Strassennamen ändern, Denkmäler stürzen? Wir müssen die historischen Ambivalenzen ertragen

Wer Geschichte nach der neuen Moral erzählt, macht sie zur Projektionsfläche für die ideologischen Konflikte der Gegenwart

Maximilian Zech
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2017 fielen in den USA reihenweise die Konföderiertendenkmäler. Im Bild die verhüllte Statue des Konföderierten-Generals Thomas «Stonewall» Jackson im Justice Park in Charlottesville, Virginia.

2017 fielen in den USA reihenweise die Konföderiertendenkmäler. Im Bild die verhüllte Statue des Konföderierten-Generals Thomas «Stonewall» Jackson im Justice Park in Charlottesville, Virginia.

Michael Reynolds / EPA

Der niederländische Historiker Johan Huizinga hat die Geschichtsschreibung einmal als «die geistige Form, in der eine Kultur sich Rechenschaft über ihre Vergangenheit ablegt» bezeichnet. Was an dieser Definition aus dem Jahr 1929 heute besonders aktuell erscheint, ist die moralische Dimension, die der Geschichte zugeschrieben wird.

Es hat sich etwas verändert im Umgang mit der Vergangenheit. In den letzten Jahren sind diesseits und jenseits des Atlantiks zahlreiche Debatten entbrannt, in denen es im Kern um die Frage geht, ob historische Persönlichkeiten, deren Taten und Ansichten unseren heute vorherrschenden Moralvorstellungen nicht mehr entsprechen, noch verehrungswürdig seien oder nicht. Sollte man Kolumbus zukünftig vor allem als Völkermörder in Erinnerung behalten? Verdient es der notorische Antisemit Luther, weiterhin bewundert zu werden? Dabei geht es nicht nur um die Evaluierung einzelner Menschen, sondern es wird über ganze Zeitalter und Gesellschaftssysteme zu Gericht gesessen. So gilt etwa die Ära des Kolonialismus heute mehrheitlich als ein Schandfleck in der europäischen Geschichte. In den USA verdeutlichten die Stürze der Konföderiertendenkmäler, dass sich auch dort inzwischen ein radikaler Bruch mit Teilen der eigenen Vergangenheit vollzogen hat.

Wo liegen die Ursachen? Schon im Jahr 2000 konstatierte der amerikanische Historiker Elazar Barkan «einen neuen globalen Trend der Wiedergutmachung für historisches Unrecht», wie er in seinem Buch «Völker klagen an» («The Guilt of Nations») schrieb. Barkan sah in der zunehmenden Tendenz, eigene historische Schuld anzuerkennen und nach einem Ausgleich mit den Opfern zu streben, das Aufkommen einer «neuen internationalen Moral», die unsere Wahrnehmung der Geschichte verändere. Was genau das Neuartige an diesem Ansatz ist, lässt sich selber nur durch einen Blick in die Vergangenheit verstehen.

Welche Erinnerung?

Die Frage, wie man mit dunkler Geschichte umgehen solle, beschäftigt die Menschheit schon lange, wurde aber die meiste Zeit völlig anders als heute beantwortet. In einem Essay aus dem Jahr 1997 hat der Althistoriker Christian Meier aufgezeigt, dass «das Gebot zu vergessen» von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts den Umgang mit gewaltsamen Konflikten und historischem Unrecht bestimmte – und zwar in fast allen Kulturen.

Ziel war jedoch nicht, das Unheil tatsächlich aus den Büchern zu tilgen, sondern den Groll zu beseitigen, den es hervorgebracht hatte und der eine Gefahr für den zukünftigen Frieden darstellte. «Oblivio perpetua et amnestia» – immerwährendes Vergeben und Vergessen – forderte etwa der Westfälische Friede von den Kriegsparteien, die sich 30 Jahre lang bekämpft hatten. Die Wende vom bewussten Vergessen zum bewussten Erinnern sei erst mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Versailler Vertrag eingeleitet worden, in dem die Siegermächte von Deutschland «ein Werk der Wiedergutmachung bis zur äussersten Grenze seiner Fähigkeit» verlangten.

Der Holocaust und die anderen Verbrechen der Nationalsozialisten etablierten dann eine ganz neue Gedenkkultur. «Ist die unabweisbare Erinnerung an Auschwitz also die Ausnahme von der Regel der Weltgeschichte», fragt Meier, «oder begründet sie eine neue Regel? So dass das Gebot des Vergessens obsolet wird?»

Mittlerweile deutet tatsächlich einiges darauf hin, dass sich – zumindest in der westlichen Welt – ein Paradigmenwechsel vollzogen hat. Blieb das Gebot des normativen Erinnerns zunächst weitgehend auf das NS-Unrecht beschränkt, greift es seit einigen Jahren immer öfter auch auf die restliche Vergangenheit über.

