Gastkommentar

Das Klima und die Traumfabrik Europa

Ohne einen Paradigmenwechsel in der Energiepolitik bleibt der New Green Deal eine gefährliche Utopie. Es wird Zeit aufzuwachen.

Lino Guzzella, Jürgen Hambrecht und Lars Josefsson
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Der elektrische Strom muss aus emissionsfreien Quellen gewonnen werden.

Der elektrische Strom muss aus emissionsfreien Quellen gewonnen werden.

Christian Beutler / NZZ

Phileas Fogg greift auf seiner Reise «In 80 Tagen um die Welt» zu radikalen Mitteln: Für die letzte Etappe nach Europa nutzt er einen Segel-Rad-Dampfer; doch der Wind steht falsch, und die Kohle geht zur Neige. Jules Verne lässt seine Romanfigur alles über Bord werfen, was nicht unbedingt notwendig ist, und danach die Schiffsaufbauten verheizen. Mit knapper Not erreicht Fogg sein Ziel, das Schiff ist allerdings nur noch ein Wrack. Bei Europas New Green Deal besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er genauso endet. Denn die EU hat einem ganzen Kontinent Klimaneutralität bis zum Jahr 2050 verordnet – ein Radikalumbau innerhalb von nur 30 Jahren und ein Plan, der das Potenzial hat, die Wettbewerbsfähigkeit der EU und damit die Grundlage für unseren künftigen Wohlstand zu ruinieren.

Das Fatale daran ist: Ein energiepolitischer Alleingang Europas wird dem Klima nicht helfen – ohne China, die USA und Indien wird es keine Lösung für das globale Problem der Erderwärmung geben. Die Atmosphäre kennt keine Ländergrenzen.

Teufelskreis durchbrechen

Zunächst ist festzuhalten: Der Klimawandel ist eines der komplexesten globalen Probleme, die die Menschheit je lösen musste. Eine rasch wachsende Erdbevölkerung hat durch technologischen Fortschritt in den zurückliegenden 150 Jahren nie da gewesene Wohlstandsgewinne erzielt. Das ging aber zulasten des Planeten Erde. Die Erzeugung von Energie aus fossilen Brennstoffen, für die Mobilität, Wohnen und die industrielle Produktion, hat den Anstieg der Treibhausgaskonzentration enorm beschleunigt. Ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss.

Nur Verzicht und Sparen wird aber bei weitem nicht reichen. Ein fundamentales Umdenken ist gefordert. Vor allem braucht es neue Technologien, die den Einsatz fossiler Brennstoffe überflüssig machen. Grundvoraussetzung dafür ist vor allem eines: sehr viel mehr elektrischer Strom, der sicher und ununterbrochen verfügbar sein muss. Er wird benötigt für die Elektrifizierung industrieller Prozesse, für Elektromobilität, für Wärmepumpen zum Heizen, für die Produktion von Wasserstoff und vor allem für die Digitalisierung selbst. Der Stromverbrauch des Internets verursacht bereits heute so viele Emissionen wie der globale Flugverkehr.

Dem Klima hilft das aber nur, wenn der Strom aus emissionsfreien Quellen gewonnen wird. Die deutsche Chemieindustrie hat ausgerechnet, dass sie, um klimaneutral zu werden, mehr als zehnmal so viel Strom benötigen wird. Das entspräche dem Löwenanteil der gesamten Stromerzeugung aus Wind und Sonne in Deutschland.

Die Politik verweigert sich bis anhin diesen Realitäten. So rechnet die deutsche Regierung mit einem Rückgang des Stromverbrauchs bis zum Jahr 2030. Nach jüngsten Berechnungen des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität Köln wird der deutsche Bruttostromverbrauch aber in diesem Zeitraum um rund 25 Prozent steigen. Ähnliches gilt auch für kleine Länder: Gemäss der Energiestrategie der Schweiz soll der Stromverbrauch pro Person bis 2035 um 13 Prozent sinken, obwohl weitere Effizienzgewinne schwierig zu erreichen sind.

Politischer Klima-Populismus

Italien, Spanien, Frankreich und viele andere EU-Länder planen in erheblichem Mass den Ausbau erneuerbarer Energien, doch das wird den gesamteuropäischen Bedarf nicht decken. Die Ausbaupotenziale der «on-shore»-Windenergie wurden in ganz Europa überschätzt. Und ein grosser Teil der neuen Kapazitäten wird benötigt, um bestehende Anlagen abzulösen. Rund 70 Prozent des französischen Stroms stammen aus Kernkraftwerken, von denen viele bald ein Alter von 40 Jahren erreichen. Ähnliches gilt für die Schweiz, die den gleitenden Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen hat. Die Stromerzeugung Osteuropas basiert heute noch immer zu grossen Teilen auf Kohle. In Schweden und den anderen skandinavischen Ländern fusst die Stromerzeugung auf Kernkraft und erneuerbaren Quellen. Diese sind zwar weiter ausbaufähig, aber die Netze machen zunehmend Probleme. Ebenso geht in Deutschland der Netzausbau viel zu langsam voran.

