Den Holocaust überlebt, in der neuen Heimat fremd. Der schwierige Lebensweg deutscher Juden in Israel

Den Holocaust überlebt, in der neuen Heimat fremd. Der schwierige Lebensweg deutscher Juden in Israel

Corinna Kern für NZZ

Statt auf Mitgefühl stiessen die Holocaust-Überlebenden in Israel in den Anfangsjahren nicht selten auf Argwohn. Der ist heute überwunden. Die Geschichte einer Emanzipation.

Ulrich Schmid, Tel Aviv 2 Kommentare
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In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, als sich die Amerikaner und die Engländer anschickten, Dresden zu bombardieren, stand Liselotte Zeckendorf am grossen Herd in der Küche des SS-Aussenlagers in Oederan und kochte Suppe. Die deutsche Aufseherin sass in einer Ecke und gab ihr in barschem Ton einen Befehl nach dem anderen. Sie duzte «Lisa», Lisa siezte zurück. Sie machte gerne Küchenabenddienst, denn das bedeutete eine Suppe mehr am Tag, eine dünne Brühe aus Rüben, Kartoffeln und etwas Salz, aber dennoch eine Suppe mehr. Zu kochen hatte Lisa für die jüdischen Frauen, die im Oktober 1944 aus dem Vernichtungslager Auschwitz nach Oederan verlegt worden waren und nun in der stillgelegten Nähfadenfabrik Kabis Munition für den totalen Krieg der Nazis herstellen mussten.

Oederan liegt in der Nähe von Dresden. Es war um 10 Uhr abends, als Lisa einen ungewöhnlichen Hauch spürte. Sie kontrollierte die Fenster, aber die waren geschlossen. Der Hauch wurde zum Luftzug, irgendetwas begann zu sirren, daraus wurde ein Grollen, schliesslich ein Dröhnen. Der Luftangriff auf Dresden hatte begonnen. «Mach das Licht aus!», schrie die Aufseherin, Lisa gehorchte, und dann sassen die beiden Frauen in der Dunkelheit und lauschten den Erschütterungen. In der Ferne glühte die Korona des Feuerinfernos.

«Krieg ist eine schreckliche Sache»

Plötzlich sagte die Aufseherin diesen Satz, der Lisa ein Leben lang begleitet hat: «Wollen Sie sich bitte zu mir setzen.» Die Nazi-Frau wollte von einer jüdischen Gefangenen getröstet werden. Lisa wunderte sich, rückte aber zu ihr hin. «Krieg ist eine schreckliche Sache», sagte die Aufseherin nach einer Weile. «Jawohl», antwortete Lisa. «Wir Deutschen haben den Krieg bestimmt nicht gewollt», kam als Nächstes. «Wir Juden bestimmt nicht», antwortete Lisa. «Unser Führer weiss nichts von diesen Lagern.» Die junge Jüdin zog es vor, darauf zu schweigen, die Aufseherin nahm es hin. Stattdessen fragte sie: «Glauben Sie, dass wir sterben werden?»

In diesem Moment spürte Lisa, dass die Frau neben ihr am ganzen Leib zitterte. Sie hatte Angst, und die Angst machte sie gesprächig. Sie erzählte von ihrer Familie, von ihrer Jugend ganz in der Nähe von Oederan, von ihren Eltern und ihrem Verlobten. «Ich will nicht sterben. Ich bin erst 23», sagte die Aufseherin. «Ich bin erst 19», antwortete Lisa. «Was denken Sie, werden wir hier sterben?», fragte die Aufseherin noch einmal. «Sehr wahrscheinlich», antwortete Lisa. Sie hatte keine Angst. Sie war in Theresienstadt gewesen, in Auschwitz. Aber sie fragte sich, was sie tun würde, sollte die Aufseherin sie bitten, ihre Hand zu halten. In diesem Moment ertönte die Sirene der Entwarnung, und schlagartig wurde aus dem angsterfüllten Menschen neben ihr die alte Zuchtmeisterin. «Los, nimm den Besen!»

