Im Rausch der Nüchternheit: Wie die USA vor 100 Jahren ein Alkoholverbot einführten – und es bald bereuten

Mit der Prohibition sollte die amerikanische Gesellschaft gesunden. Doch das «noble Experiment» geriet zum historischen Lehrstück über gutgemeinte Absichten und ihre desaströsen Folgen.

Marc Tribelhorn
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Prohibitionsagenten entsorgen bei einer Razzia beschlagnahmten Whiskey in der Kanalisation.

Prohibitionsagenten entsorgen bei einer Razzia beschlagnahmten Whiskey in der Kanalisation.

AKG

Plötzlich ist das Paradies ganz nah. Zumindest für Billy Sunday, einen früheren Baseballstar, der auch in seiner zweiten Karriere die Stadien des Landes füllt – als evangelikaler Wanderprediger. Vor Zehntausenden von Bewegten verspricht er: «Die Herrschaft der Tränen ist vorbei. Bald werden Slums nur noch eine Erinnerung sein. Wir werden unsere Gefängnisse in Fabriken verwandeln (. . .) Männer werden wieder aufrecht gehen, Frauen werden lächeln, und Kinder werden lachen.» Und die Hölle? «Sie wird für immer leer stehen.»

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Der Grund für Reverend Sundays Euphorie ist der Alkohol, der in den USA seit wenigen Stunden, dem 16. Januar 1920 um 24 Uhr, Geschichte sein soll. Mit dem Inkrafttreten des 18. Verfassungszusatzes sind nämlich «Herstellung, Verkauf und Transport sowie Ein- und Ausfuhr berauschender Getränke» verboten. Die Prohibition hat begonnen. Über Nacht sind die Vereinigten Staaten mit ihren mehr als 100 Millionen Einwohnern offiziell «trocken». Während die einen die historische Zäsur feiern, hoffen die andern bereits auf ein baldiges Ende der neuen Nüchternheit.

«Booze or Coal»

Die Geschichte dieses hochmoralischen Gesellschaftsexperiments, das grandios scheitern wird, beginnt Jahrzehnte zuvor. Auch wenn die puritanischen Gründerväter den Schnaps einst noch als «Gottes gutes Geschöpf» bezeichneten, findet die ländlich-protestantische Temperenzbewegung (von lat. temperantia, Mässigung) Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Anhänger. Die Trunkenheit sei die Wurzel allen Übels, behaupten die Gegner des «Teufels Alkohol». Sie führen alle sozialen Missstände – ob Armut, Kriminalität oder Gewalt gegen Frauen und in der Familie – auf den Alkoholmissbrauch zurück. Unter dem programmatischen Namen Anti-Saloon League formieren sie sich schliesslich zu einer schlagkräftigen, parteiübergreifenden Lobbyorganisation, unter deren Dach sich allerlei Kräfte finden, die sonst wenig gemein haben – Fundamentalisten, Fremdenfeinde, Feministinnen, aber auch Eugeniker, die «wissenschaftlich» argumentieren, Alkohol beeinträchtige die Nachkommen, zerstöre den «Charakter der Nation», könne gar zum «Rassenselbstmord» führen. Die Tugendwächter sehen das «Amerikanische» bedroht, durch die massenhafte Einwanderung trinkfreudiger Katholiken, durch Juden, Schwarze oder generell durch das städtische Leben.

Der durchschlagende Erfolg der Prohibitionisten auf nationaler Ebene ist aber nur mit dem Ersten Weltkrieg erklärbar. Einerseits können sie nach dem Kriegseintritt der USA 1917 mit Slogans wie «Booze or Coal» gegen den Ressourcenverbrauch durch die Alkoholindustrie Stimmung machen. Andererseits schwächt die Propaganda gegen den deutschen Feind den Einfluss der zuvor mächtigen, meist deutschstämmigen Brauereibesitzer. In der «New York Times» schaltet der Lebensreformer John Harvey Kellogg ein ganzseitiges Inserat: «We are fighting three enemies – Germany, Austria, and Drink.»

