Kommentar

Die Kirchen können ihren Untergang noch abwenden

Den Kirchen laufen in der Schweiz die Gläubigen davon, und die Menschen vertrauen ihnen immer weniger. Dennoch haben sie auf dem Markt der Sinnstifter eine Zukunft.

Simon Hehli
Drucken

Illustration: Peter Gut

Die Kirche steht in Flammen, und das an Heiligabend. In Herzogenbuchsee brannte der Turm der reformierten Kirche und stürzte teilweise ein, die Trümmer rissen ein Loch ins Kirchenschiff. Ein Sinnbild für den Zustand der Kirche als Institution? Nein, oder zumindest nur annäherungsweise. Ein passenderes Bild wäre wohl jenes eines Schwelbrands, der langsam und kaum sichtbar die Fundamente der hiesigen Kirche auffrisst – aber irgendwann auch zum Einsturz führen kann.

Dieser Schwelbrand, weniger dramatisch auch Säkularisierung genannt, ist ein schmerzhafter Prozess für die Kirchen. Die letzte Generation, die noch so sozialisiert wurde, dass der wöchentliche Gang in den Gottesdienst eine Selbstverständlichkeit war, ist bereits im Rentenalter. Die Reformierten, die den modernen Bundesstaat stark geprägt haben, sind seit 2016 nur noch die drittgrösste konfessionelle Gruppe im Land. Sie wurden überholt von den Konfessionslosen, die bereits 26 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die Katholiken können den Bestand zwar – vor allem dank den Zuwanderern aus Südeuropa – halten, doch auch bei ihnen macht sich die hohe Zahl der Austritte bemerkbar.

Noch alarmierender ist eine Erkenntnis des CS-Sorgenbarometers 2019: Die Bürgerinnen und Bürger vertrauen den religiösen Institutionen mittlerweile weniger als den staatlichen Behörden, der Wirtschaft oder den Medien. Die Missbrauchsskandale, die vor allem die katholische Kirche durchschütteln, sich aber indirekt auch auf die Protestanten auswirken, haben das Ansehen sinken lassen. Die Kirchen gelten zunehmend als scheinheilig und lebensfern.

Wenig Respekt vor dem Kirchenraum

Dass der Respekt verloren gegangen ist, zeigt ein anderer Vorfall von Heiligabend: Linksextreme Aktivisten störten mit einer Protestaktion den Weihnachtsgottesdienst in einer reformierten Basler Kirche. Sie werfen der dortigen Pfarrerin vor, auf einer rechtsextremen Internetplattform islamfeindliche Hetze betrieben zu haben, was sie bestreitet. Ein solches Eindringen in die Kirche als geschützten Raum, den gerade auch vulnerable Mitglieder der Gesellschaft schätzen, wäre früher unvorstellbar gewesen.

An Symptomen einer tiefgehenden Krise mangelt es also nicht. Die Kirchen können darauf mit unterschiedlichen Strategien reagieren:

  • Sie passen sich dem Zeitgeist an, wie das die Reformierten mehrheitlich tun. Etwa, indem sie sich für die Öffnung der Ehe für Homosexuelle aussprechen und diese auch in der Kirche trauen wollen.
  • Sie beharren auf überkommenen Werten, eine Spezialität der katholischen Spitze. Auch wenn es Anzeichen eines Aufbruchs im Vatikan geben mag, werden Frauen und verheiratete Männer wohl noch lange vom Priesteramt ausgeschlossen bleiben. Der Widerspruch von Ex-Papst Benedikt gegen die Pläne seines Nachfolgers Franziskus zeigt, wie gross die Abneigung gegen eine Öffnung der Kirche bei weiten Teilen des hohen Klerus ist.
  • Manche evangelischen Freikirchen praktizieren mit einigem Erfolg eine Kombination aus konservativem Inhalt und moderner Verpackung, inklusive ekstatischer Pop-Konzerte und Multimediashows. Auch Teile der reformierten Landeskirche setzen zunehmend auf dieses Rezept.
  • Die Kirchen betonen ihre humanitäre Rolle als quasi grösstes Hilfswerk des Landes. Dank nach wie vor sprudelnden Einnahmen aus der Kirchensteuer und aus den Staatstöpfen kümmern sie sich um die sozial Schwachen – eine Funktion, die auch areligiöse Menschen für wichtig halten.
  • Eine Variante, die nicht nur bei den konservativen Exponenten des Bistums Chur Fürsprecher hat, ist die Trennung vom Staat. Dadurch müssten die Kirchen zwar mit deutlich weniger finanziellen Mitteln auskommen, aber die Verfechter dieses Schritts erhoffen sich eine Revitalisierung der unabhängiger gewordenen Kirchen.
  • In Zeiten, in denen den beiden grossen Landeskirchen die Mitglieder in Scharen davonlaufen, könnte auch eine Bündelung der Kräfte bis hin zu einer Überwindung der Kirchenspaltung ein Thema werden. Nur scheint die ökumenische Bewegung derzeit nicht allzu viele Fürsprecher zu haben, und das unterschiedliche Kirchenverständnis von Katholiken und Protestanten ist ein grosses Hindernis.

