Wenn Schriftsteller in ihren Romanen Sexszenen einbauen, geht das häufig schief

Viele haben es versucht und versuchen es, die meisten scheitern daran. Wenn es um Sex geht, verschlägt es Autorinnen und Autoren die Sprache.

Rainer Moritz
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Auf der Leinwand sieht ganz entspannt aus, was auf dem Papier immer gleich so verschwitzt und verschmockt wirkt. Jane Fonda im Film «Barbarella» (1967).

Auf der Leinwand sieht ganz entspannt aus, was auf dem Papier immer gleich so verschwitzt und verschmockt wirkt. Jane Fonda im Film «Barbarella» (1967).

David Hurn / Magnum

Auch Nobelpreisträger bleiben manchmal hinter ihren Möglichkeiten zurück. Da mag ein Peter Handke sich sprachlich noch so geschliffen mit der Jukebox, sanitären Einrichtungen oder dem Mont Ventoux auseinandersetzen, doch wenn es um die körperliche Vereinigung von Menschen geht, fehlt es seiner Prosa irgendwie an Präzision und Unerschrockenheit.

In «Der Chinese des Schmerzes» (1983) scheut Handke vor dem sinnlich Konkreten zurück und flüchtet sich – ein alter Trick – ins transzendent Überhöhte, für das es bekanntlich keine rechten Worte gibt: «In der Lust strebten die Körper einmal nicht auseinander, sondern blieben zusammen. Sie vollzogen die Handlung, die kein rauschhafter Kampf war, sondern ein wuchtiges Spiel; das ‹Juwel der Spiele›. In dieser Liebesnacht herrschten die andere Zeitrechnung und der andere Ortssinn.»

Weniger entrückt hat sich sein Nobelpreiskollege Günter Grass der Sache angenommen. In seinem Alterswerk hat er es an Deftigkeit nicht fehlen lassen – und wird dabei wohl nur von Martin Walser übertroffen. So heisst es in Grass’ Lyrikband «Letzte Tänze» (2003): «Soeben noch schlaff und abgenutzt / Nach soviel Jahren Gebrauch / steht er / – was Wunder! / Er steht –, / will von dir, mir, und dir bestaunt sein.»

Überschrieben sind diese eher schlichten Verse mit «Ein Wunder», was zeigt, dass es dem Dichter Grass meist nicht an Selbstbewusstsein mangelte. Elke Heidenreich nahm solche und ähnliche Hervorbringungen zum Anlass, von «ekelhafter Altmännerliteratur» zu sprechen.

Die Befreiung nach 68

Handke, Grass – man sieht, es ist ein Kreuz mit den Bemühungen, über Sex stilsicher literarisch zu schreiben. Noch vor sechzig, siebzig Jahren herrschte zumindest in der deutschsprachigen Literatur allenthalben die Furcht, unverblümt zur Sache zu kommen. In den Werken eines Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Friedrich Dürrenmatt finden sich so gut wie keine expliziten Stellen, zumal damals noch zu befürchten war, dass Texte, die gegen Dezenzgebote verstiessen, auf den Index jugendgefährdender Schriften landeten. Allenfalls bei Arno Schmidt oder Günter Grass (in «Katz und Maus» etwa) stösst man auf die eine oder andere Kühnheit.

Erst nach 1970 änderte sich die Lage, als die Studentenunruhen und die Aktivisten der sexuellen Aufklärung Oswalt Kolle, Uschi Obermaier und Co. ganze Arbeit geleistet hatten. Die westlichen Gesellschaften öffneten sich, und was vorher tabu war und als Obszönität galt, wurde nun zu einer Offenheit und Unverklemmtheit verheissenden Selbstverständlichkeit.

Die Konsequenzen für die Literatur waren verblüffend: Selbst Autorinnen und Autoren, deren Texte normalerweise vor Sinnlichkeit nicht überquellen, sahen keinen anderen Ausweg mehr, als alle Schranken (und Hüllen) fallen zu lassen und Sexualpraktiken zu präsentieren, die einer breiten Öffentlichkeit noch zwanzig Jahre zuvor gänzlich unbekannt waren.

Vage Hilflosigkeiten, wie sie Bernhard Schlink 2010 zu Papier brachte – «Es klappte schon beim ersten Mal, er kam nicht zu früh, und sie kam auch, und bis zum Morgen gab er ihr, was ein Mann einer Frau geben kann» –, wurden zu Ausnahmen. Stattdessen folgten detailreiche Bettszenen auf detailreiche Bettszenen, und da die sich tapfer abrackernden Autoren auf keinen Fall in Pornografieverdacht geraten wollten, zogen sie stilistisch alle Register, um Cunnilingus, Coitus a Tergo, Chinesische Schlittenfahrt (schlagen Sie das bei Unkenntnis bitte selbst nach) und Fellatio literarisch zu nobilitieren.

Die daraus erwachsenden Probleme sind in jedem zweiten Gegenwartsroman offenkundig: Um sich von einem plumpen Vokabular, das seine Verben aus Baumarktregalen (hämmern, nageln, schrauben) bezieht, und von Stereotypen («Er kam sofort», «Sie rissen sich die Kleider vom Leib») abzugrenzen, tauchten nicht wenige Schriftsteller in die Metaphernwelten des Animalischen, Botanischen oder Kulinarischen ab.

