Fünfzig Sekunden aus dem Leben einer Stadt: Was ein Film von 1896 über das Basel der Belle Epoque verrät

Passanten, ein streunender Hund, ein Fuhrwerk mit Bierfässern: Der erste Film, der in Basel gedreht wurde, ist auf den ersten Blick wenig aufregend. Wenn man ihn so anschaut, wie Hansmartin Siegrist das getan hat, wird er zum faszinierenden Zeitdokument.

Urs Hafner
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Manche kommen, andere gehen, aber kaum etwas ist zufällig auf dem kurzen Film, der 1896 auf der Basler Rheinbrücke gedreht wurde.

Manche kommen, andere gehen, aber kaum etwas ist zufällig auf dem kurzen Film, der 1896 auf der Basler Rheinbrücke gedreht wurde.

PD

Basels erster Film wird im Herbst 1896 gedreht. Unspektakulär zeigt er während rund 50 Sekunden Passantinnen und Passanten beim Überqueren der alten Rheinbrücke (heute die Mittlere Brücke). Wie in der Frühphase des Films üblich, also noch in der Zeit vor dem Kino, bewegt die Kamera sich nicht, die Einstellung bleibt gleich.

Man scheint den gewöhnlichen Stadtalltag zu sehen. Ein von Pferden gezogener Wagen mit Bierfässern rumpelt vorbei, ein Junge schaut verwundert in den Kinematografen der Brüder Lumière aus Lyon. Andere drehen sich kurz um. Das ist alles. Hat der Streifen aus der Frühgeschichte des Films überhaupt jemals jemanden interessiert?

Er hat, und wie! Einige Tage nach dem Dreh wird der Kurzfilm neben weiteren mehrmals im ausverkauften Stadtcasino aufgeführt. Die Baslerinnen und Basler, die sich den Eintritt leisten können, sind indes nicht nur entzückt von der Sensation der bewegten Bilder. Sie kennen den Grossteil der auftretenden Passanten und deren Verbindungen untereinander. Sie wissen: Hier inszeniert sich das umtriebige Haupt eines Clans. Bei der zufällig anmutenden Brückenszene ist nämlich nichts zufällig. Sie ist ein streng choreografierter Auftritt, inklusive Pannen.

Der Wind dreht

Seit vielen Jahren beschäftigt sich Hansmartin Siegrist detektivisch mit der Dechiffrierung des Films «Lumiere 308: Bâle – le pont sur le Rhin» – so lautet sein offizieller Name. Nun legt der Basler Filmwissenschafter seine Erkenntnisse, die er zusammen mit anderen Forschenden gewonnen hat, in einem noch und noch verblüffenden Band vor: «Auf der Brücke zur Moderne». Das Buch zum Film ist mit einer geglückten archäologischen Ausgrabung zu vergleichen: Wo eben noch ein Hügel mit ein paar behauenen Steinbrocken zu sehen war, sieht man plötzlich eine ganze Stadt vor sich.

Siegrist macht nicht nur den Schwarz-Weiss-Film mit allen Details sichtbar, sondern mit ihm ein schillerndes Basel der Belle Epoque, das man so nicht gekannt hat. Er hat im Film und rund um ihn herum so ziemlich alles recherchiert, was man recherchieren kann. Sogar dass sich das Wetter am Drehtag veränderte, brachte er in Erfahrung – unter anderem mithilfe des Zigarrenrauchs, der bald in die eine, bald in die andere Richtung zieht. Und doch merkt Siegrist wiederholt an, dass mit weiteren Ergebnissen zu rechnen sei. Die Vergangenheit ist nicht weniger unerschöpflich als die Zukunft.

Der Autor zieht seine filmhistorische Stadtgeschichte an sechs Protagonisten auf, die fast alle auf der Brücke auftreten. Von diesen «dramatis personae» besonders wichtig sind der geltungsbedürftige Seidenmeister Achilles Lotz-Trueb und der, wie Siegrist betont, bedeutendste Schweizer Filmpionier, François-Henri Lavanchy-Clarke. Eine «Jahrhundertfigur», die völlig verkannt sei.

