Sozialpsychologe Jonathan Haidt: «Es geht uns nicht um eine Diversität der Hautfarben, sondern der Standpunkte»

Er setzt sich als Linker für die Meinungs- und Forschungsfreiheit auch rechter Professoren ein: Jonathan Haidt. Die ängstliche junge Generation Z bereitet ihm Sorgen – ebenso wie die zunehmende Tribalisierung unserer Gesellschaft.

Marc Neumann, Washington
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Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt sieht die Forschung durch politische Korrektheit bedroht.

Der Sozialpsychologe Jonathan Haidt sieht die Forschung durch politische Korrektheit bedroht.

Jonathan Haidt / Eyevine / Laif

Herr Haidt, Glückwunsch zum fünften Geburtstag Ihrer Heterodox Academy, einer Community von Akademikern, die Meinungs- und Forschungsfreiheit über alles stellen! Wie hat das alles angefangen?

Die Anfänge gehen zurück auf das Jahrestreffen der Sozialpsychologen im Jahre 2011, als ich in einem Vortrag einen Blick in die Zukunft unseres Metiers warf. Mir schien, dass unsere durchgängig linke Haltung ein Problem für die Forschungsqualität ist: Hypothesen, die im Einklang mit unserem linken Selbstverständnis stehen, werden mit Applaus durchgewinkt. Aber so geht das in der Akademie nicht. Ideen müssen hinterfragt und mit Anschauung belegt werden.

Sie sehen sich weniger als Contrarian denn als gute alte Wissenschafter?

Ursprünglich hatten wir weder moralische noch politische Anliegen, es ging einzig um die Qualität der Wissenschaft. Die Forschung war ein freies Feld – und soll es auch bleiben. Wir waren eine Handvoll Leute, die sich als rechtschaffene Akademiker ohne politische Schlagseite verstanden, und heckten die Idee eines wirklich kritischen Programms aus, gaben ihm das schöne griechische Attribut «heterodox» und reservierten eine Internetdomäne.

Und dann?

Dann ging unsere Website live, das war im September 2015. Kurz darauf kam der Halloween-Aufruhr an der Yale University in Form von landesweiten Protesten gegen eine E-Mail, in der die Pädagogin Erika Christakis anstössige Halloween-Kostüme unter Berufung auf die Ausdrucksfreiheit verteidigte. Das war quasi der Startschuss zu einer merkwürdigen neuen Moral auf dem Campus, die politisch aggressiv Safe Spaces, Mikroaggressions-Training und dergleichen forderte. Wir drehten den Spiess um: In der Heterodox Academy geht es immer noch um Forschungsqualität, aber auf der Grundlage einer universitären Kultur des Vertrauens und der Standpunkt-Vielfalt, in der freie Meinungsäusserung angstfrei möglich ist.

Sie haben also selbst einen akademischen Safe Space geschaffen?

Stimmt. Und über 3000 Professoren und Professorinnen – aus dem linken und rechten Spektrum – machen mit. Es geht uns nicht um eine Diversität der Hautfarben, sondern der Standpunkte.

Wie erklären Sie sich die Moralisierung bzw. Politisierung selbst der Naturwissenschaften?

Menschliche Moral ist gleich strukturiert wie Religiosität. Wir sind tribale Geschöpfe, verehren Objekte und Personen, um die wir dann in der Gruppe tanzen. In der kollektiven Verehrung werden wir zum Team und vertrauen einander. Das ist wesentlich menschlich. Innerhalb der Universität dagegen sollten wir uns einzig an den sakralen Gegenstand der Wahrheit halten, um angeborene Beschränkungen, individuelle und kollektive Vorurteile zu überwinden.

Ist die Wahrheitsorientierung von Forschung und Lehre an amerikanischen Akademien gefährdet?

Auf jeden Fall. Soziale Gerechtigkeit und Gleichheit werden heute in vielen Bereichen – insbesondere in den Geisteswissenschaften – höher gewichtet als Wahrheit. Mit der leidenschaftlich geführten Diskussion über derzeit kontroverse Themen wie Ethnie, Geschlecht, LGBTQ und Einwanderung drängt die Öffentlichkeit in die Universität. Soziale Netzwerke reissen die Mauern weiter ein. Studenten und Fakultätsmitglieder vertreten private politische Anliegen einzig unter dem Gesichtspunkt von Gleichheit und Gerechtigkeit. Das ist ein Fehler.

