Sexuelle Gewalt hinterlässt über Generationen hinweg ihre Spuren

Fast eine Million deutsche Frauen wurden am Ende des Zweiten Weltkriegs vergewaltigt. Die Kinder und Enkel der Opfer leiden bis heute unter den Folgen.

Yaël Debelle
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Im zerrütteten Deutschland waren Frauen ungeschützt, Gewalttaten konnten sich überall und am helllichten Tag ereignen.

Im zerrütteten Deutschland waren Frauen ungeschützt, Gewalttaten konnten sich überall und am helllichten Tag ereignen.

Willy van Heekern / bpk

Immer wieder hatte Klaras Mutter im Schlaf einen Nervenzusammenbruch. Ihr Mund schäumte, sie jammerte und schrie. Klara war zwölf Jahre alt und lag neben ihrer Mutter im Bett. «Ich habe sie dann geschüttelt, aber sie kam nicht zu sich, ihre Pupillen waren nach oben verdreht, sie hatte nur noch weisse Augen, und da habe ich sie so sehr geschüttelt, dass sie einen Bluterguss an den Oberarmen bekam», erinnert sich Klara.

Manchmal zählte die Mutter im Traum: «88, 89 . . . bis 100. Ich habe sie gefragt, was sie zähle, und da hat sie mir zum ersten Mal gesagt, dass das die Vergewaltigungen im Lager seien.» Bei Hundert habe sie aufgehört zu zählen.

Fast eine Million deutsche Frauen wurden Ende des Zweiten Weltkriegs von alliierten Soldaten vergewaltigt, von Amerikanern, Briten, Franzosen und Russen. Und wohl ebenso viele Kinder mussten mit traumatisierten Müttern aufwachsen. Tausende waren selbst das Produkt einer Vergewaltigung. Ihre blosse Existenz erinnerte die Mütter täglich an das Trauma. «Sie sind mit einer Erbschuld geboren», sagt Miriam Gebhardt. Die deutsche Historikerin hat Klara und Dutzende andere Kinder von vergewaltigten Müttern interviewt. «Wir Kinder der Gewalt» (Deutsche Verlags-Anstalt, 2019) heisst ihr neustes Buch.

2015 hatte Gebhardt mit ihrem Werk «Als die Soldaten kamen» über die vergewaltigten Frauen selbst für Aufsehen gesorgt. Nach der Veröffentlichung bekam die Autorin so viele Zuschriften von Kindern der Vergewaltigungsopfer, dass sie ein Buch über die zweite Generation in Angriff nahm. Und sie trifft auch damit einen Nerv – denn es gibt noch immer Stimmen, die sagen, man verharmlose den Holocaust, wenn man deutsche Kriegsopfer zu Wort kommen lasse. Kriegsopfer wie Klara und ihre Mutter Dora.

Frauen aller Schichten betroffen

Dora wurde 1945 von den Russen verschleppt und in ein Zwangsarbeitslager im Uralgebirge gebracht. «Entnahme» von Arbeitskräften nannte man das. Die Verschleppten waren lebende Reparationszahlungen der Deutschen an die im Krieg ausgeblutete Sowjetunion. Im Gulag hauste Dora in einer Scheune und wurde fast jede Nacht vergewaltigt, bis sie so zerstört war, physisch und seelisch, dass sie 1948 nach Deutschland zurückgeschickt wurde.

Klara ist ein Kind der Gewalt. Die Tochter einer vergewaltigten Mutter. Sie wurde zwar selbst nicht bei einer Vergewaltigung gezeugt, sondern erst Monate danach, aber sie musste sich schon als Kleinkind um eine seelisch und körperlich kaputte Mutter kümmern. Niemand half ihr dabei. Doras Ehemann hatte sich aus dem Staub gemacht.

«Die sexuelle Gewalt traf Frauen aller Schichten, junge Mädchen und alte Frauen – und auch Männer», sagt Gebhardt. «Es geschah am helllichten Tag, nachts bei Hausdurchsuchungen, auf offenem Feld, in Kellern und Unterständen» – «und in spontan eingerichteten Vergewaltigungsräumen». Die Taten seien oft in der Gruppe verübt worden, die Soldaten hätten gegenseitig Schmiere gestanden. Rund 860 000 Frauen wurden vergewaltigt, so Gebhardts Hochrechnung. Die Historikerin hat die eidesstattlichen Erklärungen von vergewaltigten Frauen studiert, die abtreiben wollten. Ausserdem Arztberichte, Rentenanträge für Kinder aus Vergewaltigungen, Polizeiakten und die Einmarschberichte von Pfarrern.

Ein «sexuell traumatisiertes Land»

Deutschland war zerrüttet, es gab keine funktionierende Polizei mehr, kein Rechtssystem, keine Solidarität. Nichts, das die Frauen vor dem Kriegsverbrechen Vergewaltigung schützte. Die Frauen waren Freiwild. Und man unterstellte den Opfern, selbst schuld zu sein: «Russenhure» oder «Ami-Liebchen» wurden die vergewaltigten Frauen genannt.

«Sexuelle Gewalt schweisst Soldaten zusammen», sagt Gebhardt, «und sie zerstört den Zusammenhalt des gegnerischen Kollektivs.» Die deutsche Gesellschaft habe ihre eigenen Opfer geächtet und ausgegrenzt. Frauen, die nach der Vergewaltigung abtreiben wollten, mussten Beweise erbringen, Zeugen nennen, man misstraute ihnen. «Die hatte doch einen lockeren Lebenswandel», hiess es.