«Allmählich erkennen wir die zunehmende Elastizität von Geschichte und dass sie alles andere als statisch ist», schreibt Barkan. Folgt man dem Historiker, offenbart der sich häufende Streit um Strassennamen, Denkmäler und andere geschichtspolitische Symbole den Willen, Geschichte nicht mehr nur aus der Perspektive der Sieger zu erzählen, sondern im Sinne jener neuen internationalen Moral. Zwar ist gewiss wenig dagegen einzuwenden, wenn immer mehr Nationen zu einem selbstkritischen und verantwortungsbewussten Umgang mit den unrühmlichen Kapiteln der eigenen Historie finden. Doch der Versuch, den Augiasstall der Vergangenheit auszumisten, wirft auch Fragen und Probleme auf, die nicht ohne weiteres übergangen werden können.

Denn wer historisches Unrecht verurteilen will, muss es zunächst einmal identifizieren. Jenseits des 20. Jahrhunderts erscheint es jedoch nahezu unmöglich, zu einem allgemeinen Konsens darüber zu gelangen, welche Teile der Geschichte verdammenswert sind und welche nicht. In seiner Schrift «Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben» schreibt Friedrich Nietzsche dazu: «Jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden – denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen die menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen.»

In der Tat ist ein beträchtlicher Teil der Menschheitsgeschichte durch Gewalt, Unterdrückung oder Diskriminierung geprägt. Legte man auch nur einen dieser Aspekte der Taxierung menschlicher Kollektivvergangenheit zugrunde, würde das meiste durchfallen.

Geschichte nach derlei Normen zu beurteilen, hiesse aber auch, die historische Bedingtheit unserer eigenen Werte zu verleugnen.

Totalrevision der Geschichte

Vergangene Kulturen und Zeitalter haben die Welt unter anderen Vorzeichen betrachtet, als wir es tun. Ihre Handlungen und Sichtweisen sind uns oft nur verständlich, wenn wir bedenken, dass die Menschen damals ebenso einer Vielzahl an Einflüssen ausgesetzt und, so wie wir, stets auch das Produkt ihrer Zeit waren.

Gerade diese Unmöglichkeit, objektive, zeit- und raumlos gültige Kriterien zu finden, macht es aber offensichtlich so verlockend, das, was heute eine Mehrheit für richtig erachten mag, zum Massstab für die gesamte Vergangenheit zu erklären.

Doch wie sinnvoll ist es wirklich, eine Person, die vor Jahrhunderten lebte, heute der Frauenfeindlichkeit, Homophobie oder religiösen Intoleranz zu zeihen?

Setzte sich dieses Prinzip tatsächlich durch, wäre theoretisch eine Totalrevision der Historie in jeder neuen Generation möglich. Wer weiss: Vielleicht wird die heutige Jugend in ein paar Jahrzehnten Thomas Newcomen und James Watt für die Erfindung der Dampfmaschine verurteilen. Geschichte verkäme so zu einer reinen Projektionsfläche für die ideologischen Konflikte der Gegenwart.

Wo also anfangen und wo enden? Diese Frage stellt sich für denjenigen, der über das Einstmalige richten will, in moralischer wie auch in zeitlicher Hinsicht. Ab wann ist Vergangenheit so weit von uns entrückt, dass sie sich einer Bewertung entzieht? Können Menschen Opfer von etwas sein, das lange vor ihrer Geburt geschah – und sehen sie sich auch selber so? Letztlich werden diese Fragen von Fall zu Fall neu verhandelt werden müssen.

Der Wunsch, historisches Unrecht als solches kenntlich zu machen und öffentlich anzuprangern, ist mittlerweile zu einem festen Bestandteil politischer Deutungskämpfe geworden. Als eine Folge der ungeheuerlichen Verbrechen des 20. Jahrhunderts, die ein Verdrängen und Vergessen, wie in früheren Zeiten üblich, unmöglich machten, entspringt er aber auch der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und dem Bedürfnis, Wiedergutmachung gegenüber den einstigen Opfern oder ihren Nachkommen zu leisten.

In diesem engen Rahmen konnte das Gebot des normativen Erinnerns produktiv auf die Gegenwart und die Zukunft wirken. Ob aber das Unterfangen, die gesamte menschliche Vergangenheit nach den strengen Richtwerten des heutigen Zeitgeistes zu bewerten, ebenso fruchtbar sein kann, ist fraglich.

Nietzsche sah in der «kritischen Historie» den Versuch, «sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt [. . .].» Die Vergangenheit säubern von allem, was aus heutiger Sicht mit Scham und Unbehagen erfüllt – letztlich offenbart sich in diesem Wunsch auch die Unfähigkeit, Ambivalenzen zu ertragen, der Drang, menschliches Wirken in ein simples Gut-böse/Bedenklich-unbedenklich-Schema zu zwängen.

Als 2017 in den USA reihenweise die Konföderiertendenkmäler fielen, rechtfertigte der damalige Bürgermeister von New Orleans dies mit der bemerkenswerten Aussage, die Südstaaten hätten «auf der falschen Seite der Menschheit» gestanden. Von der Vorstellung aber, dass es eine richtige und eine falsche Seite der Menschheit gibt – und schon immer gegeben hat –, ist es nur ein kleiner Schritt zu der Idee, jeden Menschen auch einer dieser Seiten zuzuordnen.