Ein paar Fässer Bier

Lavanchy-Clarke ist der Produzent nicht nur dieses Films, sondern vieler weiterer der damals beliebten Stadtfilme. Daneben ist er Pietist, Philanthrop (er engagiert sich für Blinde und Gehörlose) und ein Marketing-Ass für englische Seife und deutsche Schokolade – im Basler Film platziert er mit den Bierfässern die Reklame für Basler Löwenbräu. Noch am gleichen Tag reist er nach Schaffhausen, um den Rheinfall filmen zu lassen.

Ein skeptischer Blick in die Kamera. Von wem könnte man gesehen werden?

Ein skeptischer Blick in die Kamera. Von wem könnte man gesehen werden?

PD

Lotz-Trueb dagegen will sich, seine Familie und seine Beziehungen zu Persönlichkeiten in Szene setzen, und zwar umso mehr, als er nicht zum «Daig» gehört, zu den alteingesessenen Patrizierfamilien. Er ist Lavanchy-Clarkes Mann vor Ort, der die Polizei aufgeboten hat, welche die Brücke für die gewöhnlichen Passanten sperrt und dafür sorgt, dass die Statisten instruiert sind. Zudem hat die Kamera sein Zunftlokal im Fokus.

Es ist nicht der «Daig», der sich das neue Medium aneignet, sondern ein Kleinbasler Seidenfabrikant, der über die Färbetechnik Affinitäten zur Chemie der Filmproduktion gewonnen hat. Das Medium führt auf der Brücke Leute zusammen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Unter den Protagonisten sind ein patrizischer Akademiker, ein Kunstmaler, ein Dandy und – in Zivil – «Abbé» Joye, von dem man aber weiss, dass er Jesuit ist.

Die Bewegung des Wassers

Eigentlich ist der katholische Orden im reformierten Basel verboten, doch das kümmert das Stadtoriginal Joye wenig. Er ist der Kinopionier Basels, der das Potenzial des Mediums nicht zuletzt für die – katholische – Mission erkannt hat. Im Kampf für konfessionelle Schulen verbündet er sich gegen die Freisinnigen mit den Pietisten. Auf die Brücke führt ihn nicht nur die Liebe zum Film, sondern auch seine Bekanntschaft mit Lotz-Trueb. Die Zuschauer im Stadtcasino erkennen auch ihn.

Und sie realisieren, dass Pannen passiert sind. Der Junge, der lange in die Kamera staunt, und die Passanten, die sich gegenseitig im Weg stehen: Das war nicht geplant, doch das Signal zum Start des Drehs erfolgte zu spät. Auch dass ein Mann den vom Regen feuchten Boden giesst, dürfte den Zuschauern aufgefallen sein. Was im städtischen Alltag der Beseitigung von Staub und Schmutz dient, soll hier bloss demonstrieren, dass das Medium Film sogar die Bewegung des Wassers sichtbar machen kann.

1001 Geschichten erzählt Hansmartin Siegrist: zu Personen, Geschäften, Medien. Er holt aus, rollt auf, knüpft Fäden. Seine Perspektive ist so lokal wie global. Noch im gleichen Jahr reist der Kameramann nach Japan, um auch dort zu filmen. Zuweilen ist der Leser überfordert ob der Fülle an Stoff, zuweilen dünkt ihn, der Autor sei nun doch abgeschweift oder habe das Fuder überladen, wenn er die kurz vor dem Abbruch stehende Brücke zum europäischen Verkehrsknotenpunkt und Sinnbild für den Übergang in die Moderne erklärt oder im Smartphone eine Analogie zu einer frühmodernen Bildtechnik entdeckt.

Alles in allem aber bieten die dichten Geschichten eine nuancierte und fesselnde Momentaufnahme der Stadt. Sie weicht Gewissheiten auf, indem etwa die Grenzen zwischen den Konfessionen, zwischen Hoch- und Volkskultur, zwischen Lokalpatriotismus und Weltläufigkeit fraglich werden. So frisiert der Filmfan Lotz-Trueb seinen Stammbaum für noch mehr historischen Tiefgang. Mit dem Fortgang der Forschung zu diesem Film könnte eine weitere Gewissheit fallen: dass an der Entstehung des Films nur Männer beteiligt waren.

Hansmartin Siegrist: Auf der Brücke zur Moderne. Basels erster Film als Panorama der Belle Epoque. Christoph-Merian-Verlag, Basel 2019. 440 S., zahlreiche Abb., Fr. 48.–. Der Film und Dokumentationsmaterial dazu sind auf www.50sekundenbasel1896.ch zugänglich.