Was die Zukunft der Kirchen betrifft, gibt es eine gute Nachricht und eine schlechte. Zuerst die schlechte: All diese Strategien dürften weitgehend wirkungslos bleiben, sollten sie überhaupt verfolgt werden. Sie haben jeweils gewichtige Nachteile: Eine betont konservative Ausrichtung treibt die distanzierte Mehrheit erst recht aus der Kirche, während die zeitgeistige Version die Gefahr mit sich bringt, dass man als beliebig erscheint und an Profil einbüsst. Vor allem aber überstrahlt der Metatrend des Individualismus alles.

Ohne Taufe kein Nachwuchs

Die Lebenswelten, in denen wir uns bewegen, werden immer vielfältiger. Das stellt Grossinstitutionen, die einst gesellschaftliche Klammern bildeten, grundlegend infrage. Darunter leiden nicht nur die Kirchen, aber sie trifft es besonders hart. Und die Entwicklung dürfte sich noch beschleunigen: Je nach Schätzung lassen 20 bis 50 Prozent der Eltern, die noch Kirchenmitglied sind, ihre Kinder nicht mehr taufen. So schwindet mit jeder Generation die Zahl derjenigen, die zu den Kirchen von klein auf eine Beziehung haben.

Und die gute Nachricht? Denkt der Mensch an die Zukunft, gelingt es ihm nur schwer, sich von den Prämissen seiner Zeit zu lösen. Er schreibt im Geist Entwicklungen fort, die er kennt. Der Niedergang der Kirche setzte in Westeuropa in den 1950er und 1960er Jahren ein – und müsste, geht man von einer simplen Kontinuität aus, irgendwann zum Nullpunkt führen. Doch auch wenn es kaum ein Zurück zur dominanten Stellung von früher gibt, werden die Kirchen nicht einfach verschwinden.

Die Menschen brauchen Rituale. Diese helfen, den Übergang in eine neue Lebensphase zu meistern oder den Tod einer geliebten Person zu verarbeiten. Und die Menschen brauchen Sinn. Für ein tieferes Verständnis der Vorgänge in der Natur sind Religionen schon lange obsolet geworden. Wir wissen ziemlich gut, wie die Landschaften um uns herum und die Lebewesen, die sie bevölkern, entstanden sind. Aber auf die Frage nach dem Warum können und wollen Naturwissenschaften keine Antwort geben. Deshalb wird die Nachfrage nach spirituellen Angeboten nicht abnehmen. Sie könnte sogar zunehmen, wenn die seit 1945 anhaltende Phase politischer Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität in unseren Breitengraden ein Ende finden sollte.

Vor der Konkurrenz im Sinnstiftungsmarkt, etwa den oftmals oberflächlichen Esoterikern, müssen sich die Landeskirchen gewiss nicht verstecken. Auch wer nicht an die Historizität von Wundern wie der Jungfrauengeburt oder der Auferstehung glauben mag, kann in der Bibel wertvolle Inhalte entdecken. Jesu Appelle an den Altruismus («Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst») und die Absage an die Selbstgerechtigkeit («Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein») sind zeitlose ethische Handlungsanweisungen. Ebenso bedeutend ist die biblische Betonung der unantastbaren Würde des Menschen und des selbstverantwortlichen Individuums, dessen unmittelbare Beziehung zu Gott vor allem die Reformation hervorgehoben hat. Mit dem Aufruf zur «Bewahrung der Schöpfung» können sich auch diejenigen Mitglieder der erstarkenden Ökobewegung identifizieren, die das Konzept eines Schöpfers ablehnen.

Die zentrale Rolle der Pfarrer

Die Botschaften sind also vorhanden. Von den Vermittlern der Botschaft jedoch wird abhängen, welche Bedeutung die Kirchen für die Gesellschaft behalten: Die Pfarrerinnen und Pfarrer müssen in ihrer Gemeinde Begeisterung entfachen. Anders als die Kirchen selber geniessen sie auch ein relativ hohes Vertrauen in der Bevölkerung, wie eine Umfrage des Museums Stapferhaus in Lenzburg zeigt. Die Reformierten wie die Katholiken müssen allerdings einen Weg finden, den eklatanten Nachwuchsmangel zu beheben. Nur so kann es ihnen gelingen, charismatische Figuren für den Kirchendienst zu gewinnen, die nicht salbadern, sondern glaubwürdig die Probleme der Gegenwart ansprechen.

Eine Rekrutierungsbasis ist nach wie vor vorhanden. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2014 gehen etwa 14 Prozent der Katholiken und 7 Prozent der Reformierten mindestens einmal pro Woche in die Kirche. Das mag nach wenig aussehen, und die Tendenz dürfte sinkend sein. Aber die absoluten Zahlen bleiben eindrücklich: Fast eine halbe Million Menschen besuchen demnach regelmässig einen landeskirchlichen Gottesdienst. Das sind, um einen profanen Vergleich zu machen, immer noch gut viermal mehr Personen, als sich an einem durchschnittlichen Spieltag in allen Stadien der höchsten Schweizer Liga im Fussball und im Eishockey versammeln.

So mottet zwar ein Feuer in den Fundamenten der Kirche. Doch es ist nicht zu spät, es zu löschen.