(Symbolbild: Simon Tanner / NZZ)

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Wie Ärzte es schafften, nach zwölf Jahren mit einem Komapatienten zu kommunizieren

Ein junger Mann lag schon lange im Koma. Die Ärzte sahen keine Anzeichen dafür, dass er bei Bewusstsein war. Die Eltern schon. Sie sollten recht behalten.

Adrian Owen
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Ein paar Tage vor Weihnachten 1999 verliess ein junger Mann namens Scott Routley das grosselterliche Haus in der kanadischen Kleinstadt Sarnia und fuhr mit dem Auto weg. Seine Freundin sass auf dem Beifahrersitz. Der 26-Jährige hatte Physik studiert und eine vielversprechende Karriere in der Robotik vor sich. Aber an einer Kreuzung wenige Strassen vom Haus seines Grossvaters entfernt wurde sein Auto von einem Polizeifahrzeug, das zu einem Tatort raste, massiv auf der Fahrerseite gerammt. Der Polizist und Scotts Freundin wurden mit kleineren Verletzungen ins Spital gebracht. Scott hatte nicht so viel Glück, seine Verletzungen waren verheerend.

Er wurde ins lokale Spital eingewiesen, wo sein Wert nach der sogenannten Glasgow-Koma-Skala binnen Stunden rapide sank. Der geringstmögliche Wert ist 3 und bedeutet, dass der Patient die Augen nicht öffnet, keinen Laut von sich gibt und sich nicht bewegt. Der höchste Wert 15 sagt aus, dass der Patient vollkommen wach ist, normal kommuniziert und Aufforderungen befolgt. Scotts Wert war 4, nur eine Stufe entfernt vom tiefen Koma. Obwohl er keine äusseren Anzeichen von Kopf- oder Gesichtsverletzungen aufwies, hatte er ein massives Schädel-Hirn-Trauma erlitten. Beim Aufprall des Polizeifahrzeugs war Scotts Gehirn gegen den Schädel geschleudert, dabei eingeklemmt und stark gequetscht worden.

Die Ärzte sahen keine Hoffnung

Ich hörte von diesem Fall zwölf Jahre später, kurz nach meiner Ankunft in Kanada, wo ich an der Western University ein Labor leite, das akute Gehirnverletzungen und neurodegenerative Erkrankungen erforscht. Scotts Arzt sagte mir: «Seine Familie ist davon überzeugt, dass er bei Bewusstsein ist, aber wir haben keine Anzeichen dafür erkennen können, und wir beobachten ihn schon seit Jahren.» Ich nahm Scott in Augenschein. Auch auf mich wirkte er eindeutig wie ein Wachkomapatient, aber ich musste eine zweite Meinung einholen. Dafür war keiner besser geeignet als Professor Bryan Young. Bryan hatte Scott seit dessen Unfall zwölf Jahre zuvor regelmässig gesehen. Bryan war für seine sorgfältige Begutachtung von Patienten international anerkannt. Wenn er Scott für reaktionslos hielt, dann konnte ich davon ausgehen, dass das stimmte. Ich teilte Bryan mit, dass ich darüber nachdachte, Scott mit funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) zu untersuchen. Er meinte, das sei eine gute Idee.

Gegen 20 Prozent aller Wachkomapatienten verfügen über ein volles Bewusstsein, auch wenn sie nicht auf äussere Reize reagieren.

FMRT ist eine bemerkenswerte Technologie, die Anfang der 1990er Jahre für den Einsatz in der Humanmedizin entwickelt worden war. Sie misst Gehirnaktivitäten, die mit Denken, Fühlen und Planen verknüpft sind. Aktivere Hirnareale nehmen mehr sauerstoffgesättigtes Blut auf. Der fMRT-Scanner kann das sichtbar machen und somit präzise anzeigen, wo eine Aktivität auftritt. So können wir feststellen, dass eine Person bei Bewusstsein ist und ihr Gehirn normal arbeitet, selbst wenn ihre äussere Erscheinung vermuten lässt, dass sie in einem zombiehaften Zustand ist und nichts wahrnimmt. Wir bezeichnen diese Personen als Bewohner der «Grauzone», eines Bewusstseinsbereichs, der irgendwo zwischen Leben und Tod liegt.

