Interview

Ein Virologe und ein Ökonom diskutieren über die Corona-Pandemie: «Die Politiker behaupten nun, Deutschland habe superschnell reagiert, aber das stimmt einfach nicht»

Die Corona-Krise hat Deutschland zum Stillstand gebracht. Wie lange hält die Wirtschaft das durch? Und wann können die derzeitigen Massnahmen gelockert werden? Der Virologe Alexander Kekulé und der Wirtschaftswissenschafter Jens Südekum reden darüber, was jetzt und in den kommenden Wochen getan werden müsste.

Hansjörg Friedrich Müller, Berlin
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Allein unterwegs: ein Einkaufszentrum in Leverkusen im März 2020.

Allein unterwegs: ein Einkaufszentrum in Leverkusen im März 2020.

Thilo Schmuelgen / Reuters

Herr Kekulé, dieses Gespräch geht auf eine Anregung von Jens Südekum zurück, der meinte, Ökonomen und Virologen redeten bis jetzt zu wenig miteinander, wodurch gelegentlich der Blick für das grosse Ganze fehle. Teilen Sie diesen Eindruck?

 Alexander Kekulé.

Alexander Kekulé.

Klaus W. Schmidt / Imago

Alexander Kekulé: Auf jeden Fall. Wir agieren in Deutschland eigentlich gar nicht mehr politisch, sondern hängen am Faden der Wissenschaft. Ich glaube, es ist falsch, dass dieses sehr komplexe, vielschichtige Problem beinahe ausschliesslich aus der Perspektive der Virologie betrachtet wird. Die Sicht der Virologen kann immer nur ein Aspekt von vielen sein.

Treten manche Ihrer Fachkollegen zu kompromisslos auf?

Kekulé: So weit würde ich nicht gehen. Ich habe ja selbst sehr früh gefordert, Gegenmassnahmen zu ergreifen, lange bevor das Robert-Koch-Institut (RKI) dann auch auf diese Linie eingeschwenkt ist. Die Politik müsste mit vielen Wissenschaftern reden, um sich ein eigenes Bild zu machen. Das ist wie in einem Gerichtssaal, wo ein Sachverständiger auftritt: Der Richter darf nicht einfach dem Experten folgen, sondern muss diesen so lange befragen, bis er das Problem selbst geistig durchdrungen hat. In der Wirtschaft wird ja auch eine Vielzahl von Fachleuten angehört. Gegenüber den Naturwissenschaften besteht da eine Schieflage: Dort verlässt sich die Politik viel mehr auf die Experten, weil sich die Politiker auf diesem Gebiet weniger auskennen. Die gewählten Volksvertreter können ihren Primat aber nur aufrechterhalten, wenn sie mehrere Expertenmeinungen kennen. Das ist nicht zuletzt auch aufgrund der dominanten Stellung des RKI leider nicht der Fall.

Herr Südekum, lief das anders, bevor die Bundesregierung über die ökonomischen Massnahmen in der Corona-Krise entschieden hat?

Jens Südekum.

Jens Südekum.

Stefan Boness / Ipon / www.imago-images.de

Jens Südekum: In der Tat. Schaut man auf die wirtschaftspolitischen Massnahmen, etwa auf das Paket, das gestern im Bundestag verabschiedet wurde, gab es im Vorfeld sehr rege Diskussionen mit Ökonomen. Dabei ging es dann auch um Detailfragen, etwa wie man den Rettungsschirm oder die Regelungen für Kurzarbeit gestalten soll. Aber über alldem schwebt ja die grosse Frage nach dem partiellen Shutdown, den wir jetzt erleben. Wie lange soll das anhalten, und was für ein Exit-Szenario haben wir? Über diese Frage können auch nicht allein die Ökonomen entscheiden. Hier müssen Experten aus unterschiedlichen Bereichen zusammenwirken und die Regierung beraten, da hat Herr Kekulé völlig recht. Das hat leider bis jetzt noch nicht ausreichend stattgefunden.