Zur Finanzierung des Kriegs haben die Vereinigten Staaten zudem eine Einkommenssteuer eingeführt. Nun ist auch die zuvor so wichtige Alkoholsteuer – die immerhin jährlich rund 500 Millionen Dollar einbringt – vernachlässigbar, denken sich viele Politiker. Und so verabschiedet der Kongress im Dezember 1917 das 18. Amendment mit der für eine Verfassungsänderung nötigen Zweidrittelmehrheit – mit Stimmen von Republikanern wie Demokraten und gegen das Veto von Präsident Woodrow Wilson. In nur 13 Monaten erfolgt die Ratifizierung durch 36 Gliedstaaten. Doch von einem nationalen Konsens kann nicht die Rede sein. Prohibitionsgegner und Staatsrechtler kritisieren, dass das Amendment als bisher einziger Verfassungszusatz die Rechte der Bürger beschneide und im Grunde ein reines Polizeigesetz sei. Auch gibt es Klagen wegen der Enteignung und Kapitalvernichtung, welche die Prohibition für die bis dato legale Alkoholwirtschaft bedeutet. Sie werden aber allesamt vom Supreme Court abgeschmettert.

Gepanscht und gestreckt

Schon 1922 bilanziert die Prohibitionsbehörde erfreut: «Lediglich fünfzehn Prozent der früheren Schluckspechte trinken noch, und sie trinken nur fünf Prozent der Alkoholmenge, die früher konsumiert wurde.» Tatsächlich fällt in den Anfangsjahren der Alkoholkonsum auf 30 Prozent des vorherigen Niveaus. Er steigt dann aber im Laufe der Jahre wieder auf rund 70 Prozent an. Die gesetzlich verordnete Nüchternheit verkommt zur grossen Illusion.

Getrunken wird weiterhin, in allen Schichten, selbst in den höchsten Politkreisen in Washington. Und wo eine Nachfrage besteht, ist ein Markt – auch wenn je nach Gliedstaat, vor allem im «trockenen» Süden und Mittleren Westen, drakonische Strafen drohen. In Michigan etwa gilt die «three strike rule»: Wer dreimal gegen die Prohibition verstösst, wandert lebenslänglich hinter Gitter. Die Gerichte in den hart durchgreifenden Staaten werden überschwemmt mit Bagatellfällen.

Die Folgen der neuen Schattenwirtschaft sind immens. Die Preise explodieren wegen der klandestinen Produktion, der aufwendigen Logistik, der Schmiergelder und Konfiskationen. Die Qualität des gehandelten Alkohols ist höchst undurchsichtig und nicht selten ein gesundheitliches Wagnis. Zehntausende saufen sich mit gepanschtem Schnaps ins Grab. Die Trinkmuster ändern sich zudem, da die Versorgung mit Bier viel mehr Infrastruktur benötigt als jene mit Spirituosen. Einer der damals bekanntesten Strafverteidiger des Landes, Clarence Darrow, enerviert sich, die Prohibition habe lediglich «für viele Leute Bier durch Whiskey ersetzt, was ich für einen schlechten Tausch halte».

Ärzte als Dealer

Die Schmuggler von Alkohol, die «Bootlegger» und «Rum Runner», haben ebenso Konjunktur wie die «Moonshiner», die nächtens in Hinterhöfen ihren Fusel brennen. Auf abenteuerlichen Wegen kommen die «berauschenden Getränke» über die Grenze. Der Segler William McCoy bringt zum Beispiel seine Ware von den Bahamas oder Saint Pierre bis wenige Meilen vor die Küsten New Jerseys oder Long Islands, wo er sie, immer noch in internationalen Gewässern, auf seinem schwimmenden Lagerhaus an Schmuggler verkauft, die sie an Land bringen. «The real McCoy» wird zum Begriff für erstklassigen Whiskey – und schliesslich zum geflügelten Wort für das «echte» Ding.