Lisa Zeckendorf heisst heute Debora Kutzinski und lebt in Tel Aviv, eine überaus alerte Dame von 95 Jahren, der man höchstenfalls 70 Jahre geben würde. Sie ist eine bekannte Psychologin, die führende Schülerin des Jungianers Erich Neumann. Lisa kam unmittelbar nach dem Krieg, 1946, als begeisterte junge Zionistin nach Israel – allein, nachdem ihre gesamte Familie und ihr Mann im Holocaust ermordet worden waren. Und sie gehört zu denen, die geblieben sind, obwohl auch sie hat erfahren müssen, dass den Überlebenden im verheissenen Land oft Argwohn entgegenschlug, manchmal sogar Feindschaft.

Debora Kutzinski (ehemals Lisa Zeckendorf) mit ihrem Mann und ihren kleinen Kindern im Jahr 1960.

Debora Kutzinski (ehemals Lisa Zeckendorf) mit ihrem Mann und ihren kleinen Kindern im Jahr 1960.

Corinna Kern für NZZ

Es ist aus heutiger Sicht kaum zu glauben, doch damals dachten nicht wenige Israeli, die späten Neuankömmlinge hätten mit den Nazis kollaboriert, sich freigekauft oder womöglich sogar Mitmenschen ans Messer geliefert, um zu überleben. «Sie hätten sich eben wehren müssen», lautete ein weiterer, oft gehörter Vorwurf. Und die Überlebenden entwickelten nicht selten Schuldgefühle. Im Falle von Debora waren dies vage, nur ab und zu auftauchende Selbstvorwürfe, die sie längst überwunden hat. Öffentliche Anfeindung hat sie in diesen Jahren nie erlebt. Doch es hat sie gegeben, und wie.

Tom Segev, ein Vertreter der «neuen Historiker» Israels, erwähnt im Gespräch ein ziemlich fürchterliches Diktum des Staatsgründers Ben Gurion: «Unter den Überlebenden der deutschen Konzentrationslager gab es jene, die nicht überlebt hätten, wenn sie nicht so gewesen wären, wie sie waren: hart, böse, egoistisch.» «Sabon», Seife, war eine der gängigen Bezeichnungen für die Überlebenden, die nach dem Krieg kamen, sie nimmt Bezug auf – inzwischen widerlegte – Berichte, nach denen die Nazis aus dem Körperfett der Juden Seife herstellten. Es ist eine Haltung, die Segev als «pervers» bezeichnet. Als kulturelles Phänomen ist sie dennoch nicht zu leugnen.

Jüdische Einwanderer bei ihrer Ankunft in Haifa, 1964.

Jüdische Einwanderer bei ihrer Ankunft in Haifa, 1964.

Alamy

Der schwere Mantel des Schweigens

Doch die Anfeindung hatte weniger mit Bosheit als mit Unkenntnis zu tun. Viele im Jischuv, also vor der Staatsgründung in Palästina, geborene Israeli wussten ganz einfach wenig vom Holocaust. David Witzthum, ein bekannter Fernsehmoderator und Politologe in Israel, sagt, ja, es habe Kritik an den Überlebenden gegeben. Doch erfolgt sei sie meist nur unterschwellig und in Anspielungen. Das Prägende jener Zeit ist für ihn das grosse, erdrückende Schweigen. Die Überlebenden litten an schweren Traumata, über die sie nicht sprechen wollten, die Juden des Jischuv fragten nicht nach. Was es gab, waren individuelle Erzählungen, Geschichten über das Lager wie diejenige Debora Kutzinskis oder die des italienischen Schriftstellers Primo Levi, der über seine Erfahrungen in Auschwitz schrieb. Diese Berichte, sagt Witzthum, seien meist sehr differenziert gewesen. Es kam vor, dass auch über gute Deutsche berichtet wurde: Witzthums Onkel zum Beispiel wurde von einem SS-Offizier gerettet. Doch wer wusste schon etwas über das umfassende deutsche Programm zur Judenvernichtung? Bis zum Jahr 1960 erschienen in den Medien so gut wie keine Berichte über die Konzentrationslager.