Dank der Erfindung der fMRT verstehen wir seit einigen Jahren viel besser, was in den Köpfen von Menschen vorgeht, die in der Grauzone gefangen sind. Wir haben herausgefunden, dass 15 bis 20 Prozent aller Wachkomapatienten über ein volles Bewusstsein verfügen, auch wenn sie auf keinerlei äussere Reize reagieren. Sie öffnen vielleicht die Augen, grunzen, stöhnen und geben gelegentlich einzelne Worte von sich. Sie scheinen ausschliesslich in ihrer eigenen Welt zu leben, ohne jegliche Gedanken und Gefühle. Viele sind tatsächlich so selbstvergessen und unfähig zu denken, wie ihre Ärzte glauben. Aber eine beträchtliche Anzahl erlebt etwas ganz anderes: Ihr intakter Geist driftet gleichsam in den Tiefen eines defekten Körpers und Gehirns.

Die Eltern opferten sich auf

Ich begab mich ins Spital, um Scott gründlicher zu begutachten. In einem ruhigen Raum abseits der Station, auf der Scott lag, stellte uns eine Krankenschwester seinen Eltern vor. Anne, eine Labortechnikerin, hatte sofort nach Scotts Unfall ihre Stelle aufgegeben. Ihr Mann, Jim, war Banker und Fernfahrer gewesen. Das sympathische Paar opferte sich für Scott auf. Jim und Anne erzählten uns, sie seien trotz der Diagnose davon überzeugt, dass Scott auf sie reagiere. «Sein Gesicht zeigt Regungen», beteuerte Anne. «Er blinzelt. Er hebt den Daumen für positive Antworten.»

Das war zugegebenermassen merkwürdig, angesichts der mehrfachen Begutachtung durch Bryan im Lauf der Jahre und unserer eigenen Beurteilung von Scotts Zustand. Wir konnten Scott nicht dazu bringen, den Daumen zu heben, egal wie sehr wir uns bemühten. Ich überprüfte seine Krankenakte. Weder Bryan noch irgendeiner der anderen Ärzte, die Scott über die Jahre untersucht hatten, hatte angegeben, dass er seit seiner Verletzung den Daumen heben konnte. Trotzdem waren seine Angehörigen felsenfest überzeugt: Scott reagierte, Scott war daher bei Bewusstsein.

So merkwürdig das erscheinen mag, hatte ich dieses Szenario im Lauf der Jahre viele Male erlebt. Eine Familie glaubt fest daran, dass ein geliebter Angehöriger bei Bewusstsein ist, auch wenn es dafür keinerlei klinische Hinweise gibt. Die Familienmitglieder sprechen mit dem Betroffenen, als wäre er bei vollem Bewusstsein. Warum? Besitzen diese Familien so etwas wie ein erhöhtes Einfühlungsvermögen für den Geisteszustand des Patienten? Verfügen sie über einen sechsten Sinn, mit dem sie ein Bewusstsein erkennen können, das selbst hochqualifizierte Experten nicht feststellen?

Angehörige sind im Vorteil

(Symbolbild: Simon Tanner / NZZ)

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Neurologen haben, wie alle Ärzte, viel um die Ohren; sie müssen sich um zahlreiche Fälle und klinische Belange kümmern. Im Gegensatz dazu sitzen viele Angehörige stundenlang, tagelang am Krankenbett und halten nach dem kleinsten Anzeichen von Bewusstsein Ausschau. Es ist normal, dass die Familienmitglieder solche Hinweise als Erste sehen, falls sie denn auftreten. All die Zeit, Mühe und Hoffnung nährt allerdings eine Art Wunschdenken - die kleinste Andeutung einer Reaktion kann den Realitätssinn der Familie komplett verändern.

Wenn der Mensch, den Sie am meisten lieben, vor Ihnen im Spitalbett liegt und sein Leben an einem seidenen Faden hängt, wünschen Sie sich sehnlichst, dass er es schafft – und dass er weiss, dass Sie da sind. Sie fordern ihn auf, Ihre Hand zu drücken, falls er Sie hört – und er tut es. Sie spüren einen deutlich stärkeren Druck in seiner Hand. Sie sagen sich, er ist meiner Aufforderung gefolgt, er hat reagiert, er ist bei Bewusstsein. Das ist eine absolut normale, aber leider nicht wissenschaftlich begründete Reaktion. Die Wissenschaft verlangt, dass Prozesse wiederholbar sind.