Warum haben ausgerechnet Studenten zunehmend Mühe, andere Standpunkte als ihre eigenen anzunehmen, ja überhaupt ernst zu nehmen?

Weil sie sie als Angriff auf ihre Persönlichkeit wahrnehmen. Als Psychologe habe ich mich in die Forschung zu Depression, Angstzuständen und Sozialen Netzwerken vertieft. Das Resultat: Leute mit Jahrgang 1996 oder später sind grundsätzlich anders als ältere Jahrgänge, weil die Generation Z schon ab der sechsten Klasse auf sozialen Netzwerken aktiv wird, wenn ihre Gehirne noch überaus plastisch sind. Das unterscheidet sie von Millennials mit 1980er Jahrgängen, die erst an der Uni auf Social Media aktiv wurden. Die Gen Z ist viel fragiler, ängstlicher, verletzlicher und empfindlicher gegenüber Worten. Es ist sehr viel schwieriger, sie zu unterrichten oder in ein Gespräch zu verwickeln. Das kann einen in Schwierigkeiten bringen – und unsere Universitäten helfen mit. Studenten werden ermuntert, zu melden, falls jemand ein Wort benutzt, das ihnen nicht gefällt. Wir haben einen Generationenbruch, der wohl nur mit demjenigen zwischen Babyboomern und Nachfolgegenerationen vergleichbar ist.

OK, Boomer. Aber ist das nicht nur eine Entwicklungsphase? Um einen Vergleich zu bemühen: In den 1980er Jahren gab es viel Händeringen um Heavy Metal, Satanismus und dergleichen. Heute sind die Metal-Heads weitgehend normal.

Bei normalen Generationskonflikten sagen die Älteren: Mein Gott, was haben diese Jungen für Werte, was machen sie mit ihrem Leben? Heute, bei der Gen Z, haben wir dagegen harte Evidenz für eine Epidemie von Depression, Angst, Selbstverletzung und Suizid. Das ist nicht nur die Meinung von alten Leuten, Gen Z sagt das selbst. Wenn Frühteenager Wochen und Monate das Stresshormon Cortisol ausscheiden, kann das die Funktionsweise des sich noch entwickelnden frontalen Kortex ändern. Möglicherweise eichen junge Teenager ihr Hirn auf einen permanenten Stress- und Besorgniszustand.

Dasselbe sagte man früher zu Punkmusik.

Klar gibt’s immer eine moralische Panik über die Kids. Ich behaupte: Die Gen Z ist in einer Weise lädiert wie keine Generation zuvor. Vielleicht wachsen sie aus ihren Angstzuständen heraus – doch was, wenn nicht?

Sind sie ein Untergangsprophet?

Natürlich wäre es übertrieben, zu behaupten, die Welt fahre grad in toto zur Hölle. Übers Ganze gesehen wird vieles besser. Aber in den USA und anderen Demokratien im Westen dachten wir im goldenen Zeitalter der 1990er Jahre, das 20. Jahrhundert sei ein Referendum über Liberalismus, freie Märkte und Demokratie gewesen. Wir sahen uns als Gewinner am Ende der Geschichte. Zudem waren die 1990er Jahre die Morgenröte des Internets und eines enormen Optimismus in dessen Folge. Dann kam die grosse Rezession. Und spätestens mit dem Arabischen Frühling endete der Optimismus.

Schuld ist der Arabische Frühling 2011?

Wir hofften, dass im Arabischen Frühling Diktatoren durch soziale Netzwerke entmachtet würden. Diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Fast zeitgleich erleben wir eine Wandlung in den Social Media. Bis 2009 waren soziale Netzwerke: Hier bin ich, das sind meine Lieblingsbands, und hier sind alle meine Freunde. Das änderte sich mit der Einführung von «Like»- und «Retweet»-Funktionen auf Twitter und Facebook sowie der algorithmischen Inhalt-Erfassung. Das schuf eine Empörungsmaschine, die nicht nur russische Hacker ausnützen. Ab 2014 änderte sich die Zusammensetzung des Raum/Zeit-Kontinuums auf sozialen Netzwerken in nahezu einsteinschen Ausmassen. Wie wenn Gott die Schwerkraftkonstante verdoppelt hätte. Seither denke ich, wir sind in dunkle Zeiten eingetreten, die die Zukunft der Demokratie infrage stellen wie nie zuvor.