Der Wendepunkt kam mit dem Eichmann-Prozess. Dieses Verfahren, das von April bis Dezember 1961 dauerte, führte der Welt das ganze erschütternde Ausmass der Nazi-Verbrechen vor Augen und veränderte das öffentliche Bewusstsein in Israel schlagartig. Aus der Pluralität der Einzelgeschichten wurde eine homogene, grosse Erzählung, der Holocaust wurde in seiner ganzen ungeheuren Dimension greifbar. Hannah Arendts Einblicke in die «Banalität des Bösen» und vor allem ihre heftige Kritik an den Judenräten, die mit den Nazis zusammenarbeiteten, fanden in Israel zwar zunächst wenig Beachtung, bewegten aber die jüdische Diaspora heftig, vor allem in den USA.

Der ehemalige Gestapo-Offizier Adolph Eichmann (links im Glaskasten) steht am 11. Dezember 1961 in Jerusalem vor Gericht.

Der ehemalige Gestapo-Offizier Adolph Eichmann (links im Glaskasten) steht am 11. Dezember 1961 in Jerusalem vor Gericht.

AP

Nach dem Eichmann-Prozess übernahm der Staat sukzessive die kollektive Erinnerung an die Grauen der Shoa, man denke an die offiziellen Feiern zum Holocaust-Gedenktag oder an die Gedenkstätte Yad Vashem. Für Debora Kutzinski ist das eine Selbstverständlichkeit, schliesslich vertrete der Staat das jüdische Volk. Die Holocaust-Forschung setzte auf breiter Ebene ein, sie befeuert bis heute die internationale Zusammenarbeit der Zeithistoriker. Das Wissen über das einst Verdrängte wuchs. Israelische Journalisten gingen nun in grösserer Zahl nach Auschwitz und Treblinka. Und die so lange zu Unrecht verdächtigten Opfer gewannen nach und nach ihre Würde zurück.

Debora Kutzinski spricht noch heute ein gutes, etwas literarisches Deutsch. Sie ist 1925 in Brünn geboren, in eine gut situierte Bürgerfamilie voller Musik, mit einer hervorragend singenden Mutter und einem «schwer introvertierten» Vater, einem Professor. Dass man Deutsch sprach, war nichts Ungewöhnliches, 1930 lebten auf dem Gebiet des heutigen Tschechien über drei Millionen Deutsche. Dann kamen die Nazis und der Krieg, 1942 wurde die ganze Familie nach Theresienstadt beordert. Debora Kutzinskis Erzählung ist von bemerkenswerter Neutralität und Differenziertheit.

Debora Kutzinski als junge Frau 1949 in Israel, gut vier Jahre nach dem Ende ihrer Leidenszeit in den Nazi-Konzentrationslagern.

Debora Kutzinski als junge Frau 1949 in Israel, gut vier Jahre nach dem Ende ihrer Leidenszeit in den Nazi-Konzentrationslagern.

Corinna Kern für NZZ

Jenseits der Geleise

Im Vergleich zu Auschwitz sei das Ghetto Theresienstadt geradezu das Paradies gewesen, sagt sie. Sicher, man litt. Hirnhautentzündung und Gelbsucht forderten ihre Opfer, und da war diese ewige, lähmende Angst vor Deportation, Folter und Tod. Daneben aber habe sich eine «wunderbare Kulturtätigkeit» entwickelt. Opern und Theaterstücke wurden aufgeführt, Debora Kutzinski erinnert sich an Verdis Requiem. Bekannte Professoren kamen und lasen. Ihre Mutter sang, und Lisa, «schwer verliebt», konnte ihren 22-jährigen Peter heiraten, es traute sie der bekannte Rabbiner Leo Baeck, der 1943 ebenfalls nach Theresienstadt verschleppt worden war. Doch dann kam der Bescheid: Peter sollte abtransportiert werden. Die Viehwagen standen bereit. Lisa ging mit Peter an die Rampe und sagte dem jungen SS-Mann, der die Verladung überwachte, sie wolle bei ihrem Mann bleiben und mit ihm fahren. «Du nicht! Zurücktreten!» Lisa insistierte, der SS-Mann blieb hart.

