Amerikanische Hilfe rettete nach dem Ersten Weltkrieg eine Generation Österreicher vor dem Hungertod

Nach einer schlechten Ernte und den Verheerungen des Kriegs drohten im Winter vor hundert Jahren Tausende von Kindern im Osten Österreichs zu verhungern. Die vom späteren Präsidenten Herbert Hoover geleitete amerikanische Ernährungshilfe wurde zu einer logistischen Mammutaufgabe.

Gerhard Strejcek
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Der spätere amerikanische Präsident Herbert Hoover überwacht 1920 in Brooklyn die Hilfslieferungen nach Europa.

Der spätere amerikanische Präsident Herbert Hoover überwacht 1920 in Brooklyn die Hilfslieferungen nach Europa.

Topical Press Agency / Hulton / Getty

Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker, das traditionell im Musikvereinssaal stattfindet, gehört zu den bekanntesten Exportartikeln Österreichs. Millionen von Zuschauern verfolgen alljährlich die Höhepunkte der Walzerkultur via Fernsehen, denn Karten sind knapp und teuer. Gleichwohl ist es ein besonderes Erlebnis, den vom dänischen Architekten Theophil Hansen geplanten Prunkraum, dessen Akustik gerühmt wird, zu besuchen. Luxus und Elend liegen indessen oft nahe beieinander: Nur wenige Meter vom Portal der Kulturstätte im historisierenden Stil der Wiener Ringstrasse befand sich im Winter 1919/20 eine Grossküche für die «Kinderausspeisung», die von der amerikanischen Ernährungshilfe (American Relief Administration – ARA) betrieben wurde.

150 000 warme Mahlzeiten täglich

In jenem Winter war es bitterkalt, die Temperaturen verblieben fast permanent unter dem Gefrierpunkt. Zahlreiche Haushalte konnten bestenfalls einen einzigen Raum beheizen, und so erschien wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag als eine Überlebensfrage. Alle Kinder unter 15 Jahren konnten das Angebot unentgeltlich nutzen. Auf dem Speiseplan standen vor allem Milch und Kohlenhydrate. Ein Wochenplan vom Dezember 1919 sah unter anderem Milchreis und Semmelknödel vor. Fleisch kam selten auf den Teller, obwohl die USA fast vierzig Tonnen Schweinefleisch allein nach Österreich lieferten, wo die Stadt Wien mehr als die Hälfte der Nahrungshilfe erhielt und je rund 15 Prozent an die drei grossen Bundesländer im Osten des Landes gingen. Dagegen konnte sich der Westen Österreichs grösstenteils selbst ernähren oder wurde von der Schweiz unterstützt.

Die logistische und ernährungswissenschaftliche Grundlage für den Menuplan lieferte der Wiener Kinderarzt Clemens Pirquet. Die meisten Kinder befanden sich in einem bedenklichen Zustand und galten nach seiner vierstufigen Skala als unterernährt. Die Aktion der Amerikaner lief im Mai 1919 an und sollte ursprünglich nur drei Monate bis zur Ernte dauern. Schon im Juni gab die Küche in der Wiener Innenstadt 500 Essensportionen täglich aus. Bald ernährten die 23 an allen Ecken der Zweimillionenstadt errichteten amerikanischen Grossküchen jedoch eine vielfache Menge an Kindern. 150 000 warme Mahlzeiten wurden schliesslich jeden Tag bereitgestellt, wobei der Nährwert auf die Patienten abgestimmt werden musste.

Der Kinderarzt Clemens Pirquet.

Der Kinderarzt Clemens Pirquet.