Was genau macht denn die sozialen Netzwerke aus Ihrer Sicht so gefährlich?

Wir brauchten Jahrtausende, um tolerante, vielfältige, säkulare Gesellschaften zu schaffen, die dem Tribalismus einen Riegel schieben. Mit dem Wandel der Social Media ändert sich das. Sie fördern den Tribalismus, indem sie uns in eine neue soziale Ökonomie katapultieren, andere Verstärkungsmechanismen für eine alte Art von Sozialprestige bieten. Es ist schockierend, wie soziale Netzwerke und Gerätabhängigkeit uns unseren Freunden und Familienmitgliedern entfremden. In dieser ungesunden Interaktion bringen Social Media Angeberei, moralische Effekthascherei und die schlimmsten Aspekte menschlichen Verhaltens zum Vorschein.

Die Vorteile der sozialen Netzwerke als neue Agora machen das nicht wett?

Nein. Wenn in einem öffentlichem Raum Anreize dafür geschaffen werden, dass Leute anonym sich in Grausamkeiten zwecks eigenen Statusgewinns üben, ohne die Konsequenzen für ihr asoziales Verhalten zu tragen, dann ist das der Demokratie nicht zuträglich. Falls Twitter der Traum eines neuen und besseren öffentlichen Raumes war, wo Bürger Ideen diskutieren, dann ist dieser Traum geplatzt.

Wer kann die kulturelle Verrohung durch soziale Netzwerke beheben, wenn es die User selbst nicht schaffen – am Ende bloss der Gesetzgeber?

In den USA halte ich die Chancen eher für gering. Aber in der EU, UK oder Australien, Ländern also, die den Social-Media-Unternehmen wenig Liebe entgegenbringen, gibt es Aussicht auf regulatorische Eingriffe. Wenn genug Staaten gemeinsam eine obligatorische Identifizierung von Social-Media-Teilnehmern fordern, könnte das ins Regelwerk eingehen. Zweitens erwarte ich gigantische Sammelklagen, wenn sich herausstellt, dass etwa der Instagram- oder Facebook-Gebrauch Minderjähriger zu einer Epidemie von Depression unter Jugendlichen geführt hat. Sie müssten haften, weil sie wenig zum Schutz der Minderjährigen getan haben. Das könnte gewaltige Kräfte freisetzen.

Von links gegen den Mainstream

Das ist Jonathan Haidt

Jonathan Haidt ist Sozialpsychologe und Professor for Ethical Leadership an der Stern School of Business der New York University. Haidt bezeichnet sich selbst als linksliberalen New Yorker jüdischer Abstammung. Mit seiner Forschungs- und publizistischen Arbeit schwimmt er jedoch häufig gegen den Linksdrall im politischen Mainstream. Berühmt geworden ist Haidt, gemäss «Foreign Policy» einer der «wichtigsten globalen Denker» und gemäss Google-Zitat-Index einer der 25 wichtigsten lebenden Psychologen, durch seine moralpsychologischen Untersuchungen zur politischen und religiösen Polarisierung von Menschen.

Seit seinen kritischen Betrachtungen zum Zusammenhang von überbehüteter Erziehung und der Kultur einer Generation überempfindlicher, politisch hoch-korrekter Studenten an der Universität in «The Coddling of the American Mind» (2018) gilt er als Kritiker des zeitgenössischen Strebens nach sozialer Gerechtigkeit auf Kosten der Rede-, Meinungs- und Forschungsfreiheit auf dem Campus. Seine jüngsten Überlegungen betreffen das Verhältnis zwischen Sensibilitäten der Generation Z (Jahrgang 1996 und später) und der Kultur von «wokeness», Identitätspolitik und Egalitarismus – und der zerstörerischen Rolle, die soziale Netzwerke dabei spielen.

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