Da sagte Lisa, und sie weiss bis heute nicht, woher sie die Chuzpe nahm: «Wenn ich nicht mitfahren darf, dann fährt er auch nicht.» Der junge SS-Mann hatte eine Pistole. Er hätte sie niederschiessen können, es hätte seine Karriere nicht behindert. Aber er schoss nicht, sondern schaute eine Minute lang wortlos vor sich hin. Dann fasste er sich und bellte: «Beide zurücktreten!» Und so hatten Lisa und Peter eine weitere Woche zusammen in ihrer kleinen Mansarde in Theresienstadt. Es sollte die letzte sein. Eine Woche später kam der nächste Aufruf. Wieder bat Lisa den SS-Mann an der Rampe – es war ein anderer –, ihren Mann begleiten zu dürfen, und diesmal ging ihr Vorhaben auf. Sie kamen beide nach Auschwitz, mitten in der Nacht. Unter gleissenden Scheinwerfern wurden Frauen und Männer und Starke und Schwache getrennt, es war das letzte Mal, dass Lisa Peter sah.

Auschwitz war die Hölle. Es gab kaum etwas zu essen, im Winter war es eiskalt, Seuchen wüteten. Die Frauen starben wie die Fliegen, Lisa wog noch 33 Kilogramm. Mit ihrer Ermordung rechnete sie jeden Tag. Und sie war schon auf dem Weg in den Tod, buchstäblich. Durch das Areal des KZ führten Eisenbahnschienen. Die Insassen wussten: Wer «über die Geleise» ging, kam nicht zurück. Jenseits der Schienen befanden sich die Gaskammern, aus deren «Duschen» das blausäurehaltige Zyklon B strömte, und die Krematorien mit den Verbrennungsöfen. Eines Tages im Oktober 1944 kam das Kommando. Lisa ging mit einem Trupp anderer Frauen über die Geleise, überzeugt, nun sterben zu müssen. Da kam ein weiterer Befehl, der Trupp hielt an. In Eiseskälte warteten die Frauen, dann hiess es: «Zurück in die Baracken!» Die Öfen waren überfüllt, das hatte Lisa gerettet. Kurz darauf wurde sie nach Oederan gebracht. Vier Monate später kam der Luftangriff der Alliierten auf Dresden.

Ankunft ungarischer Juden auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau, Mai 1944.

Ankunft ungarischer Juden auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau, Mai 1944.

AP

Im April 1945 wurden die Frauen von Oederan wieder in Viehwagen verladen. Tagelang fuhr der Zug hin und her und kam nicht weiter, weil die Geleise zerbombt waren. Die SS-Schergen waren hilflos und schienen fast froh zu sein, als ihnen die gefangenen Jüdinnen vorschlugen, doch nach Theresienstadt zu fahren. Einige Kilometer vor dem Lager mussten die Frauen aussteigen, zu Fuss kam Lisa schliesslich ins Lager zurück. Das IKRK war bereits da, es gab Suppe, Kleider und Medikamente. Lisa sagt, einige der erschöpften, ausgehungerten Frauen seien gestorben, weil ihre Mägen die dargereichten Mengen nicht mehr verarbeiten konnten. Anfang Mai starben weitere Menschen am Fleckfieber.

Lisa überlebte ein weiteres Mal, und als sie hörte, es gebe Züge nach Prag, fuhr sie zusammen mit einer Freundin in die tschechoslowakische Hauptstadt. Am frühen Morgen des 13. Mai, kurz nach der Befreiung Prags, kamen sie an. Kirchglocken läuteten, Fahnen wehten, auf der Strasse wurde getanzt. Lisa und ihre Freundin standen da und weinten. In der Nacht hatten die Tschechen die Deutschen aus ihren Wohnungen geholt und in ihre eigenen Konzentrationslager gesteckt. Noch an demselben Tag bekamen Lisa und ihre Freundin eine Zweizimmerwohnung zugeteilt. Ein SS-Offizier musste in ihr gelebt haben, in der Ecke standen noch die glänzenden Stiefel. Die Dusche funktionierte. Zum ersten Mal seit Jahren genoss Lisa die Wohltat warmen Wassers.

Sehnsucht nach der alten Heimat

Nach Palästina kam Lisa Zeckendorf 1946. Sie lebte sich schnell ein, kam in ein tschechoslowakisch-deutsches Kibbuz der zionistischen Jugend, probierte es als Sportlehrerin und Journalistin, begeisterte sich für C. G. Jung und wurde schliesslich Psychologin. Nur mit dem Hebräischen hatte sie Mühe, und das ist symptomatisch.

