Das Freund-Feind-Denken ist verheerend – Thüringen zeigt, wie sich das vergiftete Klima in Deutschland ausweitet

Die Ereignisse in Thüringen sind auch die Folge eines Klimas der Scharfmacherei. Der entgleiste politische Diskurs hat die Aufteilung der Gesellschaft in zwei Kampflager zur Folge. Die politische Mitte ist in Gefahr.

Zsuzsa Breier
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Die deutsche Gesellschaft teilt sich in Kampflager (im Bild eine Demonstration vor der FDP-Parteizentrale in Berlin nach der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen).

Die deutsche Gesellschaft teilt sich in Kampflager (im Bild eine Demonstration vor der FDP-Parteizentrale in Berlin nach der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen).

Janine Schmitz / Imago

«Wir haben hier im Osten noch die persönlichen Erfahrungswerte mit einer totalitären Gesellschaft . . . Es fühlt sich wieder so an wie damals in der DDR.» An diesem Satz des thüringischen AfD-Frontmanns Björn Höcke lässt sich nicht nur ein rhetorischer Kunstgriff von Populisten veranschaulichen. Er weist auch auf eine Pervertierung aufgrund von gleich zwei Diktaturerfahrungen hin und zeigt die nachhaltigen Beschädigungen, die sie bis in die Demokratie hinein anrichtet.

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Höcke geht es nicht um Diktaturen, auch nicht um die SED-Diktatur. Diese nutzt er lediglich als Stimmungsmache für seine These, die falsch ist. Denn das Leben fühlt sich heute nicht «so» an «wie damals in der DDR».

Es kann sich gar nicht so anfühlen. Niemand muss beispielsweise wegen seiner politischen Ansichten im Steinbruch Zwangsarbeit leisten. Keiner wird erschossen, wenn er das Land verlassen will.

Aber eine Demokratie fühlt sich niemals wie eine Diktatur an. Höckes Gleichung lautet: damals Totalitarismus, heute Meinungsdiktatur. Und was er natürlich verschweigt: Der Osten hatte im 20. Jahrhundert nicht mit einer, sondern mit zwei totalitären Gesellschaften Erfahrung.

Was in Deutschland gerade passiert

Der Trick von Höcke ist: Er bezieht sich auf eine kollektive Demütigungs- und Terrorerfahrung in der Diktatur und insinuiert damit eine vergleichbare Gefahr in der Gegenwart. Die SED-Diktatur fühlte sich nicht nur nicht gut an, sie horchte aus, folterte, verbot, jagte, sperrte ein und mordete, sie verunmöglichte Millionen das Leben – «alles war verlogen», sagt Herta Müller so treffend. Höcke aber geht es nicht um Vergangenheitsaufarbeitung.

Der AfD-Politiker täuscht, und das gleich doppelt: Für seine Beschwörung einer angeblichen Meinungsdiktatur missbraucht er das im Kommunismus erlittene Leid, und zugleich verschweigt er, dass Thüringen im 20. Jahrhundert nicht mit einer, sondern mit zwei totalitären Gesellschaften Erfahrungen machte. Dieses Schweigen über die nationalsozialistische Diktatur ist das eine. Das andere ist, dass Höcke sich systematisch zentraler Begriffe nationalsozialistischer Rhetorik bedient, Verschwörungstheorien, Legendenbildungen und Hetze betreibt, wenn er beispielsweise davon spricht, dass «wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen», oder vom «vollständigen Sieg» der AfD.

Bei so klarer Sprache scheint es ziemlich ausgeschlossen, dass an den 259 000 AfD-Wählern in Thüringen diese Anlehnung an die nationalsozialistische Rhetorik vorbeigegangen ist.

Deshalb wäre es auch falsch, AfD-Wählern einen Persilschein auszustellen. Aber genauso falsch ist es, alle AfD-Wähler als «Nazis» abzustempeln. Denn für diese gilt wie für andere Wähler, dass für das Wahlverhalten über ideologisch-politische Einstellungen und das Profil eines Spitzenkandidaten hinaus noch zahlreiche andere Faktoren eine Rolle spielen. Hier wirkt eine solche pauschalisierte Scharfmacherei von links, als würde man Öl ins Feuer giessen.

Die gegenwärtige Situation in Thüringen macht das gerade sehr deutlich. Verheerend für die politische Zukunft Deutschlands ist nicht, dass der FDP-Politiker Thomas Kemmerich, der sich von der AfD genauso wie seine Partei konsequent und klar distanziert, mit der Annahme der durch AfD-Stimmen ermöglichten Wahl zum Ministerpräsidenten einen Fehler gemacht hat und FDP und CDU auf eine «Finte der AfD» (Andreas Rödder) hereingefallen sind. Verheerend ist die Entgleisung des politischen Diskurses, die Aufteilung der Gesellschaft in zwei Kampflager: die Aufteilung der Gesellschaft in das linke «Gute», das den Rechtsradikalismus bekämpft, und in das rechte «Böse», das Rechtsradikalen nahesteht.

Solche Zuschreibung erbost diejenigen, die sich nicht als links definieren wollen, weil sie 44 Jahre linke Diktatur erlebten. Auch der SED-Staat brandmarkte jeden, der ihm politisch nicht passte, als «Faschisten».

Was in Deutschland gerade passiert: Das Verschreien aller tatsächlichen (und auch vermuteten) AfD-Anhänger als Nazis gibt dem radikalen AfD-Flügel Auftrieb. Bestätigt in der AfD-These von der «gesellschaftlichen Ächtung» und eines «Meinungsterrors» durch eine «durchgeknallte Pseudoelite» fühlen sich auch Menschen, die mit Rechtsradikalismus nichts am Hut haben. Es ist diese Politik des Freund-Feind-Denkens, das links- und rechtsradikal wie links- und rechtspopulistisch verortet ist. Sie vergiftet das politische Klima und zieht gegenwärtig immer grössere Kreise.