Diejenigen, die heute entscheiden, werden im Jahr 2050 nicht mehr die Verantwortung für die Folgen tragen. Deshalb ist die derzeitige Form des politischen Klima-Populismus so bequem wie falsch. Es wird Zeit für eine unbequeme Wahrheit: Das Ziel, Europa bis 2050 CO2-neutral zu machen, ist nicht realistisch. Eine emissionsfreie und sichere Energieversorgung aller Verbraucher in Europa zu wettbewerbsfähigen Preisen ist auf lange Sicht nicht zu gewährleisten. Es erfordert mehr Zeit, um die dafür noch nicht vorhandenen Technologien zu entwickeln. Wer die nächste Generation wirklich ernst nimmt, der stellt sich der Realität, anstatt politische Utopien und Emotionen zu befeuern. Alles andere führt langfristig zu einem weiteren Vertrauensverlust der Menschen gegenüber der Politik und zu einer Verschwendung knapper Finanzmittel.

Wenn wir es wirklich ernst meinen mit dem Klimaschutz, müssen wir Schluss machen mit den Denkverboten und ohne ideologische Scheuklappen über die Nutzung der Kernkraft diskutieren. Wer sich seriös mit realisierbaren Szenarien für ein Ende der Nutzung fossiler Brennstoffe beschäftigt, muss sich eingestehen, dass in Europa an der Kernenergie kein Weg vorbeiführen wird. Europa war hier einmal führend, heute finden Forschung und Entwicklung in den USA, China und Russland statt. Noch vorhandene Technologiekompetenz, wie beispielsweise beim Dual-Fluid-Reaktor, gilt es daher zu fördern. Darüber hinaus müssen wir Speichertechnologien für Strom vorantreiben und uns mit der Abscheidung, Speicherung und Weiterverarbeitung von CO2 beschäftigen, wir brauchen moderne Gaskraftwerke mit Kraft-Wärme-Kopplung und – wo geologisch sinnvoll – Geothermie. Und wir brauchen Wasserstoff als Energieträger und synthetische Kraftstoffe. Nur so lassen sich grosse Energiemengen vom Sommer in den Winter bringen.

Freier Wettbewerb

Eine wettbewerbsfähige CO2-freie Energieversorgung bedeutet einen Strompreis in einer Grössenordnung von rund fünf Eurocent pro Kilowattstunde. Nur das eröffnet im globalen Wettbewerb neue Chancen für den Industriestandort Europa. Dazu mögen auch zeitlich begrenzte Hilfen für besonders betroffene Industriezweige notwendig werden. Im Grundsatz muss dieses Ziel aber im freien Wettbewerb erreicht werden. Eine überbordende Subventionierung und Schuldenfinanzierung, wie in der EU vorgesehen, schafft neue Generationenkonflikte.

Auf politischer Ebene muss Europa einen neuen Anlauf nehmen, die Lasten der Klimapolitik weltweit gerecht zu verteilen. Es wäre ein falscher Weg, wenn Europa eine Mauer aus Zöllen und Handelsschranken um sich zieht und den Rest der Welt aus der Verantwortung entlässt. Denkbar sind ein weltweiter Emissionsrechtehandel und eine globale CO2-Bepreisung. Uns allen muss bewusst sein, dass dies im heutigen internationalen Rahmen ein ausserordentlich schwieriger Prozess sein wird, ohne den es aber keinen Erfolg geben wird.

Die politischen Vorhaben und ihre Auswirkungen auf die Zukunft Europas geben zu grosser Sorge Anlass. Wir laden deshalb alle Interessierten zur Diskussion über die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Klimapolitik ein. Das Problem des Klimawandels erfordert Rationalität statt Panik, sorgfältige Analyse statt postfaktische Debatten und ein generationsübergreifendes Denken statt Moralisieren und gegenseitige Schuldzuweisungen. Die Debatte ist überfällig.

Lino Guzzella ist Ingenieur und Professor für Thermotronik an der ETH Zürich; Jürgen Hambrecht ist Vorsitzender des Aufsichtsrats der BASF SE und war Mitglied der deutschen Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung; Lars Josefsson war Vorstandsvorsitzender des schwedischen Energiekonzerns Vattenfall.