Britische Fallschirmtruppen zeigen an der Zufahrt zum Hafen von Haifa Präsenz. Aufgenommen im August 1946.

Britische Fallschirmtruppen zeigen an der Zufahrt zum Hafen von Haifa Präsenz. Aufgenommen im August 1946.

Imago

Die deutschsprachigen Juden hingen an ihrer Sprache und an ihrer Kultur, viele von ihnen lernten das Idiom ihrer neuen Heimat nie ganz richtig. Und Deutsch war verpönt. Goethe, Schiller und Kästner mochten angehen. Doch wer für kulturelle Beziehungen eintrat, musste das «erklären». «Reden Sie nicht diese Nazi-Sprache», herrschte im Bus ein Mann den Herzl-Biografen und Archivar Alex Bein an. Kein Wunder, dass sich viele in ihrer neuen Heimat fremd fühlten. Max Brod, der Nachlassverwalter Kafkas, lobt in seiner lesenswerten Schrift «Streitbares Leben» zwar tapfer seine neue Heimat und ist bemüht, ihr Gutes abzugewinnen. Und doch spürt man in jeder Zeile, wie fremd dem 1939 förmlich in letzter Sekunde Geflohenen dieses heisse Land voll rauer, lauter Menschen war.

Jahrelang dachte man auch in der Familie Tom Segevs, man werde eines Tages wieder nach Deutschland zurückfahren. Die Sehnsucht war verständlich: Die deutschen Juden hatten nicht in Ghettos gelebt wie die osteuropäischen, sondern in der Mitte der Gesellschaft, oft als erfolgreiche und geschätzte Bankiers, Ärzte, Unternehmer und Künstler. Die meisten von ihnen waren nicht als Zionisten nach Israel gekommen, sondern als Flüchtlinge. Sie waren stolz auf das, was sie geschaffen hatten, und zu diesem Stolz trug der Umstand bei, dass nicht nur sie, sondern auch viele osteuropäische Juden die Dominanz der deutschen Kultur und ihre universelle Geltung durchaus anerkannten. Auch in Polen und Russland galt das Erbe Goethes und Heines vielen als so etwas wie die «Kultur schlechthin». Sogar in den USA dominierte nach dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Kultur: Dass Zehntausende Wissenschafter, Schriftsteller und Künstler, unter ihnen sehr viele Juden, nach Amerika flohen oder umsiedelten, blieb nicht ohne Wirkung.

Blick auf Tel Aviv. Europäische Einwanderer prägten den Charakter der 1909 gegründeten Stadt und trugen dazu bei, sie zum modernen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes zu machen.

Blick auf Tel Aviv. Europäische Einwanderer prägten den Charakter der 1909 gegründeten Stadt und trugen dazu bei, sie zum modernen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes zu machen.

Corinna Kern / Reuters

So kam es, dass viele deutsche Juden sich absonderten, in ihren Trutzburgen auf dem Berg Karmel in Haifa, in Nahariya, in Tel Aviv und im Jerusalemer Stadtteil Rehavia von der verlorenen alten Heimat träumten. Die Desillusionierung war riesig, Tom Segev schrieb, viele hätten ganz einfach nicht den Mut gehabt, noch einmal auszuwandern.

Joshua Shafir sitzt im Präsidium der Vereinigung der Israeli mitteleuropäischer Herkunft, die faktisch fast ausschliesslich aus Deutschsprachigen besteht. Auch seine Eltern, gekommen 1935, sprachen kein Hebräisch. Als das Fernsehen kam, klebten sie an den deutschen Kanälen. Der israelische Dokumentarfilm «Die Wohnung» aus dem Jahr 2011 zeigt die hartnäckige Nostalgie der Deutschsprachigen exemplarisch. Sie hatten den Boden unter den Füssen verloren, das machte sie geneigt, über die Vergangenheit den Goldstaub der Verklärung zu streuen. Von einer «Hassliebe» spricht Debora Kutzinski. Die deutschen Juden seien hin- und hergerissen gewesen zwischen ihrer Liebe zur deutschen Kultur und Sprache und ihrem Hass auf Deutschland.