Als Forscher, der mit den Familien von Wachkomapatienten zu tun hat, fand ich mich oft in der unangenehmen Lage, die drastischsten und schmerzlichsten Beispiele dieser sehr menschlichen Neigung mitzuerleben. Familien klammern sich an das eine Mal, als ein Patient unmittelbar auf eine Instruktion reagierte, und übersehen die vielen anderen Momente, in denen keine Reaktion erfolgte.

Ich hatte keine Ahnung, ob Scotts Angehörige einer Bestätigungssucht erlagen oder bei Scott tatsächlich etwas sahen, was wir nicht messen konnten. Als Wissenschafter neige ich dazu, Ersteres für plausibel zu halten; als Mensch bin ich mehr als bereit, das Letztere zu akzeptieren. Man musste einfach gerührt sein von der Art, wie Scotts Familie sich dafür aufopferte, ihm das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Ich war auch gerührt von ihrem festen Glauben, dass er bei Bewusstsein sei, ob dieser Glaube nun wissenschaftlich begründet war oder nicht. Die Angehörigen waren immer für ihn da, unterstützten ihn unentwegt und waren überzeugt, dass er ihre tiefempfundene Liebe auch mehr als ein Jahrzehnt nach seinem Unfall spüren konnte.

Der Tennis-Test

Während Scott im fMRT-Scanner lag, gingen meine Mitarbeiterin Davinia Fernández-Espejo und ich eine von uns entwickelte Prozedur durch. Mit ihr stellen wir fest, ob ein Patient in der Grauzone bei Bewusstsein ist und uns versteht, was wir ihm sagen. Es mag merkwürdig klingen, aber wir erreichen das, indem wir den Patienten im Scanner auffordern, sich vorzustellen, dass er Tennis spiele. Wenn er sich vorstellt, die Arme zu schwingen – wie er das tun würde, wenn er intensiv Tennis spielen würde –, wird ein Teil des Gehirns namens prämotorischer Cortex aktiviert. Reagiert der prämotorische Cortex also, wissen wir, dass der Patient bei Bewusstsein ist.

Natürlich muss auch die Aktivierung des prämotorischen Cortex – genau wie ein Händedruck – wiederholbar sein. Wir gehen erst davon aus, dass ein Patient bei Bewusstsein ist, wenn wir sehen, dass seine Antwort konsistent und wiederholbar ist. Wir prüfen auch, ob der Patient mindestens einen weiteren Gehirnbereich auf Kommando aktivieren kann. Zum Beispiel fordern wir ihn auf, sich vorzustellen, zu Hause von Zimmer zu Zimmer zu gehen. Wenn er bei Bewusstsein ist, wird dadurch ein Gehirnbereich namens Gyrus parahippocampalis aktiviert.

Ich sagte also: «Scott, stell dir bitte vor, du spielst Tennis, wenn du diese Anweisung hörst.»

Noch immer bekomme ich Gänsehaut, wenn ich daran denke, was dann geschah. Auf dem Bildschirm explodierte Scotts Gehirn in einem breiten Spektrum von Farbaktivierungen. Das deutete darauf hin, dass er tatsächlich auf meine Aufforderung reagierte und sich vorstellte, Tennis zu spielen.

«Nun stell dir bitte vor, Scott, du gehst in deinem Haus umher.» Wieder reagierte Scotts Gehirn und bewies, dass er im Inneren präsent war und genau das tat, worum man ihn bat.

Scotts Angehörige hatten recht. Er war sich dessen bewusst, was um ihn herum geschah. Er konnte reagieren. Vielleicht nicht mit seinem Körper und nicht so, wie die Angehörigen es behauptet hatten, aber sicherlich mit seinem Gehirn.

