Interview

«Frankreich hat die deutschen Bemühungen torpediert, die Einmischung ausländischer Mächte in Libyen zu unterbinden»

Der Libyen-Experte Jalel Harchaoui erklärt, welche Interessen die Türkei und Russland in Libyen verfolgen und welche Aussichten ein Waffenstillstand hat.

Judith Kormann
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Der Raketenbeschuss durch General Haftars Belagerungstruppen hat in Tripolis deutliche Spuren hinterlassen.

Der Raketenbeschuss durch General Haftars Belagerungstruppen hat in Tripolis deutliche Spuren hinterlassen.

Goran Tomasevic / Reuters

Herr Harchaoui, wie muss man sich die Lage in Tripolis derzeit vorstellen?

Ich war zum letzten Mal im Sommer in Tripolis. Heute ist die Stadt nicht mehr die gleiche wie vor ein paar Monaten. Im Sommer gab es etwa 40 000 bis 60 000 intern Vertriebene. Heute können mehr als 200 000 Menschen nicht mehr in ihre Häuser. Es werden immer mehr Zivilisten getötet. Die Angst in der Bevölkerung hat zugenommen. Als ich in Libyen war, dachte die Mehrheit der Bewohner, Khalifa Haftar, der Tripolis seit April belagert, würde nie in die Stadt vordringen. Heute ist die Angst davor da. Die Leute misstrauen einander, sie verraten einander. Die Paranoia nimmt zu.

Monatelang traten Haftars Kämpfer vor der Hauptstadt auf der Stelle. In letzter Zeit kamen sie langsam vorwärts und konnten Geländegewinne erzielen. Wem verdanken sie das?

Haftars Armee war weniger stark, als er behauptete. Am Boden gelang es seinen Truppen nicht, in die Stadt einzudringen. Sie waren schlecht koordiniert, im August war auch ihre Motivation auf einem Tiefpunkt. Die Angriffe aus der Luft haben hingegen an Intensität gewonnen. Das verdankt Haftar den Vereinigten Arabischen Emiraten, die das Uno-Waffenembargo brechen und Drohnen- sowie Flugzeugangriffe vortragen. Die Europäer haben sich geweigert, die Einmischung der Emirate zu thematisieren. Ihre Gleichgültigkeit hat Möglichkeiten für zwei Staaten geschaffen, sich stärker im Konflikt zu engagieren: für die Türkei auf der einen und für Russland auf der anderen Seite.

Jalel Harchaoui.

Jalel Harchaoui.

PD

Welche Interessen verfolgt Russland?

Die Russen sehen in Libyen eine Gelegenheit, ihren Einfluss in Afrika auszuweiten. Sie haben Söldner der «Gruppe Wagner» geschickt. Damit unterstützen sie Haftar, ohne sich offen im Konflikt zu engagieren. Heute sind zwischen 1400 und 2000 russische Söldner vor Ort, unter ihnen Scharfschützen sowie Kräfte für die Koordination und die Ausbildung. Die Mehrheit befindet sich aber nicht vor Tripolis, sondern im Osten des Landes. Sie schützen unter anderem die Ölhäfen, die Haftar dort kontrolliert.

Auf der anderen Seite hat die Türkei Truppen entsandt, die die Regierung in Tripolis stützen sollen.

Die Türkei will die Regierung in Tripolis im Amt halten und sich so ihren Einfluss in der Region sichern. Sie fürchtet, diesen wegen Haftar zu verlieren. Denn Haftar und viele der Staaten, die ihn unterstützen, sehen die Türkei als Feind. Ankara hat die Regierung in Tripolis schon länger verdeckt unterstützt, unter anderem mit Drohnen und Waffen. Vor kurzem hat die Türkei auch syrische Söldner nach Libyen geschickt. Nun beteiligt sich Ankara offiziell.

Die Russen und die Türken haben versucht, eine dauerhafte Waffenruhe durchzusetzen, und luden die beiden libyschen Konfliktparteien am Montag nach Moskau ein. Wie ist diese Bemühung zu deuten?

Einen endgültigen Sieg Haftars halten heute selbst die Russen für unwahrscheinlich. Diese Woche hat sich gezeigt, dass Russland möglicherweise bereit ist, mit den Türken zu arbeiten, obwohl die beiden Länder gegenteiligen Lagern die Stange halten. Moskau könnte die Präsenz der Türkei im Westen Libyens akzeptieren. Russland versucht, sich so zu positionieren, dass es als Gewinner hervorgeht, egal, was in Libyen passiert.

Vorerst sind die Bemühungen gescheitert. Haftar hat Moskau verlassen, ohne ein Abkommen zu unterzeichnen.