Die Jeckes machen Karriere

Beliebt machten sich die deutschen Juden mit ihrer Rückwärtsgewandtheit im dynamischen Israel nicht. Schon vor dem Krieg war der Begriff der «Jeckes» aufgekommen. Vermutlich geht er auf die Anzugswesten, die «Jacken» zurück, die die deutschen Juden selbst dann trugen, wenn sie schwere körperliche Arbeit verrichteten. Er war zunächst spöttisch und herablassend gemeint, und die Jeckes taten auch einiges, um das Klischee zu bestätigen. Die Anekdote ist jedem Israeli bekannt: Die Jeckes mussten auf den Bau, denn nur auf dem Bau gab es Arbeit, und reichten sich die Backsteine weiter: «Bitte schön, Herr Doktor – danke, Herr Professor, sehr freundlich.» Das Klischee wollte die Jeckes intellektuell, pedantisch, abgehoben und arrogant, recht «deutsch» eben. Und wie so oft ging das Klischee an der Realität nicht ganz vorbei.

Doch es hat sich vieles geändert. Anfangs mochten noch viele deutsche Juden ihren Spitznamen als beleidigend empfunden haben, später duldeten ihn die meisten oder übernahmen ihn sogar in gutmütiger Selbstironie. Die Jeckes wussten um ihr kulturelles Gewicht und konnten Spott vertragen. Was bis vor zwanzig Jahren mit einem Makel behaftet war, wird heute stolz hochgehalten. «Jecke am Steuer» heisst es auf dem Aufkleber am Auto, der Fahrer will damit sagen: «Ich blinke, wenn ich abbiege» (was in Israel, vorsichtig ausgedrückt, nicht die Norm ist). Und wenn der jemenitische Arbeiter seine Arbeit als «jeckisch» anpreist, will er damit sagen, dass sie besser ist als das, was man sonst erhält im oft ziemlich schludrigen Israel: genauer, solider, schöner.

Doch Jecke ist nicht gleich Jecke. Soll man auch die deutschsprachigen Juden, die aus Österreich, aus der Tschechoslowakei, aus Polen und Ungarn nach Israel kamen, zu den Jeckes zählen? Die meisten konsultierten Israeli verneinen entschieden. Debora Kutzinski ist nie als Jecke bezeichnet worden, sie sieht sich ganz und gar nicht als Jecke, und in der Tat erscheint es fragwürdig, die Wiener Juden zum Beispiel, die weder zackig noch pedantisch sind, dafür gemütlich und grantig und dazu gerne noch a Achterl trinken, als Jeckes zu bezeichnen. Teddy Kollek, der Jerusalemer Bürgermeister, geboren in Ungarn und aufgewachsen in Wien, war bekannt dafür, sich in der Öffentlichkeit ab und zu ein Nickerchen zu gönnen, ein echter Jecke hätte das nicht getan.

Juden aus Prag, Krakau, Brünn und Warschau legen manchmal einen erstaunlich hohen Wert darauf, keine Jeckes zu sein. War Herzl, in Pest geboren, ein Jecke? Er soll sich mit Eliezer Ben Yehuda, dem Vater des modernen Hebräisch, darauf geeinigt haben, ein Jecke sei einer, der wirklich aus Deutschland komme und kein jüdisches Idiom so recht verstehe. Der Ratschluss der israelischen Urväter soll hier respektiert werden, auch wenn klar zu sagen ist, dass die Aussenstehenden auf diese Unterscheidung kaum je Wert gelegt haben. Für sie waren alle, die Deutsch sprachen, Jeckes.

Zu den eifrigsten Zionisten gehörten die deutschsprachigen Juden nicht. Bis 1933 kamen nur etwas mehr als 2000 ins Land, die glühenden Aufrufe der Zionisten der ersten Stunde liessen viele deutsche Juden kalt. Zwischen 1933 und 1936 kamen dann rund 60 000, die meisten aufgrund einer Vereinbarung der Jewish Agency mit Nazideutschland, manche sogar mit einem schönen Teil ihres Vermögens. Die Zusammenarbeit der Jewish Agency mit den Nazis hat in der jüdischen Welt zu erbitterten Debatten geführt und der Agentur den Vorwurf der Kollaboration eingetragen, genau wie den Judenräten, die Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess scharf kritisierte.

Tel Aviv, 1936.

Tel Aviv, 1936.