Jens Südekum: «Dass wir den Shutdown bis in den Sommer oder gar in den Herbst hinein aufrechterhalten, kann ich mir kaum vorstellen.»

Kekulé: Wichtig ist es, alle Seiten zu betrachten, die medizinische, die wirtschaftliche und die soziale. Wir stehen ja drei Arten von Schäden gegenüber: Zum einen denen, die durch die Krankheit selbst entstehen. Dann haben wir es mit Kollateralschäden zu tun, etwa wenn ein Arzt krank wird und keine Patienten mehr behandeln kann. Und schliesslich stehen wir vor Kollateralschäden zweiter Ordnung, nämlich solchen, die durch die Gegenmassnahmen entstehen. Dass beispielsweise China zeitweise als Produzent und Exporteur ausfiel, war ja keine direkte Folge der Seuche, sondern eine der Gegenmassnahmen. Dort sind zwar etwa 3000 Menschen gestorben, aber deswegen hätte man ein Land dieser Grösse noch lange nicht lahmlegen müssen. Man muss aufpassen, dass man die Wirtschaft nicht stranguliert.

Droht diese Gefahr in Deutschland?

Südekum: Die ökonomischen Kosten, die durch diesen partiellen Shutdown anfallen, sind jedenfalls exorbitant und weitaus höher als alles, was wir aus der Finanzkrise von 2008 kennen. Das Ifo-Institut prognostiziert, jede zusätzliche Woche Shutdown würde ungefähr ein Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) kosten, also 35 Milliarden Euro. Im schlimmsten Fall könnte das BIP um bis zu 20 Prozent sinken. Die Gegenmassnahmen und Garantien summieren sich allein in Deutschland auf bis zu 1,2 Billionen Euro. Und all diese Szenarien gehen noch davon aus, dass die nun getroffenen Massnahmen zwei bis drei Monate anhalten werden.

Könnte die Wirtschaft den jetzigen Zustand überhaupt länger durchhalten?

Südekum: Darüber können wir nur spekulieren. Dass wir den Shutdown bis in den Sommer oder gar in den Herbst hinein aufrechterhalten, kann ich mir allerdings kaum vorstellen. Dabei geht es gar nicht einmal unbedingt ums Geld, denn das kann die Europäische Zentralbank ja produzieren. Aber denken Sie nur einmal an den Produktionsausfall in der Industrie. Wenn keine Autos mehr hergestellt werden und wenn Restaurants nicht mehr öffnen, können die Leute ja nicht mehr konsumieren. Und neben den wirtschaftlichen Aspekten stellt sich auch die Frage, wie lange eine Gesellschaft einen Zustand durchhalten kann, in dem alle zu Hause hocken.

Herr Kekulé, Sie rechnen damit, dass die Zahl der Neuinfektionen bald sinken wird . . .

Kekulé: Ich gehe davon aus, weil wir in Deutschland ganz massive Massnahmen ergriffen haben und ich auch den Eindruck habe, dass die Regeln von den Bürgern eingehalten werden. Das RKI gab ja bereits am Montag bekannt, einen möglichen Effekt zu sehen. Das hat mich dann doch ein wenig überrascht. Die Inkubationszeit, in der die Krankheit bei einem Infizierten ausbricht, beträgt ja bereits fünf Tage. Dann kommen normalerweise noch zwei bis drei Tage hinzu, bis wir eine Diagnose haben, und dann noch einmal zwei Tage Meldeverzug. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass die Zahl der Neuinfektionen in zwei bis drei Wochen sinken wird.

Alexander Kekulé: «Es hilft nichts, im Inland alles richtig zu machen und dann weiter Flugzeuge aus Teheran ohne Kontrollen landen zu lassen, wie dies bis letzte Woche geschah.»

Und dann könnte man die Einschränkungen lockern?