Eine brenzlige Frage

Was nun? Was sollten wir Scott noch fragen? Davinia und ich sahen uns nervös an. Mit unserer fMRT-Methode hatten wir bereits nachgewiesen, dass Scott über ein Bewusstsein verfügte. Konnten wir ihn nun damit befragen, ob er Schmerzen erlitt? Ich versuchte, mir vorzustellen, wie seine Antwort lauten mochte. Was wäre, wenn Scott «Ja» sagte? Es war zu schrecklich, um auch nur daran zu denken, dass Scott seit zwölf Jahren Schmerzen empfunden haben könnte. Und dennoch war das durchaus möglich. Für den Fall, dass Scott zu erkennen gab, er habe Schmerzen, war ich mir nicht sicher, wie ich mich verhalten würde. Und es blieb auch die Frage, wie seine Familie reagieren würde. Ich musste mit Anne reden.

Ich stand auf und ging langsam in den Raum, in dem sie wartete. Anne stand lächelnd an der Tür. Allerlei Gedanken schossen mir durch den Kopf. «Wir würden Scott gern fragen, ob er Schmerzen hat, aber dafür brauche ich Ihre Einwilligung», erklärte ich ihr.

Das war ein entscheidender Moment. Es ging um die Frage, ob wir erstmals einem Wachkomapatienten eine Frage stellen konnten, die möglicherweise für immer sein Leben verändern würde. Wenn Scott zwölf Jahre lang hatte Schmerzen ertragen müssen, hätte niemand es je erfahren. Man kann sich unmöglich ausmalen, was für ein endloser Albtraum sein Leben gewesen wäre.

(Symbolbild: Simon Tanner / NZZ)

(Symbolbild: Simon Tanner / NZZ)

Anne sah zu mir auf. Sie war die ganze Zeit über gelassen gewesen, fast heiter. Ich stellte mir vor, dass sie sich schon vor Jahren mit der Situation ihres Sohnes abgefunden haben musste. «Machen Sie nur», sagte Anne. «Scott soll es Ihnen sagen.»

Ich ging zurück zu meinem Team in den Scan-Raum. Die Stimmung war angespannt. Jeder wusste, was auf dem Spiel stand. Wir waren im Begriff, die Wachkomaforschung einen wichtigen Schritt voranzubringen. Es ging nicht mehr nur um wissenschaftlichen Fortschritt, sondern ganz klar um klinischen Nutzen.

«Scott, hast du irgendwelche Schmerzen? Tun dir gerade irgendwelche Körperteile weh? Stell dir bitte vor, du spielst Tennis, wenn die Antwort ‹Nein› lautet.» Ich zittere immer noch, wenn ich an den Moment zurückdenke.

Wir sassen angespannt da und konnten kaum atmen. Durch das Fenster sahen wir Scotts reglosen, mumienhaften Körper in der gleissenden Röhre liegen. Die Schnittstellen zahlreicher Apparaturen waren bis ins Kleinste miteinander synchronisiert und ermöglichten es uns, eine geistige Verbindung herzustellen und die einfache Frage zu stellen: Hast du Schmerzen?

Davinia und ich blickten gespannt auf den Bildschirm. Ich berührte einen bestimmten Punkt auf dem glänzenden Monitor und sagte: «Falls Scott reagiert, sollten wir hier eine Aktivierung sehen.» Wir konnten sämtliche Falten und Furchen von Scotts Gehirn erkennen, sowohl das gesunde Gewebe als auch die Teile, die durch den Unfall vor zwölf Jahren irreparabel beschädigt worden waren. Dann bemerkten wir noch etwas: Scotts Gehirn erwachte zum Leben. Leuchtend rote Flecken tauchten auf, nicht wahllos, sondern genau dort, wo ich meinen Finger hinhielt. Scott reagierte also. Er beantwortete die Frage. Und noch wichtiger war die Antwort: «Nein». Alle im Raum jubelten und beglückwünschten einander. Scott hatte uns mitgeteilt: «Ich habe keine Schmerzen.»

Ein Durchbruch in der Forschung

Ich war den Tränen nahe, bemühte mich aber um Fassung. Das war ein Durchbruch in der medizinischen Forschung. Scott lag regungslos im Scanner, und mein Team war fassungslos vor Staunen.

