«Gib Gates keine Chance»: In Deutschland nutzen Verschwörungstheoretiker und Radikale die Gunst der Stunde

In Berlin, Stuttgart, München und anderswo haben am Wochenende Tausende gegen die Corona-Regeln demonstriert. Während die einen nur gegen eine unverhältnismässige Einschränkung ihrer Freiheitsrechte protestieren, verbreiten andere extremistische Phrasen.

Marc Felix Serrao, Berlin
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Demonstranten stehen am Samstag auf dem Brunnen der Völkerfreundschaft am Berliner Alexanderplatz.

Demonstranten stehen am Samstag auf dem Brunnen der Völkerfreundschaft am Berliner Alexanderplatz.

Christian Mang / Reuters

Der kleine, dünne Mann hat sich schon heiser gebrüllt, doch die grossen, uniformierten Männer wollen einfach nicht reagieren. «Schämt euch», brüllt er: «Ihr verteidigt eine Diktatur!» Er spuckt beim Sprechen, und seine Hände zittern vor Erregung. Die Polizisten, die direkt vor ihm stehen, scheinen durch den Mann hindurchzusehen. Vermutlich liegt es an der warmen Maisonne und an der Schutzausrüstung, die etwa 20 Kilogramm wiegt. Von einem einzelnen Schreihals geht wenig Gefahr aus. Erst als der Mann die Beamten mit der Wehrmacht vergleicht, nimmt ihn ein Polizist in den Blick und macht einen Schritt nach vorne. Der Demonstrant fällt vor Schreck fast um. Danach sucht er laut schimpfend das Weite.

Es köchelt in Deutschland. Seit Wochen finden in immer mehr Städten Demonstrationen gegen die Verordnungen zur Bekämpfung der Pandemie statt. Der bisher grösste Protest fand am Samstag auf dem Cannstatter Wasen in Stuttgart statt. Dort kamen Tausende zur inzwischen siebten «Mahnwache für das Grundgesetz» zusammen. Auch der Münchner Marienplatz war voller Demonstranten. In Berlin zählte die Polizei auf dem Alexanderplatz etwa 1200 Personen.

«Was ist das für ein Kartoffelauflauf?»

Hier, rund um den Brunnen der Völkerfreundschaft, herrscht an diesem Samstagnachmittag eine eigenartige, mal ausgelassene, mal aggressive Stimmung. Da sind ältere Damen, die eher am Rand stehen und sich still ein Grundgesetz vor die Brust halten. Da sind breit gebaute Männer, die sich durch Tätowierungen und T-Shirts als Hooligans des BFC Dynamo ausweisen und immer wieder die Konfrontation mit der Polizei suchen. Dazwischen stehen normal gekleidete Familien, Paare und Grüppchen. «Was ist das für ein Kartoffelauflauf?», ruft ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund. Er und seine Freunde sind offenbar zum Shoppen gekommen.

Ein junger Mann mit Zottelbart und langen Haaren steigt gleich zu Beginn der Demonstration auf die höchste Plattform des Brunnens. In den Händen hält er ein Schild, auf dem «GATES NOCH?» steht. Der Microsoft-Gründer ist für viele hier eine Hassfigur. «Gib Gates keine Chance» steht auf etlichen T-Shirts und Plakaten, eine Anspielung auf die Kampagne, mit der die deutsche Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung seit den achtziger Jahren gegen Aids ankämpft.

Der amerikanische Milliardär als todbringende Krankheit: Hinter dem bizarren Vergleich steckt eine der zentralen Verschwörungstheorien, die sich in einem Teil der Protestszene festgesetzt hat, hier und da angereichert mit angeblichen finsteren Machenschaften von Geheimgesellschaften, Militärs und westlichen Regierungen. Für diejenigen, die in Deutschland daran glauben, kontrolliert Gates durch Spenden seiner Stiftung nicht nur die Weltgesundheitsorganisation, sondern auch das Robert-Koch-Institut, den Virologen Christian Drosten, führende Medien des Landes und den Gesundheitsminister Jens Spahn. Gates wolle die Pandemie nutzen, um erst eine weltweite Impfpflicht und dann eine neue Weltordnung durchzusetzen, heisst es.

Dystopisches vom Kochbuchautor

Zu den Wortführern dieses dystopischen Gebräus zählen ein Kochbuchautor namens Attila Hildmann («Vegan to go») und ein selbsternannter Investigativjournalist namens Ken Jebsen, der seit Jahren gegen Israel und die Vereinigten Staaten agitiert und dabei vom russischen Staatssender RT hofiert wird. Hildmann hält an diesem Samstag vor dem Berliner Reichstag eine Ansprache. Jebsen ist der Hauptredner in Stuttgart.

Längst nicht alle Demonstranten, mit denen man rund um den Alexanderplatz ins Gespräch kommt, glauben an die grosse Gates-Verschwörung. Manche können auch mit den Namen Hildmann oder Jebsen nichts anfangen. Sie halte die Corona-Regeln einfach für «total überzogen», sagt eine ältere Dame, die sich, obwohl sie offenkundig zur Risikogruppe gehört, keine Sorgen um ihre Gesundheit zu machen scheint. Den Mindestabstand von 1,50 Metern, den die Polizei immer wieder über Lautsprecher einfordert, hält weder sie noch sonst ein Demonstrant ein. Die Menge drängelt und schiebt sich kreuz und quer über den Platz. Sollte die Zahl der Infizierten in Berlin in den kommenden Wochen rapide steigen, dann dürfte diese Veranstaltung eine der Ursachen gewesen sein.

So sorglos die Demonstranten mit ihrer Gesundheit umgehen, so gleichgültig wirkt auch ihr Umgang mit den radikalen Phrasen, die nicht zu übersehen und zu überhören sind. Als ein Sprechchor ertönt, der immer wieder «Knast für Gates» fordert, gibt es kaum Protest aus der Menge. Ein mehrseitiges Pamphlet, das auf der Titelseite behauptet, Deutschland befinde sich «unter einem de-facto-diktatorischen Regime», wird in grosser Zahl verteilt und eifrig studiert.

Die Menschen, die am Samstag auf dem Alexanderplatz stehen, sind gewiss nicht alle radikal. Aber ihre Gleichgültigkeit gibt den Radikalen das Gefühl, für viele zu sprechen. «Wir sind das Volk», skandiert ein Teil der Menge immer wieder. Oder auch nur: «Widerstand».

Dass es noch eine andere Form des Protests gibt, kann man etwas früher vor dem Brandenburger Tor erleben. Dort stehen etwa zehn Mitglieder der Initiative «1 bis 19» hinter einem Transparent: «Für Grundrechte und Rechtsstaat». Der ältere Herr in der Mitte stellt sich als Berufssoldat vor. Die anderen Anwesenden seien Ärzte, Anwälte, Ingenieure, erklärt er. Alle halten gebührenden Abstand zueinander. Ihnen gehe es nicht darum, die Gefahr des Coronavirus kleinzureden, sondern darum, dass Grundrechte im Schnellverfahren ausgehebelt worden seien, sagt der Soldat. Das sei nicht in Ordnung. Die Einschränkungen müssten verhältnismässig sein, und das Ziel der staatlichen Massnahmen müsse, anders als bisher, klar definiert und kommuniziert werden. Die Frage, ob er Deutschland für eine Diktatur halte, beantwortet der Mann mit einem fassungslosen Blick.