Für die Russen war das ein schwerer Schlag. Dass es nicht zu einem Abkommen gekommen ist, liegt aber nicht nur an Haftar. Die Türkei ist aggressiv in die Verhandlungen gegangen, die Regierung in Tripolis stellte unrealistische Forderungen. Sie verlangte etwa, dass Haftar seine Truppen dahin zurückzieht, wo sie vor dem 3. April, also vor Beginn der Offensive, standen.

Wäre Haftar denn unter anderen Umständen zu einer Waffenruhe bereit?

Er will um jeden Preis Tripolis einnehmen. Was Haftar in Moskau wollte, war eine Waffenruhe, die ihn als Sieger erscheinen lässt. Das hätte ihm Zeit gegeben, sich wieder zu sammeln und später erneut anzugreifen.

Die Türken und die Russen haben in Libyen zunehmend die Führung übernommen, die Europäer bleiben aussen vor.

Die Europäer haben versagt. Sie haben Libyen jahrelang vernachlässigt und anderen Staaten das Handeln überlassen. So haben sie ihren Einfluss in einem Teil Afrikas verloren. Das wird Folgen haben, bei ihren wirtschaftlichen Interessen in Libyen und bei der Migrationskontrolle. Nun versuchen sie, das Ruder noch herumzureissen, indem sie eine Konferenz in Berlin ausrichten.

Als verantwortlich für die bisherige europäische Lähmung sehen Sie vor allem Frankreich.

Absolut. Die Franzosen sind einer der wenigen Akteure, die weiter an einen Sieg Haftars glauben. Frankreich hat etwa die Bemühungen Deutschlands torpediert, die Einmischung ausländischer Mächte zu unterbinden. Die Deutschen hatten eine einfache und gute Idee. Sie wollten einen Gipfel einberufen, bei dem man sich auf die ausländische Einmischung in Libyen konzentriert. Dabei wollte Berlin vor allem zwei Staaten unter Druck setzen: die Türkei und die Emirate. Frankreich aber hatte vor, noch andere Themen aufzubringen, etwa die mögliche Abhaltung von Wahlen. Das hat die Initiative hinausgezögert. So sind Wochen vergangen.

Am Sonntag wird die deutsche Regierung eine internationale Libyen-Konferenz in Berlin ausrichten. Was versprechen Sie sich davon?

Nicht viel. Die gescheiterten Vermittlungsversuche der Türkei und Russlands, nur wenige Tage vor dem Treffen in Berlin, haben mehrere Akteure verärgert. Aber es wird wohl eine Roadmap unterzeichnet werden. Die Frage wird sein, ob sie Bestand haben wird. Denn derzeit rüsten beide Seiten weiter auf.

Ein Ende der Kämpfe ist also unwahrscheinlich?

Ich denke schon. Die Kämpfe könnten sogar noch an Intensität gewinnen. Die Emirate, die auf einen totalen Sieg Haftars setzen, könnten noch mehr Waffen und auch Truppen schicken. Anders als Russland unterstützen sie Haftar nicht aus pragmatischen, sondern aus ideologischen Gründen. Sie sehen in ihm denjenigen, der Tripolis von den dort präsenten Muslimbrüdern befreien wird. Am Montag hat sich gezeigt, dass weder Russland noch die Türkei das Gewicht haben, eine Waffenruhe zu bewirken. Das könnten nur die USA.

Die USA zeigen bis jetzt wenig Interesse an Libyen.

Das stimmt, sie interessieren sich nicht sehr für das Land. Solange das Erdöl aus Libyen weiter exportiert wird und die Terrormiliz Islamischer Staat dort nicht wieder erstarkt, halten die Amerikaner es für in Ordnung, die Region Mächten wie den Emiraten, der Türkei oder Russland zu überlassen. Dass dies nicht funktioniert, haben die gescheiterten Verhandlungen am Montag gezeigt.

Wenn Haftar Tripolis einnähme, wären die Kämpfe damit zu Ende?

Ich denke nicht, dass er die Stadt einnehmen wird. Wenn es Haftar aber gelingt, in Tripolis einzufallen, wäre das der Beginn eines neuen Krieges. Der Widerstand wird gross sein. 2017 nahm Haftar Benghasi ein. Die Stadt ist viel kleiner als Tripolis, die Gegenwehr war geringer. Trotzdem dauerte die Eroberung vierzig Monate. Eine Eroberung von Tripolis könnte Jahre dauern.

Jalel Harchaoui (47) ist Libyen-Experte und wissenschaftlicher Mitarbeiter am niederländischen Clingendael Institute. Der Franzose algerischer Abstammung publiziert unter anderem im Journal «Foreign Affairs» und für die Genfer Forschungsstelle Small Arms Survey.

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