Nun legte sich die Spannung, und alle atmeten erleichtert auf. Alle ausser Anne. Als ich ihr das Ergebnis mitteilte, zeigte sie sich wenig beeindruckt. «Ich wusste, dass er keine Schmerzen hat», erklärte sie. «Andernfalls hätte er es mir gesagt.» Ich war inzwischen vollkommen durcheinander und konnte nur stumm nicken. Anne hatte Scott all die Jahre zur Seite gestanden und beharrlich deutlich gemacht, dass er immer noch wichtig war und Zuneigung und Aufmerksamkeit verdiente. Sie hatte ihn nie aufgegeben.

An jenem Tag und bei vielen weiteren Gelegenheiten in den folgenden Monaten konnten wir mit Scott im Scanner kommunizieren. Er drückte sich aus und sprach mit uns über die magische Verbindung, die wir zwischen seinem Gehirn und unserer Apparatur geschaffen hatten. Irgendwie kehrte Scott wieder ins Leben zurück.

Die Fragen, die wir ihm in den folgenden Monaten stellten, wurden mit zweierlei Zielen gewählt. Zum einen versuchten wir, ihm so weit wie möglich zu helfen, indem wir ihm Fragen stellten, mit denen sich vielleicht seine Lebensqualität verbessern liess. So fragten wir ihn, ob er im Fernsehen gern Eishockey sah. Vor seinem Unfall war Scott, wie so viele Kanadier, ein Eishockeyfan gewesen, und so war es nur natürlich, dass seine Angehörigen und Pfleger so oft wie möglich den Fernseher anschalteten, wenn ein Spiel übertragen wurde. Doch seit Scotts Unfall waren mehr als zwölf Jahre vergangen. Vielleicht hatte er inzwischen gar nichts mehr für Eishockey übrig. Vielleicht hatte er schon so oft Eishockey gesehen, dass er es nicht mehr ausstehen konnte. Indem wir abklärten, was seine aktuellen Vorlieben waren, liess sich seine Lebensqualität verbessern. Zum Glück sah Scott immer noch gern Eishockey.

Zum anderen stellten wir Scott Fragen, um möglichst viel über seine Situation zu erfahren – was er wusste, an wie viel er sich erinnerte und wessen er sich bewusst war. Bei diesen Fragen ging es weniger darum, etwas über Scott als Menschen zu erfahren, als darum, weiter in die Grauzone vorzustossen. Es war unglaublich wichtig zu verstehen, was in dieser Gefangenschaft psychisch überhaupt möglich war, denn dazu konnte kein Experte etwas sagen. Und wie sich herausstellte, herrschten dazu die irrigsten Annahmen.

Es gab ein klares Indiz dafür, dass er noch immer Neues in seinem Gedächtnis abspeichern konnte.

Wenn ich Vorträge über Wachkomapatienten hielt, hörte ich beispielsweise häufig Kommentare wie diese: «Vermutlich ist ihnen gar nicht bewusst, wie die Zeit vergeht» oder «Wahrscheinlich erinnern sie sich gar nicht an ihren Unfall» oder sogar «Ich bezweifle, dass sie sich ihrer Lage überhaupt bewusst sind».

Er wusste, welches Jahr war

Scott belehrte uns eines Besseren. Er beantwortete all diese Fragen und sogar noch mehr. Als wir ihn nach dem aktuellen Jahr fragten, gab er uns die richtige Antwort: Es war 2012 und nicht 1999, das Jahr seines Unfalls. Ganz eindeutig hatte er ein Bewusstsein für das Verstreichen von Zeit. Er wusste, dass er Scott hiess und sich in einer Klinik befand. Ganz eindeutig hatte er ein Bewusstsein davon, wer und wo er war. Scott konnte uns auch sagen, wie der Name seiner wichtigsten Betreuungsperson lautete. Dies war eine wichtige Frage in der Wachkomaforschung, denn häufig war darüber spekuliert worden, was sich Patienten in dieser Situation überhaupt merken können. Scott hatte seine Betreuerin vor seinem Unfall noch gar nicht gekannt. Dass er ihren Namen wusste, war ein klares Indiz dafür, dass er noch immer etwas Neues in seinem Gedächtnis abspeichern konnte.