Kekulé: Das ist eben die Gretchenfrage: ab wann dies möglich ist und in welchem Umfang. Wenn wir in zwei oder drei Wochen alle wieder hinauslassen, könnte sich die Krankheit von neuem ausbreiten. Mein Vorschlag ist, dass wir den Shutdown und das komplette Social Distancing dann durch das ersetzen, was ich Smart Distancing nenne. Das heisst, dass Menschen unter 65 und ohne Vorerkrankungen Gesichtsmasken tragen und die normalen Hygienemassnahmen einhalten.

Und für die Älteren brauchte es Sonderregelungen?

Kekulé: Ältere und Kranke müssen konsequent geschützt werden. Ich übertreibe jetzt bewusst ein bisschen und sage, für die müssen wir ein Fort Knox bauen. Dann müssen wir dafür sorgen, dass sich jeder sofort und anonym testen lassen kann. Und schliesslich brauchen wir deeskalierende Grenzkontrollen, also dass man die Grenzen wieder öffnet, aber schrittweise und je nachdem, in welchem Stadium sich ein Land bei der Pandemiebekämpfung befindet. Es hilft nichts, im Inland alles richtig zu machen und dann weiter Flugzeuge aus Teheran ohne Kontrollen landen zu lassen, wie dies bis letzte Woche geschah.

Südekum: Das halte ich für ein sehr gutes Konzept, und es entspricht auch dem, was ich selbst in den letzten Wochen vorgeschlagen habe. Tests scheinen mir besonders wichtig zu sein. Da könnte es allerdings bald zu einem Kapazitätenproblem kommen, denn über Tests wird derzeit nicht nur in Deutschland diskutiert, sondern in vielen Ländern. Hier könnte die Wirtschaft aushelfen: Viele Unternehmen können derzeit ja nicht produzieren, was sie normalerweise herstellen. Nun könnten beispielsweise Textilhersteller Atemschutzmasken produzieren. So könnte das auch bei den Corona-Tests funktionieren. Dafür müsste der Staat allerdings eine Abnahmegarantie abgeben, so dass die Unternehmen Verlässlichkeit und Planbarkeit haben und sich das betriebswirtschaftlich auch lohnt.

Jens Südekum: «Wir brauchten ein plausibles Ausstiegsszenario, das für die Bürger auch verständlich ist. Da hat die Bundesregierung noch einiges zu tun.»

Macht die deutsche Regierung ihre Sache gut, was den wirtschaftlichen Aspekt betrifft?

Südekum: Was die ökonomischen Massnahmen im engeren Sinne angeht, bin ich sehr zufrieden. An der einen oder anderen Stelle gibt es sicher noch Nachbesserungsbedarf. Die ganz Kleinen erhalten Zuschüsse, für die ganz Grossen gibt es den Schutzschirm, doch die Mittelständler schauen in die Röhre. Ihnen werden jetzt Kredite angeboten, aber bei vielen von ihnen wird sich wohl irgendwann die Frage stellen, wie sie diese Kredite zurückzahlen sollen. Die sind ja oft in Branchen tätig, wo es keine Nachholeffekte gibt, etwa im Tourismusgeschäft. Wenn die Leute jetzt kein Auto oder keinen Fernseher kaufen, dann tun sie dies eben später. Aber wenn sie jetzt nicht in Restaurants gehen, gehen sie später nicht doppelt so oft essen. Und was das grosse Ganze betrifft, müsste klarer kommuniziert werden. Wir brauchten ein plausibles Ausstiegsszenario, das für die Bürger auch verständlich ist. Da hat die Bundesregierung noch einiges zu tun.