Wenig überraschend verfünffacht sich wegen solcher Geschäfte auch der Alkoholimport in den 1920er Jahren auf jenen der USA vorgelagerten Inseln. Der Grossteil der in die USA geschmuggelten Ware stammt aber aus Kanada, wo sich dank der Prohibition im Nachbarland erst eine leistungsstarke Brennerei- und Brauereiindustrie entwickelt. Innert weniger Jahre verzwölffacht sich allein der Export von Spirituosen auf 1,4 Millionen Gallonen. Die schlecht ausgebildeten und unterbezahlten rund 3000 Prohibitionsagenten, die das gesamte Territorium der USA überwachen sollen, sind heillos überfordert – und drücken gegen Entgelt auch einmal beide Augen zu.

Das Ausführungsgesetz zum 18. Verfassungszusatz, die sogenannte Volstead Act, hat überdies Ausnahmen vom Verbot vorgesehen: zum einen Vorräte, die vor dem Stichtag der Prohibition angelegt worden sind; zum anderen Alkohol für medizinische, rituelle und industrielle Zwecke. Die Zahl der ärztlichen Diagnosen vervielfacht sich in der Folge blitzschnell, schon 1923 werden über elf Millionen Rezepte auf Whiskey ausgestellt. In New York fliegt 1931 eine Bootlegging-Organisation auf, in der 1000 Ärzte und 500 Apotheker mitgewirkt haben. Auch die christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften benötigen urplötzlich ein Vielfaches an «sakramentalem Wein». Und der Industriealkohol, dessen Produktion sprunghaft ansteigt, wird von gewieften Geschäftsleuten und Kriminellen abgezweigt für die Zubereitung alkoholischer Getränke.

Emanzipation mit Cocktails

Getrunken wird zu Hause oder in diskreten Etablissements, den sogenannten Speakeasies. Allein in New York City soll es Tausende dieser Flüsterkneipen geben, die trotz der grassierenden Korruption theoretisch jederzeit dichtgemacht werden könnten. Der Zugang ist entsprechend restriktiv. Türsteher spähen durch das Guckloch am Hintereingang oder einen einseitig durchsichtigen Spiegel (mit dessen Produktion die französische Glasfirma Argus damals viel Geld verdient). Die Neuankömmlinge nennen ein Codewort, und das Trinken kann beginnen. Der Hauch von Risiko ist für viele Besucher fast so unwiderstehlich wie der Alkohol, der erst durch die Knappheit zum Statussymbol geworden ist. Während die Frauen die Männerdomäne Saloon noch gemieden und bekämpft haben, sitzen sie nun selbstbewusst in den Speakeasies, trinkend und rauchend, nicht selten mit Bubikopf und in skandalös kurzem Rock. In den angesagten Nachtklubs tanzen die Menschen Charleston oder Foxtrott, aus den Südstaaten swingt der Jazz von Duke Ellington oder Louis Armstrong in den Norden. Der Mythos von den «Roaring Twenties» wird in Manhattan und Harlem geboren.

Die Zeitschrift «Vanity Fair» jubelt bereits 1921: «Partys waren zahlreich wie nie zuvor und noch nie so reichlich bewässert.» Der Zeitgeist-Gegenstand schlechthin ist der Cocktail-Shaker. Wenig subtil fragt der Refrain eines zeitgenössischen Gassenhauers: «What’s your poison, Mister?» Und der scharfsinnige Journalist Walter Lippmann schreibt angesichts der illegalen Aktivitäten selbst grundanständiger Bürger: «Nun denn, ein Gesetz, das offen und ohne Schuldbewusstsein von Männern verletzt werden kann, die normalerweise gesetzestreu sind, mag man fairerweise ein Gesetz nennen, das nicht vollstreckbar ist.»