Scott starb im September 2013 an den Folgen diverser Komplikationen, die von seinem Unfall herrührten. Das geschieht nur allzu häufig, selbst Jahre nach einem massiven Hirntrauma. Patienten, die ständig liegen und den unzähligen Viren, Bakterien und Pilzen im Spital ausgesetzt sind, verlieren ihre Immunabwehr und werden äusserst anfällig für Krankheiten wie Lungenentzündung.

Mein gesamtes Team war erschüttert. Wir hatten viele Stunden mit Scott verbracht. Er war Teil der Familie. Wir hatten uns nie richtig mit ihm unterhalten, dennoch hatten wir seltsamerweise alle das Gefühl, ihn zu kennen. Er hatte uns tief berührt. Wir waren tief in sein Leben in der Grauzone vorgedrungen, und seine Antworten liessen uns staunen über seine Stärke und seinen Mut. Sein Leben war eng mit unseren Leben verflochten.

(Symbolbild: Simon Tanner / NZZ)

(Symbolbild: Simon Tanner / NZZ)

Die Einsegnungshalle war brechend voll. Scotts Leichnam lag in einem offenen Sarg im vordersten Teil des Raums. Angehörige und Freunde von nah und fern waren gekommen. Obwohl Scott vierzehn Jahre lang in sich gefangen und von der Aussenwelt abgeschnitten war, fühlten sich auch nach seinem Tod viele Menschen noch immer aufs Engste mit ihm verbunden.

Scotts Vater Jim fragte mich, ob ich seinen Sohn sehen wolle. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte schon viele Beerdigungen erlebt, aber in meiner britischen Heimat kennt man offene Särge nicht. Aus Respekt gegenüber Jim und der gesamten Familie willigte ich ein, Scott ein letztes Mal zu sehen.

Der Moment berührte mich sonderbar. Scott sah fast noch so aus, wie ich ihn immer gesehen hatte. Den «richtigen» Scott hatte ich nie gekannt, den Scott, der ein erfülltes und glückliches Leben geführt hatte, der gehen und reden und lachen konnte, bis ihm im Alter von 26 Jahren all das plötzlich und für immer genommen worden war. Ich hatte nur den körperlich reaktionslosen Scott gekannt, den Scott, der in diesem Augenblick vor mir lag. Und da wurde mir klar, dass diese Grauzone, in die viele unserer Patienten verbannt sind, wirklich das Grenzgebiet zwischen Leben und Tod ist. Dieser Bereich liegt so nah am Tod, dass er sich manchmal nur schwer vom Tod unterscheiden lässt.

Auf Scotts Nachrufseite im Internet schrieb ich: «Es war ein grosses Privileg, Scott in den vergangenen paar Jahren kennengelernt zu haben. Sein heldenhafter Einsatz für die Wissenschaft wird nie vergessen werden und im Leben und Denken all jener nachhallen, die ihn kannten - und vieler weiterer Menschen, die ihn nicht kannten.»

Mein Team hatte zu Scott und seiner Familie eine Beziehung aufgebaut, wie wir sie weder davor noch danach je wieder erlebten. Das lag teilweise an Annes und Jims Wärme und Offenheit, mit der sie uns an ihrem Leben teilhaben liessen. Vor allem aber stellte Scott selbst diese Verbindung her und besiegelte sie. Zum ersten Mal mit einem Menschen zu kommunizieren, der sich seit mehr als einem Jahrzehnt nicht mehr mitteilen konnte, ist eine aussergewöhnliche Erfahrung. Es immer wieder zu tun, ist magisch.

Scott liess uns in seine Welt hinein. Wir lachten mit ihm, scherzten mit ihm, weinten mit ihm. Als Scott schliesslich von uns ging , starb mit ihm wohl auch ein kleiner Teil von uns allen.

Dieser Artikel ist ein Auszug aus Adrian Owens gerade erschienenem Buch «Zwischenwelten. Ein Neurowissenschaftler erforscht die Grauzone zwischen Leben und Tod» (Verlag Droemer Knaur). Aus dem Englischen von Harald Stadler, bearbeitet von smi. und msa.