Da werden Brüste zu Melonen und Kürbissen, da gleicht die Vagina einer Orchidee, der Penis einem Aal und riecht wie Fisch, und da fällt der Mensch, nein, vor allem der Mann, in tierische Besinnungslosigkeit, sobald ein Orgasmus naht. Das hört sich beim Büchnerpreisträger Lukas Bärfuss so an: «Kaum hatte ich sie nach Hause geschickt, fielen wir übereinander her, trieben es wie zwei hungrige Tiere, kurz nur, atemlos und wie von Sinnen.»

Resignatives Schweigen

Seit Jahren beschäftige ich mich damit – man hat ja sonst kaum Hobbys –, Sexstellen aus der Gegenwartsliteratur zu sammeln. Das ist eine Heidenarbeit, deren Resultate erschüttern. Denn selbst die klügsten, renommiertesten Autoren scheitern an dieser Aufgabe und bringen selten mehr als Gruseliges oder unfreiwillig Komisches zustande. Der Druck, sich in diesem heiklen Stoffgebiet auszuzeichnen, scheint zu gross und zu belastend, ja, er ist in den letzten Jahren durch Veröffentlichungen wie Charlotte Roches «Feuchtgebiete» oder E. L. James’ «Fifty Shades of Grey» noch einmal gestiegen.

Was aus dieser Überforderung folgt, scheint eindeutig. Mehr und mehr verfallen Autorinnen und Autoren in ein resignatives Schweigen und sehnen sich insgeheim nach den Zeiten zurück, da der Sexualverkehr zwischen den Zeilen stattfand und man wie in Fontanes «Effi Briest» oder «Schach von Wuthenow» minutenlang nach den entscheidenden «Stellen» suchen musste.

Warum, fragen sich heute viele, nicht dem Vorbild besonnener Kollegen folgen? Max Frisch zum Beispiel, der seine Versuche, über Sex zu schreiben, irgendwann einstellte: «Mir gelingt es nicht.» Oder Wolf Haas, der zwar irreführenderweise einen Roman mit dem Titel «Verteidigung der Missionarsstellung» publizierte, doch in Wahrheit um sexuell Einschlägiges in seinem Werk einen weiten Bogen macht: «Dennoch ist eine Sexszene etwas, das ich in meinem ganzen Leben nicht schreiben könnte. Es wäre mir so peinlich. Es ist mir sogar für andere Autoren peinlich, ihre Sexszenen zu lesen. Ich stelle mir immer vor, wie die am Computer sitzen und das alles schreiben.»

So weit sind wir gekommen. Mustert man die deutschsprachigen Romane der letzten Zeit, fällt auf, wie lust- und freudlos da sexueller Schichtdienst geschoben wird, wie sehr ihre Verfasser danach streben, das Minenfeld des Themas zu umgehen. Saša Stanišić, Jan Peter Bremer, Inger-Maria Mahlke, Simone Lappert, Norbert Gstrein – nichts an sexuell Bemerkenswertem ist mir aus ihren jüngsten Romanen in Erinnerung geblieben.

Wer die Klippen niedergeschriebener Stellungsspiele umschifft, kann nicht scheitern – so das Motto. Und selbst da, wo Sex noch aktiv praktiziert und nicht in Leerstellen verbannt wird, enttäuscht das Ergebnis ein wenig. In Nora Bossongs «Schutzzone» zerrt man in einem Zimmer des teuren Hotels Beau-Rivage zwar ein wenig an den Kleidern herum und umfasst Hüften, doch im Ernstfall sinnieren die Protagonisten abtörnenderweise darüber, wer am Ende die Rechnung von sechshundert Franken wohl bezahlen mag.

Kaum anders in Karen Köhlers «Miroloi», wo die anfangs namenlose, später Alina genannte junge Heldin versucht, eine Sprache für die ihr fremde Welt der Sexualität zu finden. Von Knospen, Pfeilen und Stacheln ist da in bewusster Ratlosigkeit die Rede, ehe die Dinge voranschreiten und es aparterweise zu Sex in einem Hühnerstall kommt. Während die Küken aufgeregt piepsen, stehen Alina und ihr heimlicher Liebhaber indes vor unverhofften technischen Problemen: «Yael versucht in mich einzudringen, aber der Winkel stimmt irgendwie nicht.»

Selbst eine Altmeisterin wie Sibylle Berg verliert allmählich ihre Freude am Sujet. In ihrem vor kurzem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichneten Grossroman «GRM. Brainfuck» walten Ermüdungserscheinungen, und vom sexuellen Furor vergangener Tage ist darin kaum noch etwas zu spüren, aber umso mehr Ernüchterung: «Vielleicht ist Sex nur gut, wenn man keinen Sex hat.»

Das, so scheint mir, ist ein Zukunftswink für die Literatur. Denn wo kein Sex mehr ist, werden auch die peinlich missglückten Beschreibungen von Sex rapide abnehmen. Was aber soll man mehr bedauern?

Vom Autor erschien in diesem Jahr das zum Thema passende Werk «Matratzendesaster. Literatur und Sex» (Reclam).