunkelziffer schliessen lässt. «Der Eisberg ist grösser als gedacht», kommentierte Fassmann.

Nur eine Momentaufnahme

Der in Österreich durchgeführte Massentest kann eine der drängendsten Fragen, nämlich jene nach der Immunität oder der «Durchseuchungsrate» der Bevölkerung, nicht beantworten. Denn für das Screening wurde in Abstrichen mithilfe der Testmethode PCR nach Erbgut des Virus gefahndet. Doch das findet man dort nur während einer aktiven Infektion. Die Dauer einer solchen ist zwar individuell unterschiedlich, aber ein akut Infizierter weist nur sehr selten länger als drei Wochen Virusmaterial in seinem Nasen-Rachen-Raum auf. Der Massentest in Österreich hat also nur gezeigt, dass zum Zeitpunkt der Messung statistisch am wahrscheinlichsten 0,33 Prozent der Studiengruppe Virusmaterial im Körper trugen und daher ansteckend waren. Ein bereits seit mehreren Wochen laufendes Massen-Screening in Island, ebenfalls durchgeführt mit PCR-Tests, hat laut dem durchführenden Forschungsunternehmen Decode ergeben, dass dort Ende März ungefähr 0,86 Prozent der Bevölkerung infiziert waren.

Doch über die Prävalenz, also die Anzahl an Menschen, die schon eine Sars-CoV-2-Infektion hinter sich haben, sagt ein PCR-Test naturgemäss nichts aus. Wenn man also wissen will, wie viele Personen in einem Land einen Immunschutz gegen das neue Coronavirus aufgebaut haben, dann muss man eine repräsentative Stichprobe mithilfe von Antikörpertests analysieren. Antikörper werden als Reaktion auf eine Infektion gebildet. Sie bleiben danach für mehrere Monate oder manchmal auch Jahre im Körper.

Neben dem Ausmass der Immunität zeigt ein Antikörpertest auch, welche Personen kein Risiko mehr für andere darstellen und also zum Beispiel in Spitälern, Alters- und Pflegeheimen gefahrlos Dienst tun können. Anhand der Durchseuchungsrate einer Region oder eines Landes lässt sich abschätzen, ab wann sich eine Epidemie dort verlangsamen wird. Virologen gehen davon aus, dass bei einer Rate von 15 bis 20 Prozent die Ausbreitung nicht mehr so rasant verläuft wie zu Beginn. Die Prävalenz ist somit auch eine sehr wichtige Information für Behörden, wenn sie über den Zeitpunkt und die Ausgestaltung der Lockerungen der Lockdown-Massnahmen entscheiden.

Umstrittene Antikörpertests

Die Terminologie scheint auch die österreichischen Politiker vor erhebliche Herausforderungen zu stellen: So stellte Bildungsminister Fassmann zwar klar, dass der Test keine wissenschaftlichen Schlüsse über den Immunisierungsgrad zulasse, nannte ihn aber wiederholt eine Prävalenzstudie. Dass dabei PCR- statt Antikörpertests verwendet wurden, begründete er damit, dass Letztere noch sehr neu und oft ungenügend geprüft seien. Dazu kämen logistische Probleme, da für die Entnahme von Blutproben anders als bei Abstrichen hochspezialisiertes medizinisches Personal notwendig sei.

Der Virologe Hendrik Streeck hat in Nordrhein-Westfalen eine erste Antikörperstudie durchgeführt.

Der Virologe Hendrik Streeck hat in Nordrhein-Westfalen eine erste Antikörperstudie durchgeführt.

Federico Gambarini / DPA

Wie dringend Politiker derzeit die Prävalenz kennen wollen, zeigte sich auch am Donnerstag. In Düsseldorf hatte der deutsche Virologe Hendrik Streeck Zwischenergebnisse seiner Antikörperstudie präsentiert, durchgeführt in der nordrhein-westfälischen Gemeinde Gangelt. Dort kam es Ende Februar nach einer Karnevalssitzung zu einem regionalen Sars-CoV-2-Ausbruch. Gemäss den ersten Testergebnissen sind 15 Prozent der Gangelter Bevölkerung immun gegen das Virus. Allerdings sind das zum einen Rohdaten, zum anderen ist noch unklar, wie spezifisch und damit zuverlässig der verwendete Antikörpertest überhaupt ist.

Streeck selber räumte ein, dass man den Wert für Gangelt noch nicht einmal auf das Bundesland Nordrhein-Westfalen übertragen könne. Denn die Dynamik eines regionalen, sehr aktiven Infektions-Clusters, das durch nur ein Ereignis entstand, ist deutlich anders als jene in den meisten Städten oder Regionen Deutschland. Dort gab es durch Reisende und viele unterschiedliche Kontakte mehrere voneinander unabhängige Viruseinträge.

Politischer Druck

Dass Streeck diese vorläufigen Daten überhaupt präsentierte – ein selbst in Corona-Zeiten ungewöhnliches Vorgehen –, zeigt, wie sehr der Auftraggeber der Studie, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, auf solche Zahlen wartet. Und wie viel Druck er offenbar ausgeübt hat. Denn Laschet dringt seit Tagen so massiv wie wenig andere deutsche Politiker und gegen den Widerstand vieler Kollegen auf baldige Lockdown-Lockerungen.

Dass die österreichische Regierung den Test vier Tage vor den ersten Lockerungen am Dienstag präsentiert, dürfte ebenfalls nicht ganz zufällig sein und zur Beruhigung der Bevölkerung beitragen. Die tiefe Zahl der Infizierten zeige, dass die strikten Beschränkungen bisher ein exponentielles Wachstum verhindert hätten. Die Tests dienen weniger als Vorbedingung denn als Begleitinstrument, um die zukünftigen Entwicklungen zeitnah zu beobachten. Dafür ist Ende Monat auch eine weitere repräsentative Studie geplant.

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