Wiener Verlag Chr Brandstätter

Dass dies tagtäglich funktionierte, ist das Verdienst einer Organisation, die heute in Vergessenheit zu geraten droht. Die vom späteren Präsidenten Herbert Hoover geleitete American Relief Administration hatte nicht nur für die ehemalige Metropole des Habsburgerreichs, sondern für ganz Europa die Mammutaufgabe der Ernährung Bedürftiger übernommen. Ein Jahrzehnt nach seiner Präsidentschaft, die nur eine Wahlperiode (1929–1933) währte, gab Hoover in einer Publikation mit dem Titel «We will have to feed the world again» Rechenschaft über die Aktionen der ARA und präsentierte die Schlüsse, die aus dem Ersten für den damals noch tobenden Zweiten Weltkrieg gezogen werden könnten.

Nachkriegschaos in Österreich

mij. Österreich war ein Staat, der auf den Trümmern des Ersten Weltkriegs entstand – ein Staat ohne Identität, politische oder wirtschaftliche Basis. Das Habsburgerreich, das den weltweiten Konflikt 1914 massgeblich auslöste, kollabierte nach vier Kriegsjahren, der Vielvölkerstaat löste sich in seine Bestandteile auf. Die einstige Reichshauptstadt Wien verblieb in einem durch die Siegermächte diktierten Rumpfstaat, viel zu gross und ohne agrarisches Hinterland, dafür mit allen sozialen Problemen. 1919 musste die Stadt gleichzeitig eine völlig chaotische Rückkehrbewegung von Kriegsveteranen, massive Versorgungsprobleme, desaströse hygienische Bedingungen und grosse politische Instabilität bewältigen.

Dass Wiens Weg nicht, wie in Budapest oder, weiter östlich, der jungen Sowjetunion, in den Bürgerkrieg und die Anarchie führte, war nicht nur der Nothilfe von aussen, sondern auch den Sozialdemokraten zu verdanken. Diese neutralisierten mit ihrem überwältigenden Wahlsieg im Mai 1919 die Kommunisten und führten ein umfassendes, historisch einmaliges Sozialprogramm ein, das die Wohn- und Versorgungslage stark verbesserte. Dies führte allerdings zunehmend in einen wirtschaftspolitischen und weltanschaulichen Konfrontationskurs mit bürgerlichen und konservativen Kräften; die Unterschiede zwischen Wien und dem Rest Österreichs blieben zu gross, als dass die beiden zusammenwachsen konnten. Die Spannungen bereiteten den Boden für den kurzen Bürgerkrieg und den darauf folgenden katholisch-reaktionären Putsch von 1934. Mit dem Anschluss an Hitler-Deutschland kam die Erste Republik zu einem unrühmlichen Ende. 

Hoover kann als Mastermind der amerikanischen Ernährungshilfe in Europa bezeichnet werden, der in grossen Dimensionen dachte und eine philanthropische Einstellung ohne Ressentiments aufwies. Er hatte unter Präsident Woodrow Wilson nach dem Kriegseintritt der USA 1917 drei wichtige Ämter inne: Zunächst sollte er die Ernährung der nach der deutschen Besetzung schwer leidenden belgischen Bevölkerung sicherstellen, sodann die Verpflegung der amerikanischen Truppen in Europa organisieren und schliesslich für nicht weniger als 375 Millionen Menschen in 28 Nationen Europas amerikanische Nahrung bereitstellen. Obwohl die ARA auf Kredit arbeitete und somit die Lebensmittel und Speisen an die betroffenen Länder verkaufte, handelte es sich um eine humanitäre Grosstat, welche ein Massensterben der durch den Krieg und die Spanische Grippe geschwächten Bevölkerung verhindern konnte. Sowohl die Hygiene- als auch die Ernährungsstandards der amerikanischen Küchen übertrafen die Infrastruktur in den Gastländern beträchtlich.

Grossküchen in den Schlössern der Habsburger

Die in Wien verbliebenen Kinder, die keine Möglichkeit hatten, zu Verwandten aufs Land zu ziehen oder an einem Ferienaufenthalt teilzunehmen, befanden sich nach einer mageren Ernte 1919 in Gefahr, zu verhungern. In den Arbeiterbezirken, aber auch in den Flüchtlingsheimen erwies sich die Lage als dermassen prekär, dass der Kinderarzt Pirquet bei 93 Prozent der von ihm untersuchten Kinder Mangelerscheinungen und eine «starke Blässe» sowie Unterernährung diagnostizierte.