Kekulé: «Wir fahren auf Sicht», diesen Satz hört man nun besonders häufig, und aus psychologischer Sicht halte ich das für ein Riesenproblem. Ich habe ja bereits am 22. Januar Einreisekontrollen gefordert. Das RKI hat dann gesagt, das sei unnötig, diese Krankheit werde ausserhalb Chinas keine grosse Rolle spielen. Mein Kollege Christian Drosten meinte damals, es sei zu früh, Alarm zu schlagen, und so stand es dann quasi zwei zu eins. Am 12. Februar schlug ich dann vor, die Testmöglichkeiten europaweit massiv zu erhöhen; auch das hält die Bundesregierung bis jetzt nicht für notwendig. Schliesslich forderte ich, Grossanlässe abzusagen und Schulen sowie Kindergärten zu schliessen, bevor die Leute aus den Ferien in Italien zurückkämen. All das geschah nicht, und so hat sich die Politik in eine Lage begeben, in der sie sich rechtfertigen muss. Nun behaupten die Politiker, Deutschland habe superschnell reagiert, aber das stimmt einfach nicht. So geht weiteres Vertrauen verloren. Klüger wäre es, zu sagen: «Okay, wir haben das am Anfang unterschätzt, aber jetzt sind wir in die Gänge gekommen und haben folgenden Plan.»

Alexander Kekulé: «Solange das Virus in China umging, wäre kaum zu erklären gewesen, warum etwas geschehen muss. Als es Tote in Italien gab, verstanden die Deutschen, dass es ein Problem gibt.»

Haben andere Länder in Europa besser reagiert?

Kekulé: Das ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu sagen, denn die verschiedenen Länder wurden ja nicht gleichzeitig von der Epidemie getroffen. Italien war rein zufällig als erstes Land dran, wahrscheinlich weil es dort eine grosse chinesische Community und auch viele chinesische Touristen gibt. Aber es hätte genauso gut Deutschland treffen können. Wenn es in einem Land einen Ausbruch gibt, ist es überall dasselbe: Die Infektionen steigen exponentiell an, und erst wenn wir uns in dieser Phase befinden, werden Massnahmen eingeleitet. Aber dann ist es eigentlich schon zu spät. Wer später getroffen wurde, hat es auch leichter, Massnahmen zu ergreifen: Als es Tote in Italien gab, verstanden die Deutschen sofort, dass es ein Problem gibt. Solange das Virus nur in China umging, wäre kaum zu erklären gewesen, warum etwas geschehen muss. Vielleicht hat Tschechien es besser gemacht. Dort wurde reagiert, bevor die Phase des exponentiellen Wachstums erreicht war. Ob sich das auszahlt, werden wir in ein paar Wochen wissen.

Südekum: Wenn ich nach Europa schaue, mache ich mir grosse Sorgen. Wir in Deutschland haben nun weitreichende Massnahmen verabschiedet, und das ist alles schön und gut. Aber die Krise trifft ganz Europa und damit indirekt auch wieder uns. Italien kann nicht ohne weiteres vergleichbare Schritte in Gang setzen wie wir. Jetzt, da ein symmetrischer Schock unverschuldet ganz Europa trifft, müssen wir über neue Instrumente nachdenken, mit denen Europa gemeinsam antworten kann. Ich denke da etwa an die einmalige Herausgabe von Corona-Bonds auf europäischer Ebene. Italien hat schon jetzt Schulden in Höhe von 133 Prozent des BIP. Natürlich kann man fragen, ob die Italiener dagegen früher etwas hätten tun können, aber es ist jetzt nicht die Zeit, um über die Fehler der Vergangenheit zu sprechen. Wenn Italiens Schulden nun auf 150 oder 200 Prozent des BIP ansteigen, bricht das Land irgendwann zusammen.

Alexander Kekulé, 61, ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie am Universitätsklinikum Halle. Er zählt zu den renommiertesten deutschen Virologen und ist in der Corona-Krise einer der gefragtesten Experten. Jens Südekum, 44, ist Professor für internationale Volkswirtschaftslehre in Düsseldorf. Er gehört zu den einflussreichsten Ökonomen in Deutschland; auch Regierungsmitglieder suchten schon seinen Rat.

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