Ann Ronan / Photo12 / Imago

Die Debatte verläuft noch immer kontrovers. Doch heute konzedieren viele Israeli, dass die jüdischen Organisationen von Deutschen geschaffene Zwangskörperschaften waren, zur Kooperation mit den Nazis gezwungen. Debora Kutzinski ist in dieser Hinsicht glasklar. Die Judenräte, sagt sie, die in Theresienstadt pro Woche bis zu 1500 Menschen zum Abtransport in die Vernichtungslager auswählen mussten, seien in einer verzweifelten Lage gewesen. Letztlich hätten sie immer alles getan, um Leben zu retten. «Hannah Arendt hätte dort sein müssen.» Doch diese Debatte hält Debora Kutzinski für weitgehend abgeschlossen. Was sie mehr umtreibt, ist der Vorwurf, die Juden seien «wie die Lämmer zur Schlachtbank» gegangen, eine Variante der Unterstellung, mit etwas mehr Gegenwehr wäre die Katastrophe abzuwenden gewesen.

Kulturelle Dominanz

Gemessen an ihrer Zahl haben die deutschsprachigen Juden Israel stark geprägt. Kultur, Wissenschaft, Musik, Architektur und die Medien waren ihre Domänen. Max Brod, Arnold Zweig, Heinrich Jacobi und Martin Buber braucht man nicht näher vorzustellen. Interessierten dürften auch Josef Burg, ein linker, gemässigter Rabbiner und Politiker, die Malerin Anna Ticho oder Lotte Cohn, eine Bauhaus-Architektin aus Charlottenburg, ein Begriff sein.

Die Bauhaus-Siedlungen in Tel Aviv und Haifa sind jeckische Projekte, entworfen von jüdischen Architekten, die ihre Ausbildung in Dessau erhalten hatten. Deutschsprechende Juden waren an den Universitäten und in der Bankbranche anzutreffen, sie arbeiteten als Agronomen und Firmengründer, der berühmteste unter ihnen ist wohl Stef Wertheimer, 93 Jahre alt, Begründer zahlreicher Industrieparks, heute der reichste Israeli und Initiator des «Zentrums des kulturellen Erbes der Jeckes» bei Nahariya. Schmuel Federman, geboren in Chemnitz, begründete die grösste israelische Hotelkette, die Dan-Hotels.

Ein Haus der Hotelkette Dan (l.) in Tel Aviv.

Ein Haus der Hotelkette Dan (l.) in Tel Aviv.

Imago

In der bürgerlichen Kultur und in der Wissenschaft sind die Jeckes noch immer stark vertreten. In der Pop-Kultur und in der Unterhaltungsbranche hingegen dominieren die Mizrahim, die Juden aus Afrika und Asien.

In der Politik waren die Jeckes seltener anzutreffen. Sie war quasi die natürliche Heimat der osteuropäischen Juden, die hochgradig organisiert waren und mit dem verbissenen Elan der Ideologen das sozialistische Israel der ersten Jahrzehnte aufbauten. Den Jeckes fehlten die Ellbogen der Osteuropäer und deren Zielstrebigkeit. Sie waren die Träger der Haskala, der «jüdischen Aufklärung» Moses Mendelsohns und David Friedländers, die es im Osten Europas wesentlich schwerer hatte als im deutschsprachigen Raum.

Viele israelische Diplomaten in aller Welt waren Jeckes. Und paradoxerweise waren sie es auch, die Vertriebenen und Geflohenen, die als Erste Ben Gurion halfen, die Wiederannäherung an Nachkriegsdeutschland voranzutreiben. Auch die darauffolgenden Bemühungen um das, was man manchmal «Wiedergutmachung» nannte – ein absurdes Wort, am Holocaust gibt es nichts «gutzumachen» –, wurde von deutschsprachigen Juden betrieben, auch sie spiegeln den hartnäckigen Glauben vieler Jeckes ans «gute» Deutschland. Etliche israelische Zeitungen wurden von Jeckes gegründet. Die Zeitung «Maariv» ist das Kind von Ezriel Carlebach, geboren 1908 in Leipzig, der «Haaretz», 1918 gegründet von den Briten, kam 1935 in den Besitz von Salman Schocken, einem deutschsprachigen Juden aus Posen, dessen Nachfahren noch immer 60 Prozent der Anteile besitzen.