Diese Haltung musste auch Marta Hillers erleben, die ihre Vergewaltigungsgeschichte 1954 unter dem Titel «Eine Frau in Berlin» veröffentlichte. Unter dem Pseudonym Anonyma beschrieb die Berlinerin die brutalen Szenen in salopper, schockierend offener Sprache – und erntete dafür in Deutschland heftige, feindselige Reaktionen. Sie beschmutze die Ehre der deutschen Frau.

«Deutschland war nach dem Zweiten Weltkrieg ein sexuell traumatisiertes Land», sagt der Freiburger Familientherapeut Jochen Leucht, der sich schon seit 25 Jahren mit dem Thema beschäftigt. «Aber über die Vergewaltigungen wurde in deutschen Stuben nicht geredet.» Aus Scham, aus Schuld, um zu vergessen, aus Unwissen über die Folgen von Traumata. Erst ein Dokumentarfilm der feministischen Filmemacherin Helke Sander brachte die Massenvergewaltigungen in den 1990er Jahren ins kollektive Bewusstsein. Nun, 75 Jahre nach Kriegsende, dringen langsam auch die transgenerationalen Folgen der sexuellen Übergriffe an die Oberfläche.

Erschüttertes Urvertrauen

Jochen Leucht organisiert Fachtagungen für Therapeuten, er will für die Folgen sensibilisieren, die bei Kindern und Enkeln bis heute nachwirken. «Vergewaltigungen zerstören die eigene Integrität», sagt Leucht. «Sie zerbröseln den inneren Schutz eines Menschen, viele Opfer landen danach immer wieder in missbräuchlichen und gewalttätigen Beziehungen.» Die Übergriffe erschüttern das Urvertrauen in Beziehungen, Nähe wird fast unmöglich. Das bekamen die Kinder der Betroffenen zu spüren. So auch Eleonore.

Ihre Mutter Monika wurde kurz nach Kriegsende von einem französischen Soldaten vergewaltigt. Neun Monate später kam Eleonore zur Welt. Die Mutter wollte nichts von ihrer Tochter wissen, konnte keine Liebe für sie empfinden. «Ich habe immer gewartet, dass meine Mutter sagt: ‹Kind, ich liebe dich.› Ich war wie ein Kaugummi, bin immer an ihr drangehangen», erzählt Eleonore. «Aber sie hat mich bis zum Schluss verleugnet.»

Kurz vor ihrem Tod habe die Mutter sie sogar enterbt. «Von Anbeginn wurde ich eines Teils meiner Seele beraubt, bevor ich überhaupt an das Licht dieser Welt trat», sagt Eleonore, die als Erwachsene von einer ungesunden Beziehung in die nächste schlitterte: Alkoholkranke und gewalttätige Männer, Stalker und Egoisten kamen und gingen. Körperliche Berührungen hielt sie kaum aus.

«Es dauert drei bis vier Generationen, bis ein Trauma in einer Familie verarbeitet ist», sagt Familientherapeut Jochen Leucht. Oft würden sogar Enkel Verhaltensweisen reproduzieren, obwohl sie die Geschichte nicht einmal kennten. «Was wir in unseren ersten fünf Lebensjahren an Beziehungsmuster erleben, bekommen wir nicht mehr aus unseren Kleidern geschüttelt.»

Verweigerte Liebe lebt fort

Für Klara, das Mädchen, das sich ohne Unterstützung um seine schwer traumatisierte Mutter kümmern musste, gab es keine Hilfe. «Wenn du mich allein lässt, bringe ich mich um», drohte die Mutter. Die Dorfgemeinschaft grenzte Klara aus, Mitschülerinnen durften nicht mit ihr spielen, weil sie keinen Vater hatte. Die Verwandtschaft wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Und die Psychiatrie war nach dem Nationalsozialismus in einem desolaten Zustand. Das Personal stammte aus der Nazizeit, als man in den «Irrenhäusern» psychisch Erkrankte euthanasierte und zwangssterilisierte. «Bis sich die deutsche Psychiatrie dem westlichen Standard wieder annäherte, vergingen rund zwanzig Jahre», sagt Gebhardt.

Klara hatte immer Hunger. Sie grub auf dem Feld Kartoffeln aus, klaute Frühäpfel. Essen war so rar, dass Klaras Körper die Ausscheidung verweigerte. Sie wurde mit sieben Jahren süchtig nach Abführmitteln. Ihr Körper habe nichts hergeben können, wollte immer «alles behalten, was ich intus hatte». Als Klara 17 Jahre alt war, starb ihre Mutter an einer Blutvergiftung. Klara begann eine Therapie, liess ihre Abführmittelsucht behandeln. Nur eigene Kinder, das wollte sie nie. Sie hat sich sterilisieren lassen.

Sie habe sich von ihrer Mutter benutzt gefühlt. Erst in der Therapie sei ihr bewusst geworden, dass diese «ein armer Teufel» gewesen sei. Heute verstehe sie ihre Mutter. «Ich sehe sie als arme, kranke Frau, aber ich sehe sie leider nicht als meine Mutter.»

«Die Interviews fanden fast alle unter Tränen statt», erzählt Gebhardt. Es sei eindrücklich gewesen, wie stark die Vergewaltigungen bei den Kindern der Opfer bis heute emotional präsent seien und tiefe Wunden hinterlassen hätten. Oft musste sie die Interviews unterbrechen, Spaziergänge unternehmen, weil die Interviewten nicht mehr weiterreden konnten.

Die Traumata der Nachkriegszeit wirken weiter. Narben werden vererbt, verweigerte Liebe lebt in Kindern und Enkeln fort, auch Jahrzehnte nach dem Krieg.