Wenn sich Teenager im Internet selbst mobben

Auf der Suche nach Aufmerksamkeit mobben in den USA immer mehr Jugendliche nicht nur andere, sondern auch sich selbst. Die digitale Selbstverletzung endet bisweilen im Suizid.

Marie-Astrid Langer, San Francisco
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Die Beweggründe junger Menschen für ihre zum Teil selbstzerstörerischen digitalen Auftritte sind äusserst komplex.

Die Beweggründe junger Menschen für ihre zum Teil selbstzerstörerischen digitalen Auftritte sind äusserst komplex.

Mike Blake / Reuters

Ende Oktober 2016 tötet Natalie Natividad sich selbst, indem sie eine Überdosis Medikamente schluckt. Auf den ersten Blick wirkt ihr Fall wie ein tragisches Beispiel für Cybermobbing: Zuvor wurde die 15-Jährige monatelang im Internet beschimpft, auf der bei Jugendlichen beliebten Plattform «After School» nannte man sie «hässlich». «Du solltest dich umbringen», schrieb jemand. Natalie habe sich sogar an den Schulpsychologen gewandt, erzählte ihr Bruder dem lokalen Fernsehsender. «Wer auch immer andere mobbt, er muss damit aufhören», sagte die weinende Schwester im Fernsehen. Doch wenige Tage später machten die Betreiber von «After School» eine erschütternde Entdeckung, die dem Fall bis heute prominente Bedeutung verleiht: Die gehässigen Nachrichten hatten nicht etwa Mitschüler geschickt, sondern Natalie sich selbst.

Neun Prozent betroffen

Digitale Selbstverletzung nennen Wissenschafter das Phänomen, bei dem sich Personen im Internet selbst mobben. Erstmals zeigt nun eine Untersuchung, dass das Problem unter Jugendlichen in den USA wächst: Laut einer noch nicht veröffentlichten Befragung von 5600 Jugendlichen im vergangenen Jahr haben knapp 9 Prozent der 12-bis 17-Jährigen sich schon einmal anonymisiert im Internet gemobbt; ein Anstieg im Vergleich zum Jahr 2016, als die gleichen Autoren die Studie erstmals durchführten und 6 Prozent der Befragten dies angaben.

Hier bekommen Sie Hilfe:

Wenn Sie selbst Suizid-Gedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, wenden Sie sich bitte an die Berater der Dargebotenen Hand. Sie können diese vertraulich und rund um die Uhr telefonisch unter der Nummer 143 erreichen. Spezielle Hilfe für Kinder und Jugendliche gibt es unter der Nummer 147.

«Die Leute sind schockiert, wenn sie erstmals von dem Problem hören», sagte Justin Patchin, Vorsitzender des Cyberbullying Research Center und Co-Autor der Studien, jüngst in einem Interview. Jungen sind demnach signifikant anfälliger für das Verhalten als Mädchen. Auch sind die sich selbst mobbenden Jugendlichen häufig bi-, homo- oder transsexuell, wurden bereits Opfer von Mobbing, nehmen bisweilen Drogen und zeigen Anzeichen von Depression.

Sich selbst verletzendes Verhalten, auch unter Jugendlichen, ist ein altbekanntes Problem, darunter fallen etwa das Sich-selbst-Schneiden («Ritzen»), selbst herbeigeführte Verbrennungen und auch Essstörungen. Eine Studie aus dem Jahr 2017 zeigte, dass die Zahl der sich selbst verletzenden Jugendlichen in den vergangenen Jahren in den USA zugenommen hat, bei Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren um bemerkenswerte 19 Prozent. Fast jeder fünfte Heranwachsende fügt sich im Laufe der Pubertät selbst Verletzungen zu.

Opfer und Täter sind die gleiche Person

Auch Cybermobbing ist ein Problem, unter dem im Zeitalter des Smartphones und der sozialen Netzwerke immer mehr Jugendliche leiden. Doch die Kombination aus Cybermobbing und selbst verletztendem Verhalten ist bis heute kaum erforscht. Erstmals wurde das Problem 2010 bekannt, als die Betreiber der anonymen Chat-Plattform Formspring der Frage nachgingen, wer hetzerische Beiträge auf ihrer Plattform verfasst – und feststellten, dass Täter und Opfer häufig die gleiche Person waren. Die auf soziale Netzwerke spezialisierte Sozialforscherin Danah Boyd wurde herangezogen, in einem Blog-Beitrag verwendete sie damals erstmals den Begriff «digitale Selbstverletzung».

Die Beweggründe, die Boyd damals dahinter vermutete, wurden in den folgenden Jahren von zwei Untersuchungen bestätigt, einer unter Universitätsstudenten 2012 und der besagten aus dem Jahr 2016 unter 12- bis 17-Jährigen. Den Jugendlichen geht es häufig darum, Aufmerksamkeit zu bekommen; andere setzen damit einen Hilferuf ab. Ana, heute eine 20-jährige Studentin in Alabama, sagte gegenüber dem «Economist», sie habe sehen wollen, ob sich jemand für sie starkmachen würde. Deswegen habe sie als 14-Jährige auf der Plattform ask.fm Gehässigkeiten über ihr Äusseres gepostet.

Andere Schüler sagten, sie seien bereits gemobbt worden und hätten lauthals in den Chor der Hasser eingestimmt in der Hoffnung, dass die anderen dann aufhören würden. Manche gaben an, sie hätten die Reaktionen der anderen sehen und so testen wollen, wie diese über sie denken. Und einige Jugendliche hassten sich tatsächlich selbst so sehr, dass sie sich öffentlich niedermachen wollten.

Wenig erforschtes Problem

Auch ausserhalb der USA ist digitale Selbstverletzung ein bekanntes Problem. In England hatte sich die damals 14-jährige Hannah Smith ebenfalls anonymisiert Hassnachrichten geschickt, bevor sie sich 2013 das Leben nahm. Manchen Teenagern geht es aber auch einfach um Aufmerksamkeit: Ein heute 22-Jähriger sagte gegenüber der BBC, er habe als Teenager gesehen, dass Opfer von Mobbing viele Follower hätten, und habe sich deswegen selbst im Internet niedergemacht.

Auch die Britin Hannah Smith hatte sich selbst in Internetforen beschimpft und später umgebracht. Ihr Vater (Mitte) trägt bei der Beerdigung 2013 ihren Sarg.

Auch die Britin Hannah Smith hatte sich selbst in Internetforen beschimpft und später umgebracht. Ihr Vater (Mitte) trägt bei der Beerdigung 2013 ihren Sarg.

Rui Vieira / PA / Getty

Viele Aspekte der digitalen Selbstverletzung sind noch unbekannt; die Autoren der jüngsten Studie sagen, dass auch sie die Gründe für die jüngste Zunahme in den USA nicht verstünden. Sie mutmassen, dass es mit einer wachsenden emotionalen Unsicherheit zu tun hat. Jeder Schüler, der Cybermobbing erfahre, brauche Hilfe, sagt Patchin, «ganz besonders dann, wenn der Absender und der Empfänger die gleiche Person sind».

Mehr von Marie-Astrid Langer (lma)

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