Mafioso mit Narbengesicht

Die Prohibition ist aber noch in viel drastischerer Weise ein Katalysator der Kriminalität. Das organisierte Verbrechen drängt nämlich unweigerlich in die Alkoholschattenwirtschaft, ja baut sie erst richtig auf. In feudalistischer Manier erpressen Gangster Schutzgelder, kontrollieren den Schmuggel, zwingen Speakeasies und Nachtklubs, bei ihnen Spirituosen und Bier zu beziehen. Konkurrenten werden auf wenig zimperliche Weise ausgeschaltet. Brand- und Bombenanschläge, Drive-by-Shootings und andere Auftragsmorde sind an der Tagesordnung. Die Syndikate werden dank der Prohibition steinreich, verfügen über beste Kontakte zu Politikern und Geschäftsleuten, schmieren Polizisten und Richter. Vielen jungen Einwanderern aus den Ghettos gelingt in den Verbrecherorganisationen ein schneller sozialer Aufstieg. Deren Bosse sind Berühmtheiten: in New York «Bugsy» Siegel und Meyer Lansky von der jüdischen Kosher Nostra oder der Italoamerikaner «Lucky» Luciano, vor allem aber Alphonse «Al» Capone in Chicago.

Der Mafioso mit dem Narbengesicht, der sich als Antiquitätenhändler ausgibt, verdient wöchentlich Millionen von Dollar, residiert in Luxushotels und lässt sich im gepanzerten Cadillac chauffieren. Vor Gericht erklärt er einmal: «Ich verkaufe nur Bier und Whiskey an ehrbare Bürger.» Und zum Richter gewandt: «Leute wie Sie sind meine besten Kunden.» Für riesige Schlagzeilen sorgt eine wahrscheinlich von Capone veranlasste Abrechnung am Valentinstag 1929. Auftragskiller mähen mit Thompson-Maschinenpistolen am helllichten Tag sieben Mitglieder der irischen Mafia nieder.

Roosevelts Bier

Das Massaker wird zum Fanal. Was hat die Prohibition gebracht?, fragen sich nun immer mehr Amerikaner. Sie hat eine neue Klasse von brutalen Verbrechern geschaffen, die mitten in der Gesellschaft operieren. Millionen von anständigen Bürgern missachten nonchalant das Gesetz und können dafür hart bestraft werden. Und der Alkohol ist noch immer weit verbreitet. Mit dem Ausbruch der schweren Wirtschaftskrise im Herbst 1929 dreht die Stimmung vollends. Es fehlt an Geld und (legalen) Arbeitsstellen. Der Direktor von General Motors, Pierre S. du Pont, erklärt am Radio, die Einführung der Prohibition sei eine Sünde gewesen: «Anstelle einer bankrotten Staatskasse hätten wir heute keine Schulden und dafür einen Überschuss von fünf bis zehn Milliarden Dollar.» Auch die Demokraten sprechen sich für den Abbruch des «noblen Experiments» aus. Ihr Präsidentschaftskandidat, der New Yorker Gouverneur Franklin D. Roosevelt, zieht mit dem Wahlkampfschlager «Happy days are here again» 1933 ins Weisse Haus ein. Nur Wochen später unterzeichnet er die Revision des Volstead-Gesetzes, womit leichtalkoholische Getränke wieder erlaubt sind. Nachdem das geschafft war, soll sich Roosevelt zurückgelehnt und gesagt haben: «Ich denke, wir könnten jetzt alle ein Bier vertragen.»

Am 5. Dezember 1933 wird schliesslich mit der Ratifizierung des 21. Verfassungszusatzes der 18. Verfassungszusatz wieder aufgehoben – ein zuvor und bis heute einmaliger Vorgang der amerikanischen Geschichte.

Literatur: Thomas Welskopp: Amerikas grosse Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der Prohibition. Paderborn, 2010.