Die in Paris ansässige ARA hatte in allen betroffenen europäischen Ländern Aussenstellen, welche von Hoover gemeinsam mit dem späteren Senator Robert Taft koordiniert wurden. Die Lage in Wien erwies sich als so desaströs, dass die Amerikaner kurzerhand auch die Habsburgerschlösser in Schönbrunn und im Augarten in Grossküchen umwandelten. In beiden ehemals kaiserlichen Gärten müssen sich in der warmen Jahreszeit pittoreske Szenen abgespielt haben, weil unter Pirquets Leitung die Kinder zum Dank an die Spender Reigentänze veranstalteten.

Aufnahme anlässlich der Eröffnungsfeier 1919 der amerikanischen Hilfsaktion im Garten des Palais Augarten.

Aufnahme anlässlich der Eröffnungsfeier 1919 der amerikanischen Hilfsaktion im Garten des Palais Augarten.

R. Lechner

Pirquet hatte eine eigene Formel entwickelt, mit welcher er den Status der Mangelernährung und den Kalorienbedarf berechnen konnte. Der damaligen Zeit entsprechend, ging es vor allem um Äquivalente für den Nährwert von Milch, wofür Pirquets NEM-Formel (Nahrungs-Einheit-Milch) stand. In Serbien oder der Tschechoslowakei konnten die Amerikaner zwar auf Ärzte zählen, die in Wien ausgebildet worden waren, fanden aber keine der von Pirquet geleiteten Kinderklinik vergleichbare Universitätseinrichtung zur logistischen Abwicklung der Ernährungshilfe vor.

Abgeschnitten von den Kornkammern der Monarchie

Die Massnahmen der Amerikaner, welche Tausende von Tonnen Fleisch, Fette und Kondensmilch nach Mitteleuropa transportierten und sich Gemüse aus dem regionalen Angebot verschafften, retteten der um 1910 geborenen Generation im Osten Österreichs das Leben. Abgeschnitten von den Kornkammern der einstigen Agrarregionen in der Monarchie, konnte die ehemalige Reichshauptstadt, die von Flüchtlingen aus Galizien und der Bukowina überging, nicht auf die Unterstützung der westlichen Nachbarn zurückgreifen, die selbst Not hatten, ihre Bevölkerung und einige Besatzungstruppen zu ernähren. Bis zum Staatsvertrag von Saint-Germain blieb auch die englische Blockade aufrecht, womit sich ein Hungerwinter 1919/20 abzeichnete, in dem es zudem kaum Heizmittel gab. Während das Defizit an Brennstoffen durch Kohleschmuggler und Wärmestuben mehr schlecht als recht behoben wurde, wäre ohne die amerikanische Kinderhilfsaktion der ARA die Ernährung in Wien zusammengebrochen.

Der Zusammenbruch von Österreich-Ungarn

Der Zusammenbruch von Österreich-Ungarn

Pirquets zu wissenschaftlichen Publikationen verdichtete Erkenntnisse über die amerikanische Ernährungshilfe bildeten auch noch Jahrzehnte später die Basis für eine medizinisch fundierte und logistisch ausgereifte Massenernährung. Der Republikaner Hoover, der heute wegen seiner Zollpolitik als protektionistisches Vorbild für Donald Trump hingestellt wird, leistete als Kopf einer 9000 Mitarbeiter umfassenden Organisation humanitäre Arbeit, die ihn als Wohltäter für Kinder in ganz Europa ausweist – gleichgültig, auf welcher Seite der Front ihre Väter gekämpft hatten.

Gerhard Strejcek ist ao. Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Wien.

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