Wie stark muss die Sturmwarnung ausfallen?

Nach der verunglückten Ministerpräsidentenwahl in Thüringen geht diese fatale Feindsetzung nun so weit, dass sogar Liberale, die Rechtsradikalismus in den Parlamenten und in der Zivilgesellschaft entschlossen bekämpfen, linker Hetze ausgesetzt sind. Es geht dabei nicht nur um verbale Angriffe, gerade gibt es bundesweit eine Welle von Bedrohungen, Übergriffen und Vandalismus gegen FDP-Mitglieder und Einrichtungen dieser Partei.

Wie stark muss die Sturmwarnung ausfallen? Ist das noch eine politische Debatte, die einfach nur aufgeheizt ist, sich aber ohne grosse Schäden wieder beruhigen kann? Oder ist die politische Stabilität der Bundesrepublik ernsthaft gefährdet? Und ist diese Grenze schon überschritten, wenn eine dramatisch geschwächte SPD im Nachgang des politischen Debakels ihre Giftpfeile nicht auf die AfD richtet, sondern auf die sowieso schon schwächelnde demokratische Mitte, die nicht zuletzt auch wegen des SPD-Tiefflugs schrumpft?

Wenn ein sozialdemokratisches Regierungsmitglied wie Olaf Scholz auch gegen die Liberalen und gegen den eigenen Koalitionspartner CDU/CSU auf eine Art giftet, die sich eher der Ebene der Verschwörungstheorien und Unterstellungen zuordnen lässt wie: «Was in Erfurt passiert ist, war kein Zufall, sondern eine abgekartete Sache» – wo geht dann die Reise hin?

Diese neue Feindsetzung innerhalb der politischen Mitte, der Versuch, demokratische Konkurrenten durch die Unterstellung einer Nähe zum Rechtsradikalismus zu beschädigen, ist am Ende genauso falsch wie der Versuch von SPD und Grünen, durch einen immer radikaleren Linkskurs in der SED-Nachfolgepartei Die Linke politische Verbündete (auch für die Bekämpfung des Rechtsradikalismus) zu finden.

Wer nämlich die Popularität der AfD nur auf nationalsozialistisches Gedankengut zurückführen möchte, übersieht, dass diese Partei auch eine Spätfolge der SED-Diktatur ist.

Bei meinen Lektüren von Stasi-Geheimakten überraschte mich besonders die Vielzahl von Belegen neonazistischer Gewalttaten, was so gar nicht zum selbsterklärten antifaschistischen SED-Staat passt. Denn das Gut-Böse-Schema sah im SED-Staat vor, dass die DDR «antifaschistisch» ist, während in der Bundesrepublik dagegen ein «Klima» herrsche, in dem «neonazistische Bazillen gedeihen», wie es der bekannteste SED-Propagandist, Karl-Eduard von Schnitzler, formulierte. In Wahrheit verschwieg die SED ihre eigenen Neonazis. Und noch folgenreicher: Sie bekämpfte sie kaum. Während Neonazis als harmlose «Rowdys» galten, ging die SED mit aller Härte gegen politisch Andersdenkende, gegen «Feindlich-Negative» oder «Republikflüchtlinge» vor.

Die SED liess neonazistisches, rassistisches und antisemitisches Gedankengut gedeihen. Tausende von solchen «Tatbeständen» waren zwar der Stasi bekannt, um die 9000 wurden auch registriert – und konsequent verharmlost. Der Öffentlichkeit vorenthalten, in den geheimen Stasi-Akten aber penibel dokumentiert wurden allein im Jahr 1989 um die 15 000 Neonazis. Als Konrad Weiss im März 1989 feststellte, der sozialistische deutsche Staat sei «auf dem rechten Auge blind», konnte das nur in der Untergrundzeitschrift «Kontext» veröffentlicht werden. Kommt hinzu, dass die SED mit ihrer Militanz, mit ihrem Untertanengeist, mit dem System von Arbeits- und Straflagern, Spezialheimen und Jugendwerkhöfen, der Willkür auf allen Ebenen bester Nährboden für den Rechtsextremismus war.

Wenn SPD und Grüne in Thüringen in der Bekämpfung der AfD nicht auf die politische Mitte, sondern auf die SED-Nachfolgepartei Die Linke setzen, blenden sie auch aus, dass AfD und Linke sich letztlich nahestehen, wo sie die Demokratie (und im Übrigen auch die Europäische Union) in eine andere politische Ordnung überführen wollen. Die Linke will, wie schon die SED vorgab, einen «demokratischen Sozialismus». Die AfD zielt ähnlich den Nationalsozialisten auf die Dekonstruktion der bestehenden Ordnung, in der «das Volk» sich angeblich «unterdrückt» fühle.

Den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie hat uns die Geschichte gelehrt: im Westen die Geschichte einer Diktatur, im Osten die von zwei Diktaturen. Was fehlt, ist eine breite Verständigung darüber. Ohne den Nationalsozialismus mit dem Kommunismus gleichsetzen zu wollen, muss es Konsens darüber geben, dass das nationalsozialistische Deutschland und der SED-Staat beide Diktaturen waren. Das kann die deutsche Gesellschaft dazu führen, dass sie nicht auf den AfD-Trick hereinfällt, der auf die Spaltung der politischen Mitte abzielt.

Zsuzsa Breier ist Kulturwissenschafterin; sie war Europastaatssekretärin des Landes Hessen. Zuletzt erschienen von ihr zum Jahr 1989 mehrere Blog-Beiträge für das Deutsche Historische Museum.