Innehalten für die Holocaust-Opfer

Am Gedenktag für die Holocaust-Opfer ertönen in Israel für zwei Minuten die Sirenen. Dann steht das Leben im Land kurz still.

Tel Aviv.
5 Bilder
Selbst auf der Strasse halten die Autofahrer für den Gedenktag an.
Jerusalem.
Elias Feinzilberg, ein 102-jähriger Holocaust-Überlebender, steht am Fenster seines Hauses in Jerusalem.
Eine Frau und ihre Kinder stehen still auf ihrem Balkon in Ashkelon. Auch die jüngste Generation soll dieses Erbe kennenlernen.

Tel Aviv.

Corinna Kern / Reuters

Liberaler und weniger ideologisch

Im grossen Konflikt zwischen Juden und Arabern spielten die Juden deutscher Zunge als Aschkenasim tendenziell eine eher gemässigte Rolle. Die Betonung liegt auf «tendenziell», denn als ideologisch straffe Gruppe traten die deutschsprachigen Juden nie auf, also lässt sich ihnen auch keine einheitliche Haltung zuordnen. Es gab Linke, Mittige und Rechte, es gab Religiöse und Atheisten. «Ihre Mentalität», sagt Witzthum, war im Ganzen aber liberaler als die der osteuropäischen Juden. Eine typisch jeckische Gruppe zur Linken ist Brit Shalom («Friedensbund»), ein schon Mitte der zwanziger Jahre gegründeter Verband Intellektueller, der sich ein gerechtes Zusammenleben von Juden und Arabern in einem Staat auf die Fahne schrieb. Zu seinen Begründern gehörten so illustre Gestalten wie Gershom Scholem, Martin Buber, der Historiker Hans Kohn oder der Philosoph Hugo Bergmann.

Stark und einflussreich waren die deutschsprachigen Juden vor allem in den dreissiger, vierziger und fünfziger Jahren. Heute treten sie als Gruppe im öffentlichen Diskurs kaum noch in Erscheinung, anders als etwa die Mizrahim, die Jemeniten oder die äthiopischen Juden, die Beta Israel. Joshua Shafir schätzt, dass heute rund eine Viertelmillion Jeckes der zweiten, dritten, vierten und fünften Generation in Israel leben, doch genaue Zahlen hat niemand. Ohnehin haben die Jeckes und die deutschen Juden Ostmitteleuropas sich längst mit Mizrahim, Sephardim und Nichtjuden vermischt. Und die Zwiste von einst haben an Schärfe verloren.

Debora Kutzinski ist nie nach Deutschland zurückgefahren: «Ich hatte keine Veranlassung», sagt sie. Schämte sich die zweite Generation oft noch für das Deutsch ihrer Eltern, sind heute Deutschkurse en vogue. Viele Kinder und Kindeskinder von Jeckes sind nach Berlin gezogen, einesteils des entspannten Lebens wegen, dann aber auch, weil sie plötzlich die Neugierde gepackt hat. Sie möchten wissen, was ihre Vorfahren in Deutschland taten, wie sie lebten und liebten, bis sie von den Nazis ins Exil vertrieben wurden. Es ist unter den vielen Formen der Wiederannäherung mit Sicherheit die nachhaltigste, die beste.

Debora Kutzinski in einem Fitnesscenter im Jahr 1968.

Debora Kutzinski in einem Fitnesscenter im Jahr 1968.

Corinna Kern für NZZ
2 Kommentare
Thomas Seiler

Das  "grosse,erdrückende Schweigen" gab es also auch in Israel und nicht nur während meiner frühen Kindheit hier in Deutschland.Danke für diesen gradlinigen,auch schönen Artikel,er hat mich berührt !

Ho We

Oederan liegt in der Nähe von Dresden. Aber Chemnitz ist viel näher! Meine Mutter hat aus Hilbersdorf (OT Chemnitz) berichtet, dass man den roten Himmel über Dresden sehen konnte, von Lärm hat sie nichts berichtet. vielleicht war es doch das Bombeninferno von Chemnitz am 5/6.März in Chemnitz. Dort kam es zu keinem Feuersturm wie in Dresden, da